Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 10

Das etwas andere Logbuch Tag 64: Mit einigen Freunden genehmige ich mir einen zweiten Sonntag diese Woche.

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Der eine wohnt um die Ecke, der andere kommt gerade aus Schweden, und der dritte, den wir besuchen fahren, wohnt mit seiner Familie auf einem ländlichen Gut im Schaumburger Land. Für ihn ist heute ein schwarzer Tag, weil sich gerade eine berufliche Perspektive zerschlagen hat.

Unseren schwedischen Freund weihen wir in die hiesigen Masken-Gepflogenheiten ein, was sich jedoch als überflüssig erweist, da wir im nächstgelegenen Ort, Obernkirchen, bis auf eine Dönerbude keine geöffnete Gastronomie finden. Schon vor Corona hatte Obernkirchen mit seinen vielen leerstehenden Ladengeschäften in weiten Teilen das Flair eines Geisterstädtchens, nun nutzt man die Zwangspause nicht nur für Renovierungsarbeiten, sondern auch dazu, umzubauen und abzureißen.

Schon bei meinen vorherigen Besuchen dieses Ortes überkam mich stets eine schwammige Zukunftsphantasie, in dieser besonderen Situation wird sie schlagartig noch klarer: Ich sehe diesen Ort in einer neuen Blüte, mit einem bunten Bevölkerungsmix aller Herren Länder. Die Politik – eine bestimmte regierende Partei sehe ich dabei nicht – hat infolge der pandemisch-wirtschaftlichen Erfahrungen die Entscheidung getroffen, dass die ohnehin zu dichten Städte nicht weiter mit Wohnungsbau, Shopping Malls und Alten-, Kranken-, sowie Pflegeeinrichtungen zugepflastert werden. Baustopp total, stattdessen stehen neue Grünflächen auf dem Städtekonzept.

Stattdessen besiedelt man die entvölkerten ländlichen Ort neu, saniert die vorhandene Bausubstanz und unterstützt handwerkliche und technologische Kleinbetriebe sowie Acker- und Gartenbau mit großzügigen Subventionen. Die Verantwortlichen haben verstanden, dass die einseitige Förderung von Großunternehmen nicht der Weg in die Zukunft sein kann, dass es mehr lokale und regionale Selbstverwaltung und -versorgung geben muss, um den Menschen eine eigene Perspektive und individuelle Verantwortung zu geben.

Wenn ich doch nur in der Lage wäre, das Bild der Partei schärfer zu fokussieren, die all dies ermöglicht. Oder muss sie erst noch gegründet werden?

Die kleine Runde philosophiert, plant und zerredet, ganz so wie es bei uns langjährige Tradition ist. Doch am Ende wird schon irgendetwas dabei herauskommen, wenn auch nicht ganz so groß, wie die Summe der Teile zulassen würde. So bleibt es im Großen und Ganzen bei einem Privattag. Und da der erst um 24 Uhr endet, passiert auch nichts mehr, das in diesen Text gehören würde.

Tag 65

Die Tage werden länger, die Einträge kürzer. Das hat einerseits damit zu tun, dass Corona mittlerweile Alltag geworden ist. Andererseits möchte ich mich nicht wiederholen oder irgendwen langweilen.

Auch wenn sich die meisten Menschen, die man trifft (und es dürfen ja wieder mehr sein), mit Corona arrangieren: Die Gefährdung wird nicht geringer, viele Aspekte des Virus sind noch nicht ausreichend erforscht und weiterhin sind etliche Menschen im Einsatz, inbesondere im medizinisch-pflegerischen Bereich, um das Schlimmste zu verhindern.

Besonders tückisch scheint vor allem zu sein, dass Covid 19 nicht nur unbemerkbare Merkmale aufweisen kann – neben den bekannten Grippesymptomen beispielsweise auch Genickschmerzen und Durchfall – sondern zuschlägt wie ein Verkehrsunfall. Oder ein Sechser im Lotto. Nämlich unberechenbar.

Da gäbe es eine Heimpflegerekraft, erläutert mir ein befreundeter Pflegedienstleiter, die hätte sehr alte Krebspatienten, die alles gut überstehen. Sie habe eine sehr hohe Überlebensquote. Dafür wechsle sie Ihre Kleidung bis zu 61 mal pro Schicht (kein Schreibfehler) und trage über der Maske ein Vollvisier. Stellen Sie sich vor, sie seien Feuerwehrmann und müssten eine geschlagene Schicht lang alle acht Minuten in ein brenndendes Hochhaus rennen und jemanden retten. Und vergessen Sie nicht, nach jeder Rettungstat den Schutzanzug zu wechseln.

Vegessen wir also getrost das Fernsehen mit seinen sozial distanzierten Coronahelden samt dem täglich grüßenden 007. So viele Punkte, wie die wirklichen Schwerstarbeiter bekommen müssten, sind gar nicht im Spiel.

Was wir nicht vergessen sollten: Die Dinge verlaufen zyklisch, das Thema wird nach den Sommerferien wohl leider noch nicht erledigt sein.

Tag 66

Auf unserer Meile ist heute wieder Markttag. Zufällig treffe ich JR, einen französischen Kollegen, der Videokunst entwickelt und umsetzt. Wir sitzen mit unserem Kaffee an einem kleinen Tischchen direkt auf dem Trottoire. Er redet wie ein Buch, ohne Punkt und Komma, dafür mit kultiviertem Akzent. Er entführt mich in das Bordeaux von 1990, als Raves mit mehr als zehn Teilnehmern illegal waren und man sich nach zwei Jahren wieder beim Finanzamt melden musste, wenn man mit seinen Partys endlich Geld verdiente. So änlich geht es den Veranstaltern doch jetzt auch, oder?

Mittlerweile hat sich eine weitere Kollegin dazugesellt, der es peinlich ist, dass wir sie mit einem Zwanzigerpack Klopapier aus der Drogerie kommen sehen. Sie organisiert international besetzte Tanz- und Kostümshows und zeigt sich sehr irritiert darüber, dass viele Künstler mittlerweile ihre komplette Organisation und Kommunikation per WhatsApp abwickeln. Weil ihr ganz normale Kontakte zu ganz normalen Menschen fehlten (sie hat ihre Aktivitäten auch vor Corona schon vom Homeoffice aus betrieben), hat sie eine Tätigkeit in einer gemeinnützigen, nachhaltigen Einrichtung aufgenommen.

Über die Fördermaßnahmen verschiedener Banken für hannoversche Künstler können beide nur den Kopf schütteln. Von drei Millionen Euro ist die Rede, von denen zwei Drittel an die etablierten Kultureinrichtungen gingen. Eine Bank habe insgesamt 3000 Euro ausgelobt – ob das eine Ente oder eine misslungene PR-Maßnahme ist, erschließt sich mir nicht. Für Einzelkünstler gäbe es gar kein Geld, egal, aus welchem Topf. Und wenn, seien es Kredite, die zurückgezahlt werden müssen. Irgendein Bundesland habe an alle professionellen Künstler 2000 Euro pro Kopf ausgezahlt. Klingt sympathisch, natürlich ist hierbei nicht von Niedersachsen die Rede.

Zum Abschluss des Nachmittages gibt es noch eine kleine Historie aus Frankreich. Dort habe man im Rahmen der nationalen Schutzmaßnahmen lange Zeit einen riesigen Vorrat an Schutzmasken vorgehalten, der im Krisenfall alle Franzosen drei Monate lang ausreichend versorgt hätte, inklusive Wechseloption mehrmals täglich.

Im Jahr 2012 musste im Rahmen von Sparmaßnahmen entschieden werden, auf welche Schutzausrüstungen man verzichten könne. Nun ja, würde ein Kernkraftwerk der Grande Nation bersten, würden Masken in der Tat nicht viel nützen. Wo die Masken geblieben sind, weiß JR nicht zu berichten.

Wir Europäer haben anscheinend leider doch eine ziemlich veraltete Wissenskultur: Die Gefahr einer allgemein lebensbedrohende Ansteckungsseuche ist für uns mit der Pest ausgestorben. Vielleicht sollten wir zur Aufklärung zurückkehren und von dort aus nochmal neu starten. “Gehe über 'Los' und ziehe von irgendeiner Bank 1000 Corona-Wissenpunkte ein.”

Früher sagten einige, die Funktionstauglichkeit einer Beziehung entscheide sich an der Wurst- und Käsetheke. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass die Funktionstauglichkeit unserer Gesellschaft sich in der Bäckerei zeigt. Als erste Station des Tages ist sie Herold (Bild), Stimmungsbarometer (abzulesen an den VerkäuferInnen), Stützpunkt für neue Verkaufsideen (z. B. ToGo-Mehrwegbecher) und Testgebiet für neue Einzelhandelsverordnungen zugleich. So, wie man dort herauskommt, geht man in den Rest des Tages – bekommt schon früh am Morgen ein Gefühl dafür, was einen heute noch erwarten könnte. Nach allem, was aus dem Einzelhandel schon zu berichten war, folgen heute die beiden absurdesten Anekdoten.

Die erste erzählt oben erwähnte Kollegin, die noch in der zehnten Corona-Woche Toilettenpapier auf Halde kauft (sie war anscheinend wirklich zu lange isoliert). Als es gerade losging, in der zweiten oder dritten Woche, habe man in ihrer Bäckerei versucht, ein “Vorteilspack” zu schnüren: Ein Korbbrot plus zwei Rollen Toilettenpapier für sportliche sechs Euro. Leider hat das nicht funktioniert, die einseitige Vorteilsnahme war dann doch zu offensichtlich.

Die zweite Anekdote, von heute, ist etwas verstörender: Meine Freundin berichtet aus unserer kleinen Bäckerei, dass dort jetzt (in Woche 10!) die jeweils zweite Hälfte der geteilten Brote sofort in Scheiben geschnitten und Plastiktüten verpackt werden müsse. Jeder Leser mag selbst entscheiden, wie sinnvoll und nachhaltig das sein mag.

Meine Freundin zumindest möchte daraufhin gar kein halbes Brot mehr kaufen. Reaktionsschnell teilt die Verkäuferin einen Laib der gewünschten Sorte und stellt die andere Hälfte erstmal dezent an die Seite. Damit das ja niemand sieht und der Chefin petzt.

Diese Verfahrensanweisung scheint keiner Vorgabe des Gesundheitsamtes zu entspringen, doch wer kann das schon genau wissen? Schließlich genießen wir in Niedersachsen (im Gegensatz zu anderen Bundesländern) keinen freien Zugang zu behördlichen Unterlagen (Informationsfreiheit) und müssen immer das glauben, was man uns gerade erzählt.

In letztgenanntem Fall gehen wir davon aus, dass die Chefin der Bäckerei nicht genug zu tun hat. Womöglich ärgert sie sich, dass vom Gesundheitsamt nicht mehr kommt, was sie durchzusetzen hat. Eventuell ist sie auch einfach bereits zu lange von vernunftbegabten Mitmenschen isoliert und ihre latent schon immer vorhandene Kontrollmacke hat sie nun vollständig durchseucht. Doch egal, ob nur vorauseilender Gehorsam oder galoppierende Idiotie in bürokratischem Tarngewand, wir Deutschen können beides gut.

Tag 67

Draußen herrscht Stille. Fast. Man hört nur den Totschläger im Haus gegenüber, der wie immer viel zu laut telefoniert. Es ist sommerlich warm und sein Fenster steht offen. Zum Glück sehe ich ihn nicht. Auch seinen Nachbarn, der morgens oft mit freiem Oberkörper am Fenster steht, sehe ich nicht. Aber ich bin mir sicher, auch er und all die anderen Frührentner sind zuhause, auch heute. Wahrscheinlich ohne Alkohol,. So ganz genau kenne ich die Geschichten der Leute nicht. Einer erzählte mal, er käme direkt aus dem Gefängnis – nun ist er im Ruhestand. Nicht mal mehr als Erntarbeiter will man sie. Deshalb sind sie immer zuhause. Wenn das Wetter schön ist, steht manchmal einer von ihnen vor dem Eingang und unterhält sich mit dem Aufpasser.

Auch auf der Straße sehe ich niemanden mit Alkohol. Der Kiosk unter meinem Balkon wird gerade renoviert und ein weiß gekleideter Handwerker bringt gerade neue Ausleger und eine stabilere Jalousie an. Sogar die Dekoration wird vom Juniorchef ausgetauscht, nachdem mich seine Mutter vor über einem Jahr unwirsch abgefertigt hat, als ich sie auf ihre verkaufsschädigende Schaufenstergestaltung aufmerksam machte. Colaflaschen, deren Inhalt im Laufe der Jahre farblich zu Bourbon mutiert ist, werden getauscht gegen neue mit dunkelbraunem Inhalt. Auch zwei hinter einer wandhohen Glasscheibe auf Wadenhöhe vor sich hin staubende Süßigkeiten-Boxen werden endlich entdeckt und entfernt. Den Inhabern war es bis jetzt scheinbar egal, als sei der Kiosk eine Geldwäsche und keine Einnahmequelle. Außer der Handwerkerkolonne einer Facility-Firma im Hof und den Nutten von gegenüber hat hier kaum jemand eingekauft. Zu unattraktiv war das heruntergekommene Büdchen unten in meinem Haus. Vielleicht sind andere Einnahmen der Betreiberfamilie durch Corona weggefallen und der Junior-Chef hat seinen Laden zum ersten Mal bei Tageslicht gesehen. Vielleicht haben auch die großen neuen Kühltruhen, die neulich angeliefert wurden, den Startschuss zu dieser Generalüberholung gegeben.

Lange rede, kurzer Sinn: Bierkästen werden hier heute nicht gerade weggeschleppt.

Als ich später mit dem Rad durch die Stadt fahre, sehe ich Familien, kleine gemischte Grüppchen und joggende oder radelnde Menschen. Etwas fehlt an diesem Tag, etwas, das üblicherweise immer an Christi Himmelfahrt stattfindet und weder zu übersehen, noch zu überhören ist. Die Bollerwagen. Und das, obwohl man sie auch zu fünft ziehen kann.

Ob die Trinker dieses Jahr alle alleine zu Hause feiern? (Später werde ich erfahren, dass man sich auf dem Lande durchaus noch getraut hat)

Auch wenn ich diese Veränderung sehr begrüße – langsam werden mir die Deutschen nun doch etwas unheimlich.

Zu allem Überfluss entdecke ich auf den Tennisplätzen zum ersten Mal dieses Jahr wieder Spielende. Sogar Doppel, was doch so lange gar nicht möglich war. Männer und Frauen stehen jedoch mehr zusammen am Rand, als dass sie spielen. Kein richtiger Sport, kein richtiges Trinken, kein richtiges Feiern. So richtig echt wirkt das alles noch nicht wieder ...

Tag 68

“Wir malen gegen Corona”, höre ich in einem FB-Spot im Fernseher. Eine vorgebliche Mutter hat mit ihrem Selfie-Stick einen Trailer zusammengezittert, in dem sie andere Eltern auffordert, ihrer FB-Gruppe beizutreten (oder eine eigene zu gründen?), in denen Kinder Bilder malen sollen. Wenn schon kein Impfstoff, dann wenigstens Weiße Magie. Irgendetwas muss ja gehen gegen die Pandemie, warum nicht mal die “Panchromatik” ausprobieren, klingt ja sogar etwas ähnlich.

FB nähert sich dem Aufklärungsniveau des Mittelalters und will uns alle mitnehmen.

Jetzt auch die Kinder. Gehört dem Internetgiganten doch schon der gesamte dort hochgeladene Content, streckt er nun seine gierigen Greifer auch nach den Exklusivrechten an der Kunst von morgen aus. Sehr clever!

Wer die Weltherrschaft hat, will sie halt auch verteidigen und erweitern. Ablenkung und Verdummung sind dabei probate Mittel. Hatten wir schon, in verschiedenen Epochen, und hat zumeist für eine gewisse Zeitspanne funktioniert.

Wir pflanzen gegen Corona. Der Garten, den meine kleine Lebensgemeinschaft ab der zweiten Woche der Panik-Epedemie angelegt hat, trägt erste Früchte: Radieschen, die alles Handelsübliche in den Schatten stellen. Und hübsch sind sie, knallrot, mit flaumigen und wohlgeformten Blättern, aus denen man wunderbares Pesto machen kann. Wenn die nächste Pandemie kommt, gibt's kein Logbuch der gesellschaftlichen Irrungen und Wirrungen, sondern ein Ernährungshandbuch für Avantgardisten und Kulinarier mit wenig Geld. Vielleicht wird das ja endlich der erhoffte Renner.

Gleich heute wird noch eine zweite Johannisbeere zur ersten dazugekauft und meine Mutter steuert ein kleines Tännchen bei. Wir haben zwar keine Rehe im Garten, doch Ästhetik und Vielfalt sind schließlich auch Auswahlkriterien. Und der Zufall – denn nur aus dem Zufall entstehen neue Ideen.

Als ich das Tännchen abhole, schaue ich am alljährlich an gleicher Stelle installierten Erdbeerstand der regionalen Erzeuger vorbei, um zu sehen, ob für die Mutter wohl kleine, feste Beeren dabei sind. Zumindest vom Preis her übertrifft die angeboten Ware Spanien- Importe mühelos. Tja, die gestiegenen Kosten der importierten Leiharbeiter, fast hätte ich die vergessen.

Hätte man doch einfach die Jungs aus dem Haus gegenüber meines City-Studios geholt, angemessen bezahlt und jeden Abend nach Hause in ihr sauberes, sicheres Einzelzimmer geschickt, das ohnehin vom Steuerzahler finanziert wird. Dann hätten wir auch nicht diese horrenden Neuinfektionszahlen bei Gastarbeitern, die unserer so gerne als blütenweiß dargestellten Hygieneweste so gar nicht gut zu Gesichte stehen.

Auf solch naheliegende Lösungen kommt scheinbar keiner mehr. Wir haben aufgehört, als cohärentes Wirtschafts- und Sozialsystem zu funktionieren und degradieren uns zu Hühnern auf dem globalen Misthaufen.

Dieses Jahr also keine regionalen Erdbeeren, schade. Dann pflanzen wir halt selber welche, in unserem Garten. Oder im Zweitgarten. Soviel Platz muss sein.

Wer jetzt ganz alte Ideen auspackt, ist die Avantgarde. Kulinarier sind wir ohnedies schon.

Wenn Sie also Interesse an oben angekündigtem Buch haben, lassen Sie uns doch jetzt gleich ein Crowd-Funding starten. Es werden auch noch Vorschläge für den Titel angenommen.

Tag 69

Endlich wieder Friseur! Über eine Woche musste ich auf den Termin warten, heute ist der große Tag. Er sitzt mit einer todschicken Filter-Maske an seinem Empfangstresen, ich werde sein Gesicht während der kompletten Sitzung nicht sehen. Und er wird die Maske bis zum letzten Kunden heute nachmittag nicht absetzen – außer zu seinen kurzen Tee- und Pinkelpausen. Sehr konsequent. Respekt – als “Corona-Held” sieht er sich dennoch nicht, er geht seiner Profession nach. Und das besser als viele andere, die einen “Job” machen. Er bekommt sofort 1000 “Corona-Professionalitätspunkte” von mir.

Da fragt man sich, warum so viele Kassierer- und VerkäuferInnen im Lebensmittelhandel über ihre Masken jammern, wenn sie überhaupt welche tragen. Ihre Kassen rechnen von alleine, Regale und Kunden überwachen kann auch nicht sooo anstrengend sein und hinter einer Theke mit offenen Lebensmitteln ohne Maske zu stehen (was noch immer viele tun!), verbietet sich eigentlich von selbst.

Last but not least: Die Leute haben wenigstens ihren Job noch, und das vergleichsweise sicher. Ich kann derzeit nicht mit meinen Kunden arbeiten.

Mein Friseur erträgt das Maskendasein souverän und ohne Murren. Kopfschütteln bereiten ihm andere Dinge. Zum Beispiel, dass nicht nur einige Hilfsgelder zurückgezahlt werden müssen, sondern auch, dass nur die Fixkosten ohne jegliche Einnahmeeinbußen abgedeckt sind. Konkret geht das so weit, dass er seine Renten- und Krankenkassenbeiträge selbst tragen muss, während der Kollege, der lieber gleich seine Verantwortung abgibt und sich arbeitslos meldet, alle Kosten abgenommen bekommt. Initiative und Kleinunternehmergeist werden leider nicht in dem Maße belohnt, wie es sich für ein sogenanntes freies Wirtschaftssystem gehören sollte. Im Gegenteil: Corona zeigt hier und dort sehr deutlich, was für eine Versorgungsgesellschaft wir geworden sind.

Grundsätzlich überwiegt bei meinem Friseur die Freude. Denn auch er ist unter die Gärtner gegangen, hat mit seinem Freund ein Haus auf dem Land gebaut und wird schon sehr bald die Stadt nach Ladenschluss verlassen können.

Zunächst sammelt er bunte und originelle Masken, die ihm seine KundInnen mitbringen. Ich empfehle ihm, an der Wand seines Wartebereiches, an der schon seit langem ein großes abstraktes Gemäldes hängt, temporär eine Maskenausstellung zu platzieren. Er denkt darüber nach.

Meine Frisur ist wieder top. Und meinen neuen Bart, den er nicht stutzen darf, kann er unter der Bedingung gutheißen, dass ich ihn nicht länger werden lasse und ordentlich scharfkantig schneide. Leider ist der Bart weiß, und färben sei ein Sakrileg, bestätigt er. Man sollte auf seinen Friseur hören.

Leider muss ich nach meinem Trockenschnitt diese Wohlfühloase wieder verlassen.

Zumindst verstehe ich jetzt besser, warum viele Frauen gerne ganze Tage beim Friseur verbringen. Und ich bin wieder mal um eine Erfahrung reicher – durch Corona.

Bedauerlicherweise scheint man auch in der zehnten Woche nicht überall sinnstiftende Erfahrungen, angemessen seriöses Verhalten und unaufgeregte Entspanntheit zu bevorzugen – an anderer Stelle nimmt der Unsinn seinen Fortgang.

Zum Beispiel muss sich Lars Stindl statt der Kapitänsbinde heute eine schwarze um den Arm kletten. Als müsse sich Diva Fußball nach einem relativ unspektakulären ersten Corona-Spieltag wieder irgendwas aufmerksamstarkes einfallen lassen, zeigen, wie wahnsinnig anteilnehmend sie doch sei. Deshalb wird an diesem Spieltag Trauerflor getragen und eine Schweigeminute für die Corona-Opfer der ganzen Welt eingelegt. Auch wenn die Pappkameraden im Stadion sowieso die ganzen 90 Minuten schweigen und diese Minute kaum auffällt: Geht es nicht auch mal eine Nummer kleiner? Einfach nur spielen, etwas Trainergebrüll und kontaktloser Trefferjubel würde es doch auch tun.

Außerdem können sie diese Mittrauerei niemals durchhalten – irgendwo herrscht immer eine Seuche oder ein Krieg, irgendwo gibt es immer eine allgemeine Katastrophe oder ein individuelles Unglück. Und wenn nicht, ist doch bestimmt irgendein ältester Fan oder früherer Aktiver des Vereins gestorben.

Andererseits fände ich es klasse, wenn Fußballer auch mal Schweigeminuten für Verkehrstote auf deutschen Autobahnen, infizierte Lebensmittel-Gastarbeiter oder Kriegsopfer militärischer Aggressionen einlegen würden.

Den kurzen Besuch bei der Tages- im Anschluss an die Sportschau bereuen wir sofort: Irgendeine Kirchenveranstaltung durfte am 10. Mai stattfinden – und zackbumm: neue Infizierte. Ein Lokal hat ein Testessen mit Gästen gemacht – und bummzack: gleich zehn neue Infizierte. Und dann fragt der belämmert in die Kamera schauende Sprecher auch noch, ob die neuen Fälle nun den “Lockerungen” oder fehlender Selbstverantwortung geschuldet seien. Ist die Frage ernst gemeint? Ist der Mann wirklich so belämmert, wie er dreinschaut? Oder ist das einfach nur gut einstudiert, um uns auch noch weitere Wochen oder gar Monate im Trüben fischen zu lassen? Man möchte dem Nachrichtensprecher durch den Fernseher zurufen: “Guter Mann, wir haben einen ansteckenden Virus in Umlauf, der verbreitet sich so gut er kann. Am liebsten in geschlossenen Räumen. Hast du jemals über das nachgedacht, was du uns da Tag für Tag vorliest?”

Aber dass im weiten Rund des Stadions, an der frischen Luft, wo man locker den Sicherheitsabstand einhalten könnte, Pappen (zu allem Überfluss auch welche von Spielern und Trainern, die sich gerade live im Stadion aufhalten) platziert werden, findet dieser Fernsehmann womöglich völlig normal. Oder gar originell?

Dumme Ideen setzen sich eben schneller durch als kluge – auch keine neue Erkenntnis.

Zu allem Überfluss hat der Spiegel jetzt ein Geschichtsmagazin herausgebracht, von dessen Titel mich der Dreiklang “Pest – Cholera – Corona” anspringt. Öööh, war das Doppelwort “Spanische Grippe” einfach nur zu lang? Oder ist es zu unbekannt?

Nach meinem bescheidenen Wissenstand dürfte das die wohl einzige Pandemie sein, die zu dem, was wir jetzt erleben, zumindest einige Parallelen aufweist.

Rein marketingtechnisch habe ich ja Verständnis dafür, dass sich Augstein nicht komplett von Springer abhängen lassen will. Nur ist es genau diese Mechanik der Effekthascherei, die in einer Informationsgesellschaft mehr Desinformation als verlässliches Wissen fördert.

Wenn ich mir eine Titelseite wünschen dürfte, sollte darauf stehen: “Warten auf den Urlaub – Warten auf den Impfstoff – Warten auf Godot”.

Tag 70

Zehn Wochen auf hoher See. Der Tsunami ist nicht so wuchtig aufgeprallt, wie befürchtet, doch dahinter lauern mehr Wellen und Tiefseeschluchten als erwartet. Von den oft unterschätzen Strömungen direkt unter der Oberfläche ganz abgesehen.

Unsere Kapitäne haben Quarantäne verordnet und uns mithilfe der staatstragenden Medien in eine wochenlange Wirrniss aus Verordnungen und Verboten geschickt. Und unser inoffizieller König – “König Fußball” – spiegelt das ganze Dilemma ebenso wider, wie der “kleine Mann auf der Straße”, so er sich überhaupt noch auf die Straße traut.

Es wurde simuliert, wie es für eine Weile auch ohne Arbeiten gehen kann. Wie der Katzenjammer danach ausfallen wird, bleibt abzuwarten.

Der Eindruck bleibt, dass wir es hier mit einer riesigen Experimentiermaschine zu tun haben.

Irgendwann, vor einigen Wochen habe ich im persönlichen E-Mail Verkehr leichtsinnigerweise den Begriff “Gehirnwäsche” verwendet und ein Freund, der sich sonst fast nie meldet, kam postwendend mit einem einzeiligen, klischeehaften Xavier-Naidoo-Verschwörungstheorie-Vorwurf. Doch es lohnt sich, auch zwischen den Zeilen zu lesen. Ich habe keine Thesen dazu aufgestellt, wer hier wessen Gehirn wäscht, und mit welcher Absicht das geschieht. Der Effekt einer Gehirnwäsche kann auch aus einem Mix aus Arroganz, Ignoranz, Intransparenz, falschen Prioritäten und unkoordiniertem Aktionismus erwachsen.

“Verschwörungstheorien” arbeiten jedoch ganz anders: mit Schuldzuweisungen und der Benennung finsterer Mächte, die klar definierte Absichten haben. Das Wort Verschwörung bezeichnet üblichweise Bestrebungen, die sich gegen die Mächtigen oder eben die als Gesellschaft definierte Allgemeinheit wenden. Auf jeden Fall gehören zu jeder Verschwörung immer mehrere Menschen, die sich zusammentun. Ein Einzelner kann sich höchstens einer Sache “verschreiben”, nicht aber gegen sie verschwören. Also sollte man beispielsweise nicht einfach nur Gates und Bezos oder gar Musk aufs Korn nehmen, sondern bei sich selbst anfangen. Als Konsument und selbstverantwortlich handelndes Wesen. So unterstütze ich deren drei Unternehmen nach Möglichkeit nicht. Ebenso, wie einige andere Hersteller, deren Wirtschaftspraktiken ich besonders fragwürdig finde.

Kritisch ist, dass wir keine oder zu wenige Alternativen zu den Produkten der oben genannten Herren entwickeln. Dass wir abwarten und zusehen, wie sich ihre Imperien weiter ausweiten. An diesem Punkt ist es schon recht tragisch, wie sich unsere politischen Entscheider bis hinunter zu den Landesministerien sehr schnell Amerika und China (dort sind es wohl eher Generäle als Unternehmer, die die Konzerne leiten) an den Hals werfen, anstatt zu versuchen, infrastrukturelle deutsche und europäische Lösungen zu forcieren.

Damit habe ich mich nur scheinbar vom Kernthema entfernt … denn ohne Weitsicht, Aufklärung und Autonomie werden wir die Krisen der Zukunft ebenso wenig bewältigen können, wie die jetzige. Und auch Frau Merkels Punktzuwachs im Politbarometer kann nur einer in der Bevölkerung tief verankerten geistigen Unbeweglichkeit und Erkenntnisarmut zuzuschreiben sein. Denn sie war schon Regierungschefin im Jahr 2012, als Frankreich zwar seinen Maskenvorrat wegrationierte, Deutschland hingegen eine Epidemie-Simulation durchführte. Doch anstatt die Masken unserem guten Nachbarn zum Freundschaftspreis abzukaufen, blieben die Ergebnisse einfach unter Verschluss.

Als gäbe es sie gar nicht, dabei haben wir sie ja mit unseren Steuergeldern finanziert – genau wie die Politiker, die eigentlich unsere Interessen vertreten sollten.

Wenn wir also nicht unterstellen sollen, dass die Politiker uns durch derartige Unterlassungen hintergehen wollen, sollen wir dann zu dem Schluss gelangen, dass sie am Ende doch nicht mehr als eine Horde paralysierter Kaninchen vor einer großen Schlange sind?

Ähnlich scheint es sich mit einer Londoner Studie zu verhalten, erstellt im Jahr der dortigen Olympiade. Gehen wir also einmal davon aus, die Ergebnisse der Studien, Simulationen und Prognosen haben die Verantwortlichen auf Insel und Kontinent derart verschreckt, dass sie meinten, uns Bürgern die Ergebnisse vorenthalten zu müssen. Eine reale Epidemie Jahre später kann man den Menschen dann mal eben so über Nacht zumuten? Passt das zusammen?

Mr. Johnson hat sich gegen diesen Weg zunächst ja gewehrt. Ein Fehler, den er am eignenen Leibe zu spüren bekam. Dafür schaut die mittlerweile völlig verunsicherte Premier-League (an der ja noch viel mehr Geld als am deutschen Fußball hängt) mittlerweile sehr genau hin, wir ihr alter Erzrivale das macht. Also, wenn Klopp jetzt nicht Meister werden darf, werde ich aber richtig sauer!

Eines hoffe ich inständig: So verwirrt, sich gegen die eigenen Bürger zu verschwören, kann nicht mal die Bundesregierung sein. Das impliziert aber auch: Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit kann und darf weder unseren Führungspolitikern, noch der Opposition erspart bleiben.

Dass eine Covid-Verseuchung in nächster Zukunft zu erwarten sei, hat ein chinesischer Virologe übrigens bereits im März 2019 vorhergesagt. Ich frage mich, wo in dieser Angelegenheit der entscheidende Unterschied zwischen der staatlichen Informationspolitik Cinas und der Deutschlands liegen soll. Achtung: Ich rede hier nur von Informationspolitik, nicht von Menschenrechten!

Vor diesem Hintergrund müssen die autoritätshörigen Lämmer die Andersdenkenden leider auch weiterhin als “Verschwörungstheoretiker” abtun, das war schon immer so und wird sich auch nicht ändern. Denn die Politik selbst ist es, die den Nährboden für Verschwörungstheorien bereitet und pflegt. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Verantwortung für den Bürger stelle ich mir anders vor.

Nun bin ich doch wieder so ernst geworden. Eigentlich sollte diese Woche doch leicht und humorig ausklingen. Zumal ich mir noch nicht sicher bin, ob ich dieses Logbuch so umfangreich und akribisch Tag für Tag weiterführen werde.

Aber einen habe ich jetzt doch noch:

“Trägt eine Nachbarin ein kleines Klapptischchen mit Crackern und Alkopops das Treppenhaus hinunter und positioniert es direkt an der geöffneten Haustür, wie eine Grundschülerin ihren Stand für den Hausflohmarkt. Was ist das?”

(“Eine Party. Zwei Freunde kommen zu Besuch und weder die beiden Balkone der Nachbarin, noch ihr Garten hinterm Haus bieten ausreichenden Corona-Schutz. Masken trägt übrigens keiner der Drei”)

Bis auf weiteres wünsche ich allen Lesern zum Abschluss dieser ersten zehn Wochen auf hoher See eine entspannte Kalenderwoche Nummer… äh ... welche Woche kommt jetzt nochmal im regulären Jahreskalender?

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