Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 36

Das etwas andere Logbuch Tag 246 macht mich für ein paar Stunden zum Hard-Seller.

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Während ich ausbildungsfernen Jugendlichen unsere Coaching-Maßnahme schmackhaft mache, erstellt die Vertreterin der Zuweisungsstelle eifrig Unterlagen, die von den (nicht immer ganz freiwilligen) Aspiranten nach einem 20-minütigen Crash-Talk unterschrieben werden sollen. Unsere Schreibtische in dem schmucklosen, kalenderlosen Raum sind mit Plexiglasscheiben verbarrikadiert. Die teilnehmenden Personen bilden jeweils ein geometrisches Dreieck, wobei ich hinter zwei riesigen Monitoren sitze, die ich gar nicht brauche. Alle Informationen, die ich über die geladenen Gäste brauche, notiere ich auf meinem Kolleg-Block. Während die Dame mir gegenüber ihre Technik eifrig nutzt, sitzen die sehr unterschiedlichen Maßnahme-Kandidaten an einem Katzentisch, der außer drei beiläufig hingefächerten Kugelschreibern keinerlei Gegenstände aufweist. Bisher kannte ich solche Räume nur als Besucher. Als einer von denen, die vorsichtig zur Tür hineinlugen und sich dann mit dem Rücken in Richtung selbiger an den kargen Bittstellerplatz setzt. Auch die, die heute mit dem Rücken zur Tür sitzen wirken nicht ausnahmslos glücklich, hier erscheinen zu müssen. Wenngleich einige von ihnen das Beste aus der Situation machen und sich motiviert geben. Drei Kugelschreiber sollten reichen für acht junge Leute, selbst wenn zwei von Ihnen (den jungen Leuten) zweifelhafter Herkunft sind. Alle Vorsicht erweist sich als unnötig, am Ende liegen die drei Kugelschreiber noch immer an ihrem Platz. Immerhin haben die Eingeschüchterten zu diesem Zeitpunkt schon vier Verträge unterschrieben – eine beeindruckende Quote von fünfzig Prozent.

Überhaupt, “fünfzig Prozent”. Das ist wieder so ein Stichwort der Woche. Da man im Lockdown 2.0 auf jeden Fall den Schulbetrieb weiterlaufen lassen will, entstehen abenteuerliche Modelle. Denn wenn wir Deutschen uns etwas vornehmen, dann muss das auch durchgezogen werden. Egal, wie sinnvoll es ist und was es kostet. Eines dieser Modelle sieht vor, die Klassen zu halbieren. Eine Klassenhälfte sitzt in einem Raum und erarbeitet ein Resultat. Dann fährt die mit Laptop ausgestattete Lehrkraft einen riesigen Flachbildschirmwagen in einen weiteren Raum, in dem die andere Hälfte der Klasse sitzt. Via Internet und Konferenz-Software zeigt sie das Arbeitsergebnis der ersten Gruppe auf dem Monster-Monitor. Danach fährt die Lehrkraft das ganze Zeug wieder zurück und die zweite Gruppe zeigt ihre Ergebnisse. Dass es sich hierbei um eine Verschwendung von Energie- und Technik-Ressourcen bei gleichzeitig absolut nicht gegebenem Schutz vor dem Virus handelt, ist irrelevant. Relevant ist, dass alle SchülerInnen in der Schule sind und man so tun kann, als tue man etwas.

Eine wesentlich schlauere Kosten-Nutzen-Effizienz verspricht das folgende Modell: Wenn fünfzehn SchülerInnen in einen Raum dürfen (… man hat ja eigentlich auch nur einen Raum pro Klasse), muss man bei kleineren Klassen bis zwanzig Kindern und Jugendlichen gar nicht halbieren. Jeweils fünf von ihnen müssen täglich zuhause bleiben, sodass jeweils drei Fünfergruppen in ihren Klassenraum dürfen. So fällt für die zu Beschulenden nicht die Hälfte des Präsenzunterrichtes aus, sondern nur ein Viertel. Dumm nur, dass man dann, wenn es wieder eine dieser abstrusen ministeriellen Anforderungen will, vier statt zwei Sitzplänen erstellen muss, von der ganzen anderen Planerei und Umplanerei bei Kranheitsfällen ganz zu schweigen. Ein kluger Kollege kommt auf die Idee, dass man diesen Präsenzunterricht dann ja via Internet zu den fünf Abwesenden nachhause übertragen könnte. Ich komme auf die Idee, dass eigentlich alle zuhause bleiben könnten, auch die Lehrkräfte. Sagen tue ich das aber lieber nicht, in diesen Tagen ist man als denkender Mensch allzu schnell ein Querdenker. So oder andersherum.

Was ist sonst noch dieser Woche zu hören und sehen? Dass die Automobilindustrie trotz noch kürzlich zu vernehmender positiver Bilanzen jetzt wieder einige Milliarden in den Hintern geschoben bekommt, während Kultur und Gastronomie auch weiterhin keine Lobby haben. Oder dass überall weiterhin Riesenstadien bewirtschaftet und beleuchtet werden, damit sich Fußballer europaweit permanent neu infizieren können – und dabei ohne Maske anderes anwesendes Personal im Siegestaumel viral besudeln dürfen. Für die Sport-Chronisten: Wenigstens Spanien schiebt Deutschland nichts in den Hintern, sondern versohlt der blutarmen Löw-Truppe selbigen mittels eines historisch denkwürdigen 6:0-Sieges.

Ich habe mir noch andere Dinge notiert diese Woche, zu denen es etwas zu sagen gäbe. Doch wer interessiert sich schon für ein sich über die Umweltsauereien der anderen aufregendes Klima-Mädchen, das in einer Talkshow weiße Plastik-Sneakers und eine weiße Kunstfaserjoppe trägt? Oder über das andauernde Impfstoff-Verwirrspiel, in dem jetzt irgendeine “Gaby” schuld an allem sein soll? Oder dafür, dass jetzt sogar in Hannover eine Querdenker-Demo sein soll, die dummerweise niemand sieht?

Eben, deshalb ist jetzt auch gut für diese Woche. Die nächste Verlängerung der Corona-Maßnahmen wird schließlich schon wieder von den Dächern gepfiffen. Deshalb wohlan, ihr kleinen Spatzen – seht zu, dass ihr euch in Sicherheit bringt. Es wird ein langer, harter Winter.

Nachtrag:

Zu Redaktionsschluss erfahre ich noch, dass meine vor sieben Tagen aufgegebene Zimmervermietungsanzeige 1.125 Besucher hatte. Ungefähr 100 davon haben sich per E-Mail gemeldet, leider haben viele ihrem Einzeiler keinen Namen beigefügt. Es gibt also doch noch Bewegung und Veränderung, trotz Corona-Starre. Wer oder was auch immer sich da draußen bewegen mag ...

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