Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 13

Das etwas andere Logbuch Tag 85 … beginnt beim Zahnarzt, danach kommt nicht mehr viel.

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Ich hätte nie gedacht, dass dieser Schwebezustand so lange anhalten kann, dass dieses permanente Fließen auch im Juni noch andauert. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nun endlich Urlaub einreichen muss. Doch wem gegenüber sollte ich mich eigentlich schlecht fühlen? Mein Arbeitgeber holt sich das Geld vom Staat, und der Staat verhindert, dass ich arbeiten kann.

Die Abgabe meines Urlaubsantrages ist wieder einer dieser Tagträume. Muss sie, denn “real” kann sie nicht sein, wünsche ich mir ganz fest: Eine unserer Unternehmensetagen ist völlig verlassen, der Sozialraum Küche (wo man noch vor wenigen Wochen, in der Phase der latent höchsten Ansteckungsgefahr, meinte, mich aus 30 Zentimetern Gesichtsentfernung ohne Maske zurechtweisen zu müssen), scheint außer Betrieb zu sein. Hier und auch auf einer anderen Etage, die noch belebt ist, kleben nun diese Pfeile auf dem Boden, die mich immer wieder an Kindergarten-Verkehrsparcours erinnern. Und just die Kollegin, die sich den oben in Klammern erwähnten Faux Pas geleistet hat, empfängt mich. Jetzt übrigens ganz vorschriftsmäßig mit Nase-Mundschutz.

In Leipzig ist nach Aussage einer Freundin kein Corona mehr – ein Bekannter von mir ist als Kleindarsteller unterwegs und erzählt, dass er seit zwei Wochen wieder auftrete. Statt 150 Leuten nur 70 im Auditorium, für das Publikum besteht für den Weg zum Platz hin und wieder weg Maskenpflicht. Gelacht werden darf ohne.

In Hannover gehen die Leute wie gewohnt zum Lachen in den Keller. Ob sie dabei Schutzmasken tragen, weiß ich nicht.

Auf Mallorca haben nur die Spanier Corona. Die dürfen nämlich nicht hin, auf ihre eigene Insel zum Urlaub, weil es gar nicht mehr ihre Insel ist. Mallorca gehört den Deutschen, Corona lässt daran nun überhaupt keinen Zweifel. 10 000 meiner Landsleute dürfen jetzt als “Testurlauber” auf die Insel. Und sie müssen sich auch nicht durch Tests oder ähnliches schikanieren lassen. Der Strand wird gerade vermessen, es wird eruiert, wie viele Liegestühle mit angemessenem Sicherheitsabstand dort wohl hinpassen werden. Bestimmt werden irgendwo anders gerade zwei Meter lange Strohhalme für die Sangriaeimer gefertigt, doch das zeigt man uns nicht im Fernsehen. Man kann den Deutschen nicht mal den größten Vorwurf machen. Denn die Spanier sind es, die sich peinlichst abhänging von den deutschen Touristen machen und uns (nicht mir!) gerade so tief in den Hintern kriechen, das kaum noch etwas von ihnen herausschaut. Spanien an sich hat noch immer sehr strenge Sperren und Maskenpflicht, die Inseln sind für Einheimische tabu. Oder ist das womöglich nur ein Trick?

Wir dürfen gespannt sein, wie stark die Infektionsrate hierzulande wieder ansteigt, wenn unsere Urlauber (Urlaub von was eigentlich?) ungetestet zurückkommen, nachdem sie sich auf “Malle” unmaskiert und betrunken gegenseitig vollgesudelt haben.

Während Spanien bei voller Risikoübernahme seitens des Staates bereist werden darf (für neun Milliarden darf die Lufthansa bitteschön dann auch mal ein paar tausend potentiell Infizierte zurückfliegen, wenn es wieder eng werden sollte), gucken die Türken jetzt in die Röhre, beziehungsweise auf ihre leeren Ressorts. Ätschibätsch, das haben die Erdogan-Anhänger jetzt davon, dass sie nicht zur EU gehören. Und wenn irgendwelche Deutschen dennoch so unverschämt sind, in die Türkei zu reisen, haben sie eben keinen Krankenversicherungsschutz und bestimmt holt sie auch kein Flieger zurück. Selbst schuld.

Aus irgendeinem Land hörte ich neulich, dass dort ein Flieger zwar hinfliegen, dann aber nicht landen und unverrichteter Dinge wieder abdüsen durfte. Nein, Corona ist keine Öko-Veranstaltung, zumindest nicht mehr.

Derweil hat sich im öffentlichen Raum, entgegen aller Kontaktlosigkeitsbestrebungen (oder gerade wegen ihnen?), ungehindert und mit nächtlicher Beleuchtung, eine unverhohlene Pornokultur breitgemacht. Ein Privatsender mit vier Buchstaben wirbt mit einer Begrifflichkeit und Ethik, die keine Mutter ihrem Kind erklären möchte – falls sie es überhaupt kann. Aber Kinder fragen anscheinend auch gar nicht mehr nach heutzutage. Sie scheinen auch gar nicht wissen zu wollen, warum alle außer ihnen Atemschutzmasken tragen müssen. Und sollten sie danach fragen, was würde Mutti dann antworten? “Du musst noch nicht”?

Warum eigentlich? Sollten nicht auch sie frühzeitig lernen, mit diesen Blasebälgern, äh, Blasebalgen im Gesicht herumzulaufen, zu sprechen und zu atmen? Ich meine, sie werden noch einige Ansteckungsseuchen erleben, die nächste spätestens nach den Sommerferien, wenn ihre Schule wieder dichtmacht. Der Ernst des Lebens hat für allzu viele noch immer nicht begonnen. Solle er wohl auch gar nicht. Das steckt so drin, ist wie ein Gen, das wir in diesem Land seit Jahrzehnten sorgsam züchten.

Corona kommt mit mittlerweile vor wie ein Spiel mit Regeln, deren Befolgen oder Brechen frei interpretierbar ist. Insofern passt es zur disparaten gesellschaftlichen Entwicklung.

Mittlerweile sehe in ich der Maske auch eine Möglichkeit des stillen Protestes. Zum Beispiel, als ich mir in einer Privatwohnung ein zum Verkauf stehendes gebrauchtes Schlafsofa anschaue. Die Anbieterin ist “ganz oben ohne” und wirkt unschlüssig. Jetzt erst recht, sage ich mir. Maske auf und das Sofa mit doppelt kritischem Blick seziert.

Oder als ich Polizisten anspreche, die zu viert irgendetwas mit völlig friedlichen Bürgern klären müssen (sie wirken wie ein Ausbildungs-Sixpack, bei dem sich zwei krank gemeldet haben und zwei weitere den letzen beiden bei der Arbeit zuschauen), während die übernächste Straßenecke von einem weißen Zuhälter-Maserati dermaßen zugeparkt wird, dass nicht mal ein Hering mehr die Straße passieren kann. Ich solle mich an die Stadt wenden, bekomme ich von den dienstunwilligen Beamten zu hören.

Und ich dachte, der neue Bußgeldkatalog sei für alle Ordnungshüter ein Auftrag. Falsch gedacht. Die Straßenverkehrsordnung ist also nicht mehr Sache der Polizei, das sollte uns Bürgern dann doch auch mal in der Tagesschau gesagt werden. Komisch, dass mein Bekannter letzte Woche von ebenjener staatlichen Organisation gezwungen wurde, für das Ablesen der Uhrzeit 55 Euro Strafe zu bezahlen.

Bei so einer Polizei müssen wir uns nicht wunderen, wenn Menschen, die neu im Lande sind, den Eindruck bekommen, wir hätten gar keine Polizei. Oder eine, die gar nicht für die öffentliche Ordnung zuständig ist. Doch das Problem hatten wir ja schon vor Corona.

Natürlich hat sich der Fußball auch diese Woche wieder etwas ausgedacht. Muss er auch, schließlich hat sich diese Form des Zirkus eine umfassende Medienpräsenz für gutes Geld gesichert: Nun gibt es sogar Antirassismus-Trikots. Leider helfen auch die nicht, zu gewinnen, ungeachtet dessen, wie viele farbige Spieler man in seiner Mannschaft mit diesen Trikots ausstaffiert hat.

Am Rande bemerkt: Einem Herrn Rummenigge, den weder die faschistoiden Massenmörder Argentiniens, noch die Bürger- und Frauenrechtsunterdrücker Saudi-Arabiens davon abhalten konnten und können, in ihren Ländern Ruhm und Geld zu mehren, möchte man zurufen: “Shut up!”

Dass es im Fußball, der sich heute vorgeblich hohen ethischen Grundwerten verpflichtet sieht, doch noch den soliden Hass der Straße gibt, zeigen die äußerst aggressive Rudelbildung eines DFB-Pokalhalbfinales sowie Szenen des darauf folgenden Bundesligaspieltages. Sicherheitsabstand? Doch nicht, wenn man auf die Gegenspieler losgeht!

Derweil wird der ermordete George Floyd zum Symbol hochstilisiert. Es wird ihn nicht wieder lebendig machen und ich bin mir nicht mal sicher, ob ihm dieser Status gefallen hätte. Es sind in weiten Teilen Afroamerikaner, die ihm diese Rolle zuschreiben und wahrscheinlich brauchen sie nach den ganzen Opfern der letzten Jahrzehnte jetzt wieder ein Symbol.

Doch mit mir persönlich hat das effektiv ebensowenig zu tun, wie mit den hochdotierten schwarzen, gelben und weißen Bundesligaspielern, die im aktuellen Wertesystem fraglos einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert genießen als ich.

Das Sportstudio schalte ich weg, als auch dort der Sport vom “strukturellen Rassismus” verdrängt wird – zumal die Moderatorin selbst einer sportfernen Schicht anzugehören scheint. Diese schicke Modebezeichnung alleine ist wieder so herrlich unkonkret und erinnert mich an “strukturschwache Gebiete”, etwas, für das scheinbar niemand verantwortlich oder zuständig ist. Damit kann man wieder schön den schwarzen Peter ins Niemandsland schieben. “Wir” sind ja alle nicht rassistisch, sondern ominöse Strukturen sind die Wurzel des Übels.

Der Plebs auf den Straßen krakeelt mal dies, mal das, doch das sind nur Symptome. Menschen wollen sich abgrenzen, durch ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Musik, ihr Essen, ihren Lebensstil. Das ist seit dem Turmbau zu Babel so ... oder schon viel länger?

Und so unbequem es auch klingen mag: Rassismus wird es so lange geben, wie es Menschen respektive menschliche Rassen gibt.

Sollten wir Menschen irgendwann alle ein und dieselbe Rasse sein, würde man anfangen, synthetische Separationen zu erzeugen (sofern das in Gentchnik, Robotik und KI nicht bereits längst geschieht) und das Spiel ginge weiter wie gehabt. Außer, wir leben dann alle auf der “Enterprise.”

Die wirklich dramatischen Auswirkungen hat für mich der wirtschaftshierarchische Rassismus. Da sind sehr klare Strukturen zu erkennen, und die zeigen sich zum Beispiel an den mit Abstand längsten Einlassschlangen, die in diesen Tagen vor bestimmten innerstädtischen Textilkaufhäusern bestaunt werden können. An diesem Rassismus beteiligen sich wohl alle in der “bunten Republik” Deutschland lebenden Rassen, lustvoll und bedenkenlos.

Stalin merkte einmal an: “Der Tod eines Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik.”

Die traurige Erkenntnis ist: Auch wenn der Mörder von George Floyd seinem gesetzlich vorgesehenen Strafmaß zugeführt werden sollte, wird sich für die weltweit vielen Millionen Rassismus-Opfer nichts ändern, solange wir die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen kritiklos konsumierend unterstützen.

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