Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 2

Das etwas andere Logbuch Subjektive und selektive Betrachtungen einer Krise, die in die zweite Woche geht.

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Tag 8

Am achten Tag ist alles schon so erschreckend normal geworden. Der Sicherheitsabstand zwischen den Menschen, die Leere der Straßen und Parkplätze in der Innenstadt und auch das Produktangebot in den noch geöffneten Supermärkten. Und es ist angenehm ruhig, fast erholsam. Von einem Luftkurort kann noch keine Rede sein, auch wenn es wieder kühler und frischer geworden ist. Doch Hannover ist jetzt zum Geräuschkurort mutiert. Wie schön. So könnte es immer sein. Wenn die Menschen doch nur endlich ihre rollenden Blechkübel zuhause stehen lassen würden. Busse und Bahnen wären dann zwar erheblich voller, doch Ruhe und verringerte Abgase würden dieses Manko an Lebensqualität um ein vielfaches wettmachen.

Wenn dann noch ein paar Läden mehr geöffnet hätten. Warum muss es in unseren heutigen Städten, in denen (außer im Bau) nicht mehr mit Schwermaschinen gearbeitet wird, eigentlich überhaupt noch so lärmen und stinken? Könnte man elektronische Kassen, lautlose Türen und Computer nicht nutzen, die Städte insgesamt ruhiger zu machen?

Der Futurismus ist nicht meine liebste Kunst, hat er doch die laute und grelle Dynamik moderner Städte zum Stilmittel erhoben. Aber Bilder riechen eben nicht, zumindest nach hundert Jahren nicht mehr.

Endlich bekomme ich auch wieder Toilettenpapier, für meine Mutter. Ich verstecke es im Auto unter Dingen, die in normalen Zeiten erheblich wertvoller wären. Doch auch jetzt, nach über einer Woche, ist Klopapier noch immer “das weiße Gold”. Das Auto bleibt erstmal stehen. Ich will noch etwas die Ruhe genießen.

In meiner Schule gibt es nichts zu tun, Kurzarbeit ist angekündigt. Das ist besser, als den Job zu verlieren, ich mache mit. Sehr vielen Menschen geht es so, hoffentlich nutzen einige die Zeit, auch mal wieder über alternative Beschäftigungen nachzudenken.

Für mich gibt es ohnehin genug zu tun: Die Brexits - die liebenswerteste Satire der Welt - positionieren sich im Netz als einfallsreiche Selbsthilfegruppe, und auch die Musikproduktion schreitet prächtig voran. Nana ist noch immer latent heiser, wir erheben ihre belegte Stimme zum Stilmittel. Jetzt fehlt nur noch das Cello.

Der Fehler im System: Das Geldverdienen klappt derzeit für sehr viele Menschen nicht richtig. Unserer Musik ist es egal. Denn Geld gibt es auch in Zeiten ohne Corona dafür kaum, sie ist im Grunde ohnehin unbezahlbar.

Tag 9

Bereits zehn Minuten vor Ladenöffnung stehen kleine Schlangen vor den Drogeriemärkten.

Eine große Kette aus Niedersachsen, so heißt es, habe bereits vor Wochen angefangen selbst zu hamstern. Sehr klug, so können sie jetzt dosiert ausgeben. Ein Warnruf des Wachschutzes hallt durch die fast menschenleere Einkaufspassge: “Wenn jemand Klopapier möchte, das bekommen wir nur montag, mittwochs und freitags morgens.” Heute ist Dienstag. Ich sehe an diesem Tag noch viele Menschen mit Klopapier und nichts anderem. Die Menschen helfen sich, indem sie einander Toilettenpapier bringen. Und als Aufmerksamkeit, denn die Blumenläden gehören zu den großen Verlierern von Corona. Mit Toilettenpapier ist man überall ein gern gesehener Gast. Auch meine Nachbarin bittet mich, ihr welches mitzubringen. Um acht aufstehen, um rechtzeitig in der Drogerie zu sein, ist ihr zu früh. Mal sehen, wie lange sie das Ausschlafen noch durchhält.

Mit meiner Wagenladung von gestern habe ich Glück, ich finde mein Auto an diesem Tag ohne zertrümmerte Scheibe vor. Gut versteckt, das weiße Gold.

Dafür ereilen mich andere Hiobsbotschaften – schon ab heute solle es “Kurzarbeit 0” geben. So ein knauseriger Arbeitgeber, nicht mal meine Überstunden konnte ich abbummeln. Nun gut, dann gehöre auch ich jetzt zu dem Millionenheer, dass den Staat finanziell in die Knie zwingen wird. Wird der Staat sich das gefallen lassen?

Mein Anwalt sagt meinen heutigen Termin ab, wir regeln alles am Telefon. Auch er klagt mir sein Leid – da zahle er nun schon 1000 Euro Zweitwohnsitzsteuer im Jahr, und dürfe seine Zweitwohnung nicht mal besuchen. Bei der Einreise nach Schleswig-Holstein würde man ihn zum Touristen erklären und gleich wieder zurückschicken. Oder sogar mit einer empfindlichen Geldbuße belegen? Seine Hauptthese: Die Globalisierung schlägt zurück. Seine Nebenthese: Wir bekommen eine neue Art von Sozialismus. Die Lufthansa wird verstaatlicht und die Tui geht baden. Alle Unternehmen, die jetzt die vollmundig proklamierten Hilfen (als Darlehen) bekommen, gehen entweder mit oder begeben sich in staatliche Obhut. Das mit Exportüberschüssen überhäufte Ausland haben wir jetzt schon im Sack, die Binnenwirschaft hat Vater Staat nach der Corona-Krise unter Kontrolle. Was für ein cleveres Modell. Fragt sich nur, welches die größere Krise ist. Mein Anwalt weiß auch, dass er unterm Strich dann doch zu den Profiteuren gehören wird, egal, wie es läuft.

Innerhalb der Städte hingegen ist erhöhte Mobilität gefordert. Heute sehe ich die ersten Home-Officer, die keinen Laptop, sondern gleich ihre großen Monitore vom Büro in die U-Bahn schleppen. Man weiß ja schon gar nicht mehr, ob es sich bei verdächtig wirkenden Menschen um Homeworker, Hamster oder Diebe handelt. Die Fahrkarten werden mittlerweile nicht mehr kontrolliert.

Die traurigste Nachricht des Tages ist das Ableben des Comiczeichners Uderzo. Asterix zumindest bleibt der Kampf gegen das Virus erspart.

Tag 10

Manu Dibango gilt als das erste prominente Corona-Opfer. Über die Todesursache des wesentlich jüngeren “Gabi” Delgado schweigt man sich aus. Womöglich eine Folge von HIV? Andere Krankheiten als Corona gibt es anscheinend nicht mehr. Wozu auch, mehr als eine Information können vielen Menschen ohnehin nicht verarbeiten.

Auf telefonische Nachfrage beim Bürgeramt erfahre ich, dass mein Reisepass fertig im Tresor liegt, das Amt jedoch bis zum 18. April komplett geschlossen hat. Auch diese Maßnahme könnte man als restriktive Einschränkung der Bewegungsfreiheit interpretieren.

Meinen Vorschlag, dass man doch, analog zum Lebensmitteleinzelhandel, eine Ausgabe von wichtigen Dokumenten mit Sicherheitsabstand durchführen könne (Glasplatten haben die Schalterbeamten ja ohnehin schon zwischen sich und den Bürgern), entgegnet die Frau am Telefon schnippisch, dass wir uns ja gleich alle gegenseitig anstecken könnten. Stimmt, sie hat recht. Es reicht ja, wenn Drogerie- und Bäckereiverkäufer*innen eine Ansteckung riskieren, weil städtische Bedienstete ihre jetzt freie Zeit mit Brötchen- und Toilettenpapierkäufen verbringen.

Gerade erreicht mich eine Spam von Dr. von Rosen, in der er prophezeit: “Jeder kann 100 Jahre alt werden!” Aus Sicht vieler Menschen mag das ja reizvoll sein. Doch Corona wird sich schon etwas dabei gedacht haben, dass es in der Altergruppe “Ü 85” besonders unbarmherzig zuschlägt. Ein gutes Timing hat dieser Doktor.

Die Luft in den Straßen wird von Tag zu Tag besser. Ein einsames Auto sorgt dafür, dass ein grauweißes Wölkchen aufsteigt. Vor Corona hat man vor lauter Grauweiß keine einzelnen grauweißen Wölkchen gesehen. Nun demonstriert dieses einzelne Wölkchen sehr anschaulich, wieviel Abgas so ein Auto wirklich produziert. Ich hoffe, dass in der Stadt bald gar kein Auto mehr fährt. Vielleicht können wir dann nachts die Sterne wieder sehen. Wie in Afrika.

Mutter ist versorgt, doch wie geht es Schwiegermutter? Die hat gerade mit ihrem Sohn alle Afrika-Relikte entrümpelt und muss nach einer großen Umgestaltungsaktion auf ihre neue Einrichtung warten. Die schönen neuen Möbel werden zwar in Deutschland hergestellt, doch offensichtlich in einem anderen Bundesland. Und Ländergrenzen werden mittlerweile so streng bewacht wie Staatsgrenzen. Diese ganzen Grenzen gab es doch schon gar nicht mehr – verdammter Förderalismus aber auch. Unpassierbare Grenzen passen aktuell leider auch sehr gut in den paneuropäischen Kurs.

Bereits vor zehn Uhr erreicht mich der erste Petitionsaufruf. Noch immer soll die Auslieferung Julian Assanges an die USA verhindert werden. Ob meine Unterschrift dazu beitragen kann, weiß ich nicht. Doch vielleicht schafft es ja Corona.

Auf der Sonnenseite der kleinen Einbahnstraße, in der wir wohnen, treffe ich unseren Nachbarn, den Comiczeichner, auf eine Zigarillolänge. Auch ihm fällt die Decke auf den Kopf und er möchte seine Freundin am Deister besuchen. Die wiederum ist begeisterte Kickboarderin. Ich leihe ihm den Klapproller von Klaus, den ich im Keller habe, und nach ersten Rollversuchen wird der Zeichner immer sicherer. Nun ist auch er mobil und kann der Krise leicht- und barfüßig (morgens kommt er immer in Sandalen ohne Socken auf die Straße) entfliehen.

Tag 11

Die Produktion steht still? Mitnichten! Heute ist Mülltag und der Fußweg vor dem Haus füllt sich mit Säcken. Hauptsächlich den gelben. Der Stubenarrest sorgt dafür, dass unsere Müllberge schneller wachsen als sonst. So schnell lassen wir uns den Konsum nicht vermiesen.

Überhaupt passt die Farbe “Gelb” ganz gut zur Situation. Ein LKW-Fahrer berichtet auf Radio Fritz von den Erlebnissen mit seiner Ladung. Natürlich Klopapier. Mich erinnert das an die Bananen, an den riesigen LKW mit Hänger, der sich 1990 nachts in einer kleinen Leipziger Straße festgefahren hatte und nicht wusste, wohin er muss (Navis gab es da noch nicht). Ganz Westdeutschland witzelte damals über die Bananenrepublik DDR. Jetzt witzelt die ganze Welt über die Klopapierrebublik Deuschland.

“Gelb” heißt auch der rosafarbene Schein, der zu den Lieblingsdokumenten der Deutschen gehört. Seit Jahren führen wir die Krankschreibungsquote Europas an, sind die “Gelber-Schein-Republik” und wahrscheinlich sogar “Krankschreibungsweltmeister”. Krankschreibung ist für viele ein probates Mittel, wenn ihnen “auf Arbeit” eine Laus über die Leber gelaufen ist. Aktuell nun sind viele Leute quasi von Staats wegen krankgeschrieben, wenn auch in den meisten Fällen nur vorbeugend. Das passt den Bürgern aber auch wieder nicht. Meckern auf hohem Niveau. Eigentlich will man mit dem gelben Schein ja immer der Clevere sein, der sich nicht unterbuttern und ausnutzen lässt, der den Arbeitgeber oder die Kollegen austrickst. Jetzt sind die, die Telefondienst machen müssen neidisch auf die, die gar nicht zur Arbeit zu gehen brauchen. Neid ist bekanntlich auch gelb.

Eine Analogie aus der Musik: Die Superharmoniker von Coldplay haben nur ein einziges Mal dissonante Töne in einem ihrer Songs eingesetzt. In “Yellow”. Zum Glück leuchtet die Sonne so gelb wie selten in dieser Jahreszeit und die Osterglocken stehen schon in der Blüte.

Für viele Menschen, die sich und den Rest der Gesellschaft über Lohn- und Brotarbeit definieren und deren Arbeitsumfeld elementarer Lieferant sozialer Kontake ist, können diese Tage, vielleicht Wochen, belastend werden. Ihre gewohnten Abläufe, Ablenkungen und das Nicht-darüber-nachdenken fallen weg. Das Zurückgeworfensein auf sich selbst stellt sie vor eine ungeahnte Herausforderung. Eine Stille entwickelt sich, eine Leere tut sich auf, ein Vakuum, das sie nicht ausfüllen können. Sie werden zu Hamstern ohne Rad, und nur das Hamstern kann ihre Tage ein wenig füllen und Trost spenden.

Für die Menschen, die geringfügig oder gar nicht an der geregelten Arbeitswelt, am Wirtschafts- und Konsumgetriebe beteiligt sind, und die, deren Leben aus permanenter Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Ideen besteht, ist es eine gute Zeit. Denn sie fallen endlich einmal nicht als benachteiligt oder gar stigmatisiert auf. Im Gegenteil: Sie gehören zu den ideellen Profiteuren, ihre Erfahrung mit der Ausgegrenztheit verleiht ihnen Überlegenheit, ihre Erfahrung als No-Budget-Akteure zahlt sich aus. In der staatlich verordneten Isolation werden plötzlich sie zu den Experten, nun sind sie die mit dem unschätzbaren Erfahrungsvorsprung. Wenn sie Credibility und Einfluss hätten, könnten die anderen einiges von ihnen lernen.

Viele derer, die künstlerisch arbeiten, dürften das, was für andere unnormal ist, als gar nicht so unnormal erleben. So entwickelt sich eine “Corona-Kreativität”, das Virus ist nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Wie und in welchem Maße diese Chance von wem genutzt wird, wird sich später zeigen.

Zu hoffen bleibt, dass nach Corona nicht nur staatlich verordnete, medizinische, technologische und wirtschaftspolitische Veränderung kommen. Wir brauchen mehr Ideen und Initiativen zu ökonomischer sowie ökologischer Umsicht und Unabhängigkeit, benötigen lokale und regionale Produktionen und Strukturen, sollten anfangen, den ganzen globalen Überbau wieder zurückzubauen. Das Corona-Problem sollte nicht isoliert oder gar als “Unglück”, sondern als Resultat unserer eigenen Fehler gewertet werden.

Wem es an dieser Stelle zu abstrakt geworden ist, der möge sich zum besseren Verständnis die folgende Begebenheit zu Gemüte führen. In meinem kleinen Supermarkt an der Ecke suchte ich gestern vergeblich nach Zucker, Mehl und Hefe. Die Verkäuferin, die gerade mit Befüllen der Regale beschäftigt war, antwortete mir auf Nachfragen “Es war wieder nichts dabei. Seit drei Wochen Lieferschwierigkeiten. Aber ich kann Ihnen Toilettenpapier anbieten, kommen Sie doch mal mit.” An der Tür zum Lager wartete ich, bis sie mit einem Zehnerpack zurückkam. “Als Hersteller steht zwar eine Hamburger Firma drauf, aber wissen Sie, wo unser Klopapier und unsere Taschentücher wirklich herkommen?”, äußerte sie in weiterhin gesenktem, konspirativen Tonfall. Mein Kopfschütteln registrierte sie mit wissender Genugtuung und verriet: “Aus Italien”.

Apropos Italien: Sachsen, hört man, hätte angeboten, Corona-Patienten aus dem so furchtbar gebeutelten und völlig überlasteten Italien zu übernehmen. Man wolle damit auch mehr über den Umgang mit und die Behandlung der Krankheit lernen. Wie so oft zeigen sie sich clever und pragmatisch, unsere Sachsen.

Tag 12

Es wird prognostiziert, dass Wasser über kurz oder lang knapp werden wird. Das zulaufende, das aus dem Wasserhahn kommt. Nun fließt zuerst das Abwasser nicht mehr. Dank Corona? Nein, leider sind es wieder die Menschen, die in ihrer schier grenzenlosen Dummheit Servietten, Taschentücher und andere ungeeignete Materialien ins Klo werfen.

Es gibt viele Unternehmen und Einzelpersonen, die anderen helfen. Auch das sei hier erwähnt. Wir alle können uns ein Beispiel daran nehmen und tun, was wir können. Doch wer kann denen helfen, denen scheinbar nicht zu helfen ist? Zum Beispiel den Rohrverstopfern. Ich bin ratlos. Vielleicht sollte man ihnen die Toiletten wegnehmen, oder zumindest das Zuwasser abstellen.

Aus Protest habe ich beschlossen, gar kein Toilettenpapier mehr zu benutzen. Wie das geht, da muss jeder selbst drauf kommen. Um mich in diesem Logbuch nicht zu wiederholen: Fragt mal die Menschen in den Seniorenheimen, die den zweiten Weltkrieg plus die Zeit danach überstanden und nebenbei eine Republik neu aufgebaut haben.

Wie nach dem Krieg ist es nicht? Stimmt, nicht ganz. Eher so wie in der Zone. Die Leute stehen Schlange. Und wir haben jetzt Bückware. Glauben Sie nicht? Kennen Sie nicht? Dann versuchen Sie doch mal, Hefe zu bekommen. Im Ranking gestiegen sind ja schon Mehl und Zucker. Mal sehen, was als nächstes ausgeht. Diese Produkte übrigens waren meines Wissens in der DDR nie knapp, gebacken wurde dort hervorragend.

OK, im Osten wurden einheimische Produkte mit besonderem Stolz präsentiert. Das mag sehr hausbacken rübergekommen sein, doch wenigstens wusste jedes Kind, dass Plaste und Elaste aus Schkopau kam, die Waschmaschinen aus Schwarzenberg und die Nudeln aus Riesa. Wir wissen heute zumeist nicht, wo die elementar wichtigen Konsumprodukte herkommen. Interessiert viele auch nicht.

Wenigstens wissen wir in Niedersachsen, wo unser Spargel herkommt. Wenn die Grenzen dicht bleiben, wird er dieses Jahr auch dort bleiben: In der Erde bei Nienburg.

Meine Mutter wollte Erdbeeren, im März. Einzig diesen einen Wunsch habe ich ihr nicht erfüllt bei meinem letzten Einkauf. Meine Nachbarin wollte Granatäpfel, für zwei Euro das Stück. Auch diesem Wunsch konnte (und wollte) ich nicht nachkommen. Meine Freundin will zu Ostern backen. Ich habe so lange gesucht, bis ich Mehl bekam.

Wenn es ganz dicke kommt, werde ich mich als Erntehelfer melden, denn sie ist auch eine glänzende Spargelköchin.

Mittlerweile ist es zu Einbrüchen in Krankenhäusern gekommen, habe ich gehört. Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel wurden gestohlen, in äußerst großen Mengen.

Jeglicher Kommentar dazu könnte bei mir politisch äußerst unkorrekt ausfallen.

Es gibt Tage, da möchte ich so gar nichts mit all dem zu tun haben und setze mich gleich morgens unter die Kopfhörer. Und da es momentan irgendwie wie in den Ferien ist, in denen man manchmal nicht mehr weiß, welcher Wochentag gerade ist, kann man auch am nächsten Tag noch schreiben. Oder für den nächsten Tag vorschreiben. Ich nenne das “Vorratstextspeicherung”.

Zumal die Ereignisse sich sowieso derart überstürzen, dass alles verschmilzt. Ein Tag mit dem anderen, eine Nachricht mit der anderen, eine am eigenen Leibe erlebte Maßnahme mit der anderen.

Warum hört man eigentlich nichts aus Schweden? Ein Freund ist gerade dort stationiert, nicht als Reisender, sondern als Design-Legionär. Er schickt einen Artikel der Zeit, in dem beschrieben wird, wie die Schweden mit Corona umgehen. Insgesamt entspannter und mehr im Austausch konträrer Meinungen, hat man das Gefühl.

“Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei, bitte halten Sie den Sicherheitsabstand ein!”

Die Leute auf dem Wochenmarkt lösen ihre Traubenbildungen auf. Das koreanische Modell kommt gerade recht, ist es doch wie vieles in Asien restriktiv und Disziplin einfordernd.

Man schaue sich nur mal an, welchen Respekt Koreaner vor ihren Eltern haben. Das kennen wir Deutschen ja gar nicht mehr. Jahrzehnte lang regierte das “Magst du mal” und “Würdest du, bitte”. Demonstrierte und praktizierte Autorität war aus der Mode gekommen, galt als rechts, passte nicht ins Bild einer vermeintlich freien Gesellschaft.

Ich sehe eine alte Frau, die im Kaufmannsladen ihre zusammengetragenen Lebensmittel nicht mitnehmen darf, weil sie nur Bargeld dabei hat. Hier wird so ganz nebenbei das Szenario der komplett bargeldlosen Gesellschaft exerziert, und niemand muss den Buhmann geben. Der Bösewicht ist Mr. C., ist doch klar. Erstaunlich, wie der in nicht mal zwei Wochen Dinge geschafft hat, wovon alle Regierungen in den letzten Jahrzehnten die Finger gelassen haben.

Doch nicht alles ist schlecht an den Hau-Ruck-Reformen. Mit 30 Jahren Verspätung kommt nun zum Beispiel auch die sogenannte “Digitalisierung” in der behäbigen deutschen Bürokratie an. Nu' los, zeigt mal was, jetzt wollen wir aber auch in der Umsetzung mal die guten alten Tugenden sehen!

Zum Thema Erntehelfer: Man munkelt, dass die Spargelbauern ihre Arbeiter aus dem Osten nun mit Boings einfliegen wollen, weil man damit die Grenzprobleme besser überwinden könne.

Nicht nur die Tage verschwimmen. Auch die Grenzen zwischen Realität und Satire. Nur einen Fehler hat dieses Gemunkel ganz bestimmt. Sie nehmen natürlich einen Airbus!

Tag 13

Gestern um 23:58 überkam mich eine böse Ahnung. Hatte ich vergessen, bei mir die Herdplatte auszuschalten? Ich musste nach Hause, egal wie. In die Stadt hinein erwischte ich noch eine S-Bahn. Ich wusste nicht, dass es die letzte für diese Nacht sein würde. Zuhause stellte ich fest: falscher Alarm. Da ist es schon heute.

0:46

Auf dem Hauptbahnhof stelle ich fest, dass keine S-Bahn mehr zurück zu meinem Wochenenddomizil fährt. Auch der Eisenbahner, den ich treffe, weiß keinen Rat. Ab kommendem Montag würde sich sowieso alles ändern. Wohingehend, weiß auch er nicht.

1:03

Ich erwische eine U-Bahn, von der aus ich in eine andere umsteigen kann, die mich ans Ziel bringt.

1:07

Am Umsteigepunkt stelle ich fest, dass auf meinem Gleis eine andere Linie fährt, noch viermal in dieser Nacht. Meine Linie jedoch fährt nicht mehr.

1:12

Ich gestikuliere vom Bahnsteig aus in die Fahrerkabine der nächsten U-Bahn, will durch das Glas rufend wissen, was mit meiner Linie ist. Die nette Fahrerin lotst mich in ihren komplett leeren Zug und ruft mir von der halbgeöffneten Cockpit-Tür aus zu: “Ich habe auf der letzten Fahrt keinen einzigen Fahrgast mehr gehabt, jetzt geht es nur noch ins Depot.” Ich könnte mir nur ein Taxi nehmen, schließt sie. Ich stehe wieder auf dem Bahnsteig und muss mir erstmal eine Zigarette drehen. Soviel Zeit muss jetzt sein. Zufällig habe ich ein Buch in der Tasche, “Die Welt ohne uns” von Alan Weisman. Darin wird ein Szenario entworfen, in dem die Menschen von einem Tag auf den nächsten verschwinden und die Städte von der Natur zurückerobert werden. Ich lese, während ich rauche.

1:16

Zumindest in dieser Station bin ich nun völlig alleine und warte lesend auf die nächste U-Bahn in Gegenrichting. Deren Ziel ist laut LED-Anzeige auch irgendein Depot. Mittlerweile ist mir klar geworden, dass der gesamte Nachtverkehr eingestellt wurde..

1:23

Ich bin nur eine Station weit gekommen. Auch hier, im größten und weitverzweigtesten U-Bahnhofkomplex Hannovers, der sich über vier Ebenen erstreckt und als Knotenpunkt aller Linien fungiert, ist es menschenleer. Fast. Ich sehe zwei Obdachlose, von denen einer im Rollstuhl sitzt. Das leere Betonlabyrinth wirkt unwirklich wie die Kulisse einer Dystopie von Ridley Scott. Wirkliche Beklemmungen verursachen mir nur die beiden Obdachlosen – als wenn alle vor irgendetwas geflüchtet wären und man diese beiden Menschen schlichtweg sich selbst überlassen hätte. Im Grunde ist es ja auch so.

Im April wird die Obdachlosenzeitung “Asphalt” nicht erscheinen, für Mai ist eine Doppelnummer geplant. Ich bin gespannt, was darin zu lesen sein wird.

1:29

Ich gehe durch den kilometerlangen Beton- und Glasgang, das UG 1 Hannovers, an dessen Ende ich zum Glück wohne. Auf meinem Weg treffe ich ein junges Pärchen, einen Betrunkenen und vier Securities, die jedoch als Traube. Es ist Freitagnacht.

1:44

Zuhause steige ich ins Auto, eigentlich wollte ich es für Stadtfahrten nicht mehr benutzen.

Auf meinem Weg ans südöstliche Ende der Stadt begegne ich keinem anderen Fahrzeug mehr.

Vormittags

Nach zwei Wochen Corona muss ich endlich mal wieder raus aus der Stadt. Zu dritt (mit Sicherheitsabstand!) fahren wir mit dem Zug nach Nienburg, der kleinen Spargelmetropole im nordwestlichen Niedersachsen. Während die beiden Anderen den merklich ausgedünnten Wochenmarkt abgrasen, setze ich mich an die Weser und lese weiter in “Die Welt ohne uns”. Um mich herum wäre jetzt sehr viel Wald, wir hätten wahrscheinlich eine Holzhütte, etwas Anbau und ein paar Tiere.

Tag 14

Vielerorts ist es dramatisch. Die vermeintliche Quelle, Wuhan, scheint nach einem Vierteljahr aus dem Gröbsten heraus, die Menschen im öffentlichen Raum sind jedoch noch immer spontanen Fiebermesskontrollen ausgesetzt. Man darf wieder hinein, aber kann noch nicht hinaus. New Orleans, das schon einmal in diesem jungen Jahrtausend einen hohen Preis für administrative Unterlassungen zahlen musste, ist dank seines letzten Mardi Gras wieder Opfer von Regierungsfehlern, und in Rom hat sich ein infizierter Geistlicher geopfert, indem er einem anderen Erkrankten, dessen Seelsorge er übernommen hatte, sein Beatmungsgerät überließ. Der Papst segnete die Erde vor einem leeren Petersplatz und heute morgen leuteten auch in unserem Stadtteil die Glocken einer menschenleeren Kirche. Zuerst wagten wir unseren Ohren nicht zu trauen, das vertraute Läuten klang heute nicht nur wie aus einer anderen Welt, sondern wie aus einer anderen Zeit.

Es fehlen Atemschutzmasken, die Lage in einigen Krankenhäusern ist fatal, die Opfer aus Prominentenkreisen nehmen zu.

Doch wieso können für die Fernfahrer keine Toiletten zur Verfügung stehen? Und warum müssen die Holländer Millionen von Tulpen verbrennen, während bei uns alle Osterfeuer abgesagt werden? Ich will endlich von offizieller Stelle wissen, warum Blumen, die für viele ans Heim gekettete Menschen so wichtige seelische Nahrung sind, völlig aus dem Leben verbannt werden und wähle 09131/6808-5101. Die junge Dame in der Hotline (zu der ich übrigens ohne Wartezeiten, wie man sie von Telefonanbietern und Postzustelldiensten kennt, durchkomme) versichert mir, dass so gut wie keine Gefahr von Blumen ausgehe. Also wundert es mich weiterhin, dass zwar Bäckereien offen sein dürfen, Gärtnereien jedoch nicht. Und es geht auch nicht nur um Blumen, sondern um die wohl Millionen von Menschen, die gerade jetzt ihren Garten für das Frühjahr fit machen wollen. Übrigens gibt es auch keine Stelle in Hannover mehr, wo man seinen Grünschnitt entsorgen kann und darf. Immer ist nur von den Lebensmittelgeschäften die Rede, dass der Buchhandel verzweifelte Aushänge macht, auf denen um telefonische oder Bestellung via Mail gebeten wird, fällt unter den Teppich. So wie vieles andere.

Allmählich stellt sich die Frage, warum zusätzlich zu den großen menschlichen Tragödien und unvermeidbar erscheinenden, umfassenden wirtschaftlichen Schäden auch noch Maßnahmen durchgesetzt werden, die jeglicher sachlichen Grundlage entbehren.

Will die Regierung …

A.

… den Menschen das Leben so vermiesen, dass sie sich hinterher über alles, was von oben herunter wieder erlaubt ist, derart freuen, dass sie diese Parteien als Retter feiern und wieder wählen?

B.

… austesten, wie weit man die Grundrechte in einem vermeintlich freien Land einschränken kann, bevor es zu Reaktionen kommt, die dann weitere Repressalien rechtfertigen?

C.

… die gesamte Wirtschaft unter ihre Kontrolle bringen?

Die Medien tun das Ihre dazu. Auf vielen Sendern werden permante Appelle eingeblendet, solche wie “Bleib daheim” oder “Sieh fern”. Kennen wir ähnliches nicht aus 1984?

Nirgendwo sieht, liest oder hört man den Vorschlag, sich im Freien, auf weitläufigen Flächen oder in Wäldern aufzuhalten und zu bewegen. Zumindest drei Vorteile hätte dies:

  1. Man müsste nicht so viel hamstern, um zu Hause verstärkt konsumieren zu können.

  2. Man würde nicht so schnell depressiv werden, vor Langeweile noch mehr konsumieren oder zu viel fernsehen.

  3. Man würde durch den Sport in wechselhaftem Spätwinter-Frühlingsklima bei strahlendem Sonnenschein seine Abwehrkräfte stärken.

Doch ist dies alles gewünscht?

Ich fasse zusammen: Permanente Berieselung durch die Telemedienkanäle bei gleichzeitigem Literaturverzicht, einseitige Konsumversorgung und häusliche Befriedigung niederer Bedürfnisse bei gleichzeitiger Sozialdistanz und Reduzierung lebensverschönender Elemente im direkten Lebensumfeld; vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Verunsicherung und Abhängigmachung.

Ähm, woher kennen wir diese Kombination nochmal?

Auf der anderen Seite: Das schwedische FSK-Modell steht gerade auf der Kippe, weil die Menschen sich in überfüllte Busse drängeln. Vielleicht wird Schweden ja fürstlich dafür entlohnt, dass es sich als abschreckendes Beispiel positioniert – wenn es schiefgeht.

Aber das soll hier keine Science-Fiction werden, also weg mit solchen Verschwörungstheorien!

Wo wird eigentlich gerade mit Augenmaß nach Mittelwegen und indiduellen Lösungen gesucht? Nach Regelungen, die auch dann noch – oder wieder – funktionieren werden, wenn Covid 20 kommt?

Christoph Abée, 29.03.2020

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