Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 15

Das etwas andere Logbuch Tag 99 bringt eine sehr kuriose Begebenheit und ein skurriles Familienerlebnis.

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Erstere ist die Entdeckung eines brasilianischen Musikvideos, dessen Song ich laut GEMA-Zuteilung mitkomponiert haben soll. Auch nach mehrmaligem Hören kann ich nicht entdecken, wo sich darin eine Komposition von mir verstecken soll. Ich muss doch mal recherchieren ...

Das Familienerlebnis ist der Besuch einer Eisdiele mit Freisitz an einer vielbefahrenen Straße mit durchgehender Straßenbahn. Seit Beginn des sogenannten “Shutdown”, also genau 99 Tagen, lebt meine Mutter mittlerweile in der strikten Isolation ihres Wohnstifts. Heute möchte sie einen neuen Morgenmantel kaufen, die Sonne brennt auf uns herab und sie bekommt Lust, endlich wieder ein Eis in Freiheit zu essen. In Anbetracht von drei mehr oder weniger ausgefallenen Familiengeburtstagsfeiern ist uns dieser Wunsch Befehl.

Vor der auserkorenen Eisdiele ist nur noch ein Tischchen frei, direkt vor den Stufen der Eisausgabe des Straßenverkaufs. An der Scheibe des offenen Tresens wird der Zweimeterabstandsregelung gemahnt. Also schiebe ich das freie Tischen mit seinen vier Stühlchen gut eineinhalb Meter von den Stufen weg, was sogleich den eifrigen Kellner auf den Plan ruft. Er schiebt in die andere Richtung und lamentiert, dass er Strafe zahlen müsse, wenn die Stühle zu dicht am Radweg stehen. Wir einigen uns auf einen Meter Stufenabstand auf der einen Seite, und einen Meter Radwegabstand auf der anderen. Man fragt sich, wieso hier überhaupt ein Tischchen stehen muss. Wäre dies nicht die vielleicht einzige Chance des Sommers, mit meiner Mutter ein Eis zu essen, würden wir in diesem Moment gehen. Doch Corona macht uns ja solidarisch und “miteinander fühlend”. Und wie: Mutter sitzt, als einzige mit aufgesetzter Maske, inmitten der vielen Leute, die einen Tisch suchen, anstehen, nur mal gucken wollen, was es gibt, oder mit ihrem Eis direkt vor den Stufen auf andere warten und, weil der Gehweg komplett zugebaut ist, von Passanten zum Eisinteressenten werden. Der Kellner dazwischen flitzt hin und her wie ein Börsianer. Meine Mutter ist befremdet. Endlich bekommt sie einen Eindruck davon, wie es jenseits der Medienbilder, von denen sie seit 99 Tagen aus Fernseher und Tageszeitung überflutet wird, aussieht. Draußen, wo echte Menschen in ihrer gewohnten Unkoordiniertheit herumstolpern.

20 Minuten reichen ihr dann auch, und sie ist froh, wieder in ihr Stift zu kommen. Aber das Eis ist trotzdem lecker. Wenngleich es mich etwas an ein Erlebnis aus frühen Jugendtagen erinnert: Damals war uns eine Colaflasche heruntergefallen – ich meine diese echten Flaschen aus Glas, die man von Coca Cola heute gar nicht mehr kennt – und das obere Ende des Halses war abgebrochen. Also tranken wir die Literflasche (fast) leer, indem wir uns den Splitterrand vorsichtig an die Lippen setzten und nippten. Der Kick war nicht nur, sich nicht an den messerscharfen Kanten zu schneiden, sondern auch die Gefahr, evtl. einen hineingefallenen Splitter mitzutrinken. Nie wieder bekam ich vom Trinken eines halben Liters Cola einen derart trockenen Hals wie an jenem Tag.

Der Unterschied zu Corona: Erstens waren wir sogar als Halbstarke durchaus des Wahnsinns unserer Mutprobe bewusst, zweitens habe ich sowas nie wieder gemacht.

Als wir einige Tage später die Eisdiele wieder passieren müssen, stellen wir fest, dass dies wirklich der “Hotspot” des ganzen Stadtteils ist.

Derweil zieht ein anderer, wesentlich spektakulärer Hotspot in der Medien- und Meinungswelt seine Kreise, das Haus Tönnies. Alle geben nun den bösen Fleischbaronen die Schuld. Es müsse sich etwas ändern, tönt es auf allen Kanälen. Letztes Jahr war Clemens Tönnies noch der böse Rassist, als er Kraftwerke als mögliche Verhütungsmethode in Afrika vorschlug. Ich finde ja, man hat ihn damals völlig missverstanden. Eigentlich wollte er in der öffentlichen Riesenstammtischrunde seiner Wirtschaftsfreunde einfach nur eine besonders gelungene Zote loswerden – doch das ging nach hinten los. Im Zeitalter der sozialen Medien gibt es eben nirgendwo mehr Diskretion, nicht mal in einer Runde Gleichgesinnter. Gleich wird man in die Öffentlichkeit gezerrt und muss dann Buße tun. Seit George Floyds Ermordung, sind antirassistische Lippenbekenntnisse ja wieder besonders groß in Mode. Sogar aus Artikel 3 des Grundgesetzes soll das Wort “Rasse” gestrichen werden. Folgen wir, in Corona-Zeiten sehr beliebt, der wissenschaftlichen Diktion, müsste an Stelle von “Rasse” nun “Unterart” stehen. Wie klasse läse sich denn dieses Wort in unserem Grundgesetz erst! Also ersatzlos streichen?

However, der Rassismus selbst würde dadurch freilich nicht verschwinden. Außer, auch das Wort “Rassismus” selbst wird aus der Sprache entfernt, denn ein “ismus” zu etwas, das es gar nicht mehr gibt, wäre doch erst recht verwirrend. Wie würde man das Kindern erklären? Auf jeden Fall müssten sie alle Bestandteile, aus denen sich Rassismus zusammensetzt, einzeln lernen und verstehen. Und das könnte eventuell eine Diversität und Differenziertheit fördern, die gerade vom Aussterben bedroht ist.

Andererseits kommen durch Corona ja nun neue Worte hinzu – in unserem altehrwürdigen Duden. Nun rätsele ich, warum ein Standardwerk der deutschen Sprache immer mehr angloamerikanische Begriffe aufnimmt. Bedeutet das nun, dass die Amerikanisierung nun erst richtig Fahrt aufnimmt, oder bedeutet es, dass sich die Deutschen klammheimlich wieder Dinge aneignen, die ihnen eigentlich gar nicht gehören?

Ich habe damals gelernt, einen Spachstamm zumindest vage auszumachen, und dann das entsprechende Standardwerk der entsprechenden Sprache zu bemühen, zum Beispiel das “Oxford Dictionary”. Doch diese Form der Quellenrecherche ist für eine Generation, die das Attribut “cool”, wenn es überhaupt mal geschrieben wird, aus den Buchstaben k, u, h und l zusammensetzt, anscheinend schon zu viel verlangt.

Gespannt bin ich, ob und wann mal wieder deutsche Wörter in den Duden aufgenommen werden. Anbieten würde sich zum Beispiel der unsägliche Begriff “Autokultur” (ich erwähnte die autokinoähnlichen Veranstaltungen im letzten Kapitel), der des deutschen liebstes Kind auf eine vor Corona undenkbare Art und Weise mit etwas konnotiert, womit es ursächlich rein gar nichts zu tun hat.

Mist, jetzt habe ich mich wieder ablenken lassen – es sollte doch mit Tönnies weitergehen.

Also, er ist an gar nichts Schuld. Basta. Er macht nur, was viele andere auch machen würden, wenn sie sich nicht selbst im Wege stehen würden. Seien wir doch mal ehrlich: Welcher Fünfzehnjährige würde heute auf die Idee kommen, eine Fleischfabrik zu gründen? Heute eröffnen die Kids in Deutschland Shisha-Bars und Influenza-Kanäle, oder versuchen, in irgendeiner Metropole ein florierendes Drogenimperium aufzubauen. Die Begabtesten in Fernost und den USA bringen immerhin IT-, KI- oder E-Scooling auf den Weg.

Auch Tönnies hat in einer Zeit des rasanten Wachstums einfach nur auf das richtige Pferd gesetzt. Und sicher auch ein paar Stunden dafür gearbeitet. Und natürlich nutzt er das in dem Rahmen, der ihm zugestanden wird aus. Das haben die ausbeutenden Unternehmer nach dem Vorbild Manchester und die Plantagenherren der Neuen Welt mit ihren Sklaven immer so gemacht, und das ist auf unseren Spargel- und Erdbeerfeldern auch nicht anders.

Und jetzt sage ich Ihnen, wer schuld ist:

1.

Die Konsumenten. Zum Beispiel Menschen, die Kinder großziehen, die, wenn sie dann selbst über ihre Menüzusammenstellung entscheiden dürfen, in der Burgerstation die Salatbeilage zurückgehen lassen. Oder Kleingärtner und Parkbesucher, die im Sommer Woche für Woche Privatgrundstücke und öffentliche Anlagen (am besten mit Aldi-Einweggrills) durch ihr Geräuchere verpesten und das auch noch zum wichtigsten Event des Sommers (nach der Flugreise) machen. Oder Mittelklassebürger, die erstmal ihren schicken 2000-Euro-Grill voll legen, um dann mit einer Riesenschale an Würsten, Steaks und Bouletten ihre Gäste zu nötigen, jetzt doch wenigstens ein Stück von jeder Sorte zu nehmen. Vorher gefragt wird nie, es ist plötzlich da und muss weg.

2.

Die Politiker. Solche wie der, der erst letzte Woche verkündet hat, Fleisch müsse auch für Hartz-IV-Empfänger erschwinglich bleiben. Wie oft im Monat, erwähnte er nicht. Und wenn dann ausgerechnet eine Frau Klöckner dagegen vorgehen will, ist das nichts weiter als PR in eigener Sache.

3.

Die Handelsketten. Man will ja der billigste sein, und auch das Image eines Edelsupermarktes schützt nicht vor Halteklasse 4. Als in der höchsten Corona-Alarmstufe das Toilettenpapier (falls überhaupt vorhanden) streng rationiert wurde, konnten die Muttis aus den Betonsilos noch allemal mit einem Dutzend Grillhähnchen aus dem Supermarkt entkommen. Ungehindert vom Wachpersonal, dass nur Augen für das “weiße Gold” hatte.

4.

Die Werbung. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass es in der Werbung eigentlich nur zwei Sorten von Spots gibt, die sich mit Essen und Trinken beschäftigen? Die, in der es um Convenience Food oder Knabberkram geht, und die, in denen gegrillt wird. Auch, wenn es eigentlich um Bier geht!

Von all dem soll Clemens Tönnies der größte Nutznießer sein, und am besten noch der Drahtzieher dahinter? Wenn er derart magische Fähigkeiten hätte, wäre Schalke 04 wohl kaum der “freie Fall” der Bundeliga. Ulli Hoeness gibt's ja auch noch, machte der nicht auch in Fleisch? Und Werder Bremen läuft sogar mit “Wiesenhof”-Jerseys auf, man spricht im Zusammenhang mit diesem Sponsor von Hühner-KZs übelster Sorte. Was sagt Frau Klöckner dazu?

Nein, in unserer Lebensmittelindustrie stinkt es ganz gewaltig, an vielen Ecken und Enden. Wir hatten das Beispiel mit den Erntehelfern und nun dies. Jetzt, da es wieder ein paar mehr Ansteckungen gibt, werden die moralische Keule herausgeholt, die Politik angerufen, und die Medien setzen sich in Bewegung. Denn zum Glück gibt es wieder einen Bösen, dem wir alles in die Schuhe schieben können. Das ist heuchlerisch, scheinheilig und überspielt die vielen, vielen Baustellen, die weiter unter politischem Schutz und mit Hilfe bedenkenlosen Konsums schreiendes Unrecht und grenzenlosen Schmerz verursachen.

Man muss einfach nur groß genug sein, dann kommt man mit allem durch. Und auch die neun Milliarden für die Lufthansa hindern den Konzern nicht daran, der Politik die Pistole gleich nochmal auf die Brust zu setzen. Wenn schon Chuzpe, dann aber auch gleich nochmal, klappt bestimmt wieder. So denken auch Taschendiebe.

Deshalb wird auch Clemens Tönnies einen Weg finden, aus der Sache herauszukommen. Denn nicht nur er ist ein “Täter”, sondern das System ist ebenso der “Vater” seines Erfolges. Unser System, unser Konsum, unsere Ignoranz und unser Negieren jeglicher Eigen- oder Mitverantwortung.

Eigentlich sollte diese Woche hiermit voll sein. Doch eines habe ich unterschätzt: Die Regel der “100 Tage”! Die Politik muss innerhalb von 100 Tagen beweisen, ob sie leistungsfähig ist, und sogar die Einstürzenden Neubauten (die deutschesten aller Anarchisten) haben sich für ihre Phase IV genau 100 Arbeitstage verordnet.

Nach genau 100 Tagen Corona kommt am Mittwoch dieser Woche unser Staatsorgan-Placebo Bild. Kostenlos in die Flure der Mietshäuser, welch ein Schachzug! Unter dem vertrauten Logo im roten Rechteck erscheint die Durchhalteparole “Die Sonderausgabe voller Zuversicht”, darunter prankt in roten Lettern “neue Kraft” vor einem Foto der “schwarzen Null”, ihres Zeichens nun Bundestagspräsident. Die erste große Doppelseite gehört ebenfalls Herrn Schäuble, teilen muss er sie sich nur mit VW, deren Anzeige mit “Deutschland startet durch” überschrieben ist. Auf Seite 4 folgt Rührseliges, dann Werbung, und so weiter. Interessant ist die Themenauswahl, die hier zusammengestellt wurde. Der besseren Übersicht hier als Liste:

  • Gelernt werden soll jetzt mit chinesischen Tablets (an meiner Schule gab's welche aus Braunschweig).

  • Mathias Horx erklärt uns, warum wir “nach” Corona stärker sind (in der letzten Gratis-Bild hatte man seinen Ex-Kollegen Wipperman interviewt)

  • Die Lufthansa-Chefs reiben sich die Hände – würde ich an ihrer Stelle auch.

  • Fünf deutsche Auto-Bosse verbreiten sich dazu, wie sie (oder wir) “aus der Krise fahren”. Wir brauchen also nicht mal Gehhilfen?

  • Die Telekom pixelt sich selbst ein ganzseitiges 5-G-Netz zusammen.

  • Auch eine satte Doppelseite (lediglich ein Zipfelchen bekommt “Opel” ab) bekommen die Herren Beckenbauer, Matthäus und Brehme, die sich anlässlich der gerade ausfallenden EM noch einmal gemeinsam die Eier, pardon, den WM-Pokal, schaukeln dürfen. Den von 1990, versteht sich.

  • Die ganze Welt wartet auf den nächsten Bond, der uns derzeit sowieso in seinen älteren Ausgaben mindesten 2x in der Woche beehrt. Craig kümmert sich rührend um ein Bond-Girl, verrät schon die Titelseite (wann tat ein Bond das jemals nicht?) und der ungehobelte Alkoholiker Lazenby (warum lese ich hier immer “Lazy”?) verrät sogar, dass er schon 1969 die Welt vor Corona retten sollte.

  • Auch das oben geschilderte Dilemma des Dudens findet seinen Platz.

  • Sattsam bekannte und sich ausbreitende Baumarkt- und Lebensmittelketten helfen uns zu überleben.

  • Als krönender Abschluss wird vermeldet, dass jeder anrufen kann, um als “Corona-Held” eine Reise mit einem ebenfalls sattsam bekannten Reiseunternehmen zu gewinnen.

  • Und siehe da: Auf der Rückseite preist Bild seinen eigenen Fernsehkanal an.

Nein, es gibt keine “Gehirnwäsche”, Bild liest ja eh niemand, und als Demagoge soll in der Hölle schmoren, wer Verschwörungstheorien ausbrütet! Bild zeigt uns doch, wie pluralistisch, offen, vielschichtig und aufgeklärt die Macht- und Meinungsverhältnisse in Deutschland aussehen. Ganz klar!

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