Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 39

Das etwas andere Logbuch Tag 267 deutet wieder eine Zuspitzung der Situation an.

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Aus Richtung der Zugspitze. Die Bayern reiten voran, die Sachsen gleich hinterher. Sind beides Freistaaten. Schon seit Napoleon. Und ganz so wie im Mutterland Napoleons soll es jetzt auch bei uns wieder restriktiver werden. Erstmal jedoch muss die Technik funktionieren, also gibt es in meiner Firma erneut eine Mitarbeiterschulung. Online natürlich. Und da wir die Weltmeister der Verwaltungsprogramme sind, lässt man sich auch im Bereich Home-Schooling nicht lumpen. Wo andere Bildungsträger mit einem E-Learning-Tool hinkommen, sind wir mit zweien – genau genommen sind es sogar drei – dabei. Leider muss der Webinar-Leiter schon beim zweiten Tool passen. So lieblich der in den Kameraausschnitt hineinprojizierte Cartoon-Klassenraum auch aussehen mag, so wenig kann das Bildchen davon ablenken, dass der Mann immer öfter hilflos nach unten blickt. Dorthin, wo eine Kladde liegen könnte, auf der er sich Notizen gemacht haben könnte. Kann er die jetzt nicht mehr entziffern? Oder versteht er sie nicht, weil eine Mitarbeiter*in sie für ihn vorbereitet hat? Ohne jetzt ins Detail gehen zu wollen, für alle mittlerweile Homeoffice-gestählten Leser*innen nur soviel: Wenn ich als Coach eine Gruppe einladen will, muss ich über ein anderes Programm erstmal eine Teilnehmer-Liste generieren, um danach irgendwen in der IT-Verwaltung anzumailen. Der wiederum muss die Teilnehmer meiner Gruppe einladen und mir die Zugangsdaten für einen Schulungsraum zukommen lassen. Dieses Prozedere dauert in der Regel nicht länger als 24 Stunden, versichert unser Webinar-Leiter. Darüber hinaus gibt es neben unserer digitalen Lernbibliothek noch eine App, die Quizzspiele bereithält. Viele Kollegen kommen hier gar nicht hinein, andere stöhnen und fragen, warum man nicht alles über ein Tool abwickeln und wie gewohnt irgendwelche Lernspiele von YouTube benutzen könne. Der Webinar-Leiter ist endgültig raus und übergibt an eine Kollegin – ich hingegen bemerke, dass bereits eine Stunde ohne essenzielle Wissenserweiterung vergangen ist und verlasse den Raum. Jedoch nicht, ohne vorher im Chat den Ratschlag zu hinterlassen, dass Microsoft nicht mehr zeitgemäß sei – von den gravierenden Sicherheitslücken ganz abgesehen – und man lieber auf ein Programm wie iServ umsteigen sollte. Hier beispielsweise können alle Teilnehmer von Anfang an in einer Gruppe zusammengefasst sein, die bei Bedarf mit einem Mausklick komplett zur Schulung eingeladen werden kann. Statt 24 Stunden dauert das nur drei Minuten.

Schade, dass Loriot und Evelyn Hamann nicht mehr leben. Wie hätten die beiden in ihrer Online-Verkäuferschulung wohl maus- von steingrau unterschieden?

Es gibt natürlich auch noch normale Erledigungen diese Woche. Unter anderem läuft meine bisher erfolglose Untermietersuche unvermindert weiter. Die Anfrage der Woche kommt diesmal von ...

Petric Futon: Guten Tag Herr Abée, ich würde gerne die Wohnung kaufen. Kommt es überhaupt in Frage? Viele Grüße ...

Ich: Sorry Petric, weder Wohnung, noch zu verkaufen. Bitte Anzeigen richtig lesen.

Auch keine konstruktivere Antwort fällt mir ein für ...

Karl Karrusell: Ist diese Anzeige noch gültig? …

Ich: Ja. Wieso?

Eigentlich möchte ich mich mehr diesen kleinen, skurrilen Alltagsthemen widmen, doch die Politik lässt es nicht zu. Nach dem bayrischen Corona-Leader werden nun auch weitere Stimmen laut. Auch andere Länder haben einen Großkopf, der in Krisensituationen vor die Mikrofone tritt und den Ausnahmezustand verhängt – und wir haben nun leider 16 Präsidenten und eine Kanzlerin. Welch elender Nachteil einer Föderation! Diese Woche meldet sich nun der zweite Freistaatler, Michael aus Sachsen zu Wort: Wir müssen dieses Land zur Ruhe bringen. Wir haben es versucht mit milderen Mitteln und sehen, dass diese Instrumente nicht greifen.

Die Tonalität wird griffiger, die vor Corona über Jahrzehnte antrainierten Weichspül-Worthülsen werden außer Dienst genommen. Freistaaterei hin oder her, jetzt muss ein Linie her, Einheit in der Gesinnung und Zweifelsfreiheit im Durchgriff. “Dieses Land zur Ruhe bringen” kann diese Polit-Kohorte ganz sicher nicht. Der blau-weiße Markus träumt in aller Öffentlichkeit gar von einer “Kontrolle” über das Virus. Verstanden hat er offensichtlich noch immer nicht viel. Ein Virus lässt sich nicht unter Kontrolle bringen. Man kann es studieren, bekämpfen, versuchen, es ins Leere laufen zu lassen oder im besten Falle vernichten. Dabei muss man immer damit rechnen, dass sich auch das Virus etwas einfallen lässt – zum Beispiel, zu mutieren. Und bisher hat sich Meister Covid als sehr widerstandsfähig erwiesen. Ob er sich nun gerade von der jüngst angelaufenen Impfstoff-Kampagne beeindrucken lässt, bleibt überaus fraglich.

Leider lässt in solchen Phasen immer auch das selbstständige Denken in der Bevölkerung dramatisch nach. Oder offenbart sich lediglich, dass dieses selbstständige Denken bei vielen Menschen eigentlich nie vorhanden war? Alltägliche kleine Erledigungen entwickeln sich gelegentlich zu ungewollten Feldstudien, die nicht selten im Spießrutenlauf enden. So schaffe ich es diese Woche, im Aldi-Markt Hausverbot zu bekommen. Mein erstes Hausverbot überhaupt! Dabei bin ich der einzige Akteur, der sich in dieser Szene an die Distanzregeln hält. Wie konnte es dazu kommen?

In unserem Aldi gibt es drei Kulminationsbereiche: Die Einkaufswagenkette (mit nicht desinfizierten Griffstangen), das Kassennadelöhr und die vielen vollgestellten Gänge dazwischen. Ich gedenke, alle drei Hotspots zu vermeiden, indem ich gleich im Eingangsbereich abbiege, und mich fünf Meter von der Kasse entfernt postiere. “Haben Sie den blauen Bantam-Tabak da?”, rufe ich der Kassiererin zu, denn die Rauchwaren lagern ja in verschlossenen Käfigen direkt am Kassenband. “Ja”, ruft sie zurück “aber nehmen Sie erstmal einen Wagen und fahren Sie durch das Geschäft”. Als ich sehe, dass kein weiterer Kunde ans Band kommt, nähere ich mich der Kassierstrecke und sage etwas leiser, dass ich genau das ja vermeiden wolle. Während die Kassiererin mir widerwillig den Tabak aus dem Käfig klaubt, spüre ich den kalten Atem einer älteren Dame im Nacken. Dass ich vor ihr am Band stehe, hindert sie nicht daran, mir ihren Wagen fast in den Rücken zu rammen und ihre Waren auf das Band zu legen. Die fahren nun munter an mir vorbei.

Es ist erstaunlich, wie weit sich eine ältere, nicht allzu hoch gewachsene Dame über einen doch recht voluminösen Einkaufswagen beugen kann. Mittlerweile auf direkte Tuchfühlung gegangen, greift sie an mir vorbei, um ihre Waren vor dem Scanner abzufangen und zu sich zurückzuziehen. Ich weise die Kassiererin darauf hin, dass sie doch besser diese Dame ermahnen möge, den auf sämtlichen Schildern und Bodenmarkierungen geforderten Sicherheitsabstand einzuhalten. Vergebens. Die Kassiererin ist in ihrem Tunnel gefangen, zielt mit ihrem hasserfüllten Blick auf mich, als wolle sie mich erschießen. Nur mich. Denn alte Damen erschießt man nicht, ganz gleich, wie unmöglich sie sich verhalten. Wie auch immer ich mein Handeln zu erklären und Sicherheitsabstände durch Ausbreiten der Arme zu veranschaulichen versuche – am Ende dieser fruchtlosen Auseinandersetzungen bleibt mir zumeist nichts anderes übrig, als pure Dummheit für die Corona-Verbreitung verantwortlich zu machen. Warum sich andere Anwesende in solchen Situationen immer ganz schnell mit den Dummen solidarisieren, das werde ich wohl nie verstehen.

Den Höhepunkt erreicht die Szene allerdings erst, als sich ein völlig überflüssiger Türsteher einmischt, indem auch er mich auf das Fehlen meines Einkaufswagens aufmerksam macht. Übrigens mit dem erhobenen Zeigefinger eines verknöcherten Deutschlehrers, was zu seinem südländischen Teint so gar nicht passen mag. Er könnte etwas Sinnvolles tun, indem er mit einem Zähler die ein- und ausgehende Kundenzahl kontrollieren oder die Wagengriffe desinfizieren würde (es gibt im Jahr 2020 übrigens auch schon die automatisierte Besucherzählung) – doch er zieht es vor, mich zu verfolgen und zu versuchen mich am Arm festzuhalten. Ich weise ihn auf seinen fehlenden Sicherheitsabstand hin – er will mich nötigen, ihm zuzuhören. Beim Verlassen des Ladens höre ich als letztes, dass ich nun Hausverbot bekäme, und bin erleichtert.

Leider gibt es vermehrt auch (ansonsten sehr liebgewonnene) Mitmenschen, die neuerdings ihren vorauseilenden Gehorsam mit voller Wucht in den eigenen fünf Wänden (die Schrankwand mitgezählt) einsetzen. Manch einer erwartet von dir sogar, dass du seine vorauseilenden Gedanken lesen kannst - so erfahren bei unserem Versuch, die weihnachtlichen Einkäufe im dafür wie geschaffenen Sachsen zu erledigen. Unser befreundeter Housekeeper marschiert mit demonstrativ aufgesetztem Mund-Nase-Schutz in meine gelegentliche Dienstwohnung, in der wir zu nächtigen gedenken. Er klärt uns auffallend gereizt darüber auf, dass er nun seine Geliebte nicht hier empfangen könne, da es sich bei den dann Anwesenden um insgesamt vier Haushalte handeln würde, die in den (immerhin vier getrennten) Räumen zugegen wären. Der offizielle Lockdown in Sachsen wird erst am kommenden Montag kommen, der private erwischt uns bereits drei Tage vorher.

Als wir daraufhin den Eltern unseres Housekeepers die ihnen zugedachten Weihnachtsleckereien lieber persönlich vor die Haustür stellen und klingeln, öffnet der 81-jährige Hausherr arglos lächelnd, ohne Maske. Wir winken ihm von der Straße aus zu und wünschen schöne Feiertage. Aus meinen Besuchen im vergangenen Herbst habe ich noch in Erinnerung, dass die Angst vor Corona in diesem Hause nicht übermäßig ausgeprägt ist. Wenn der Umgang mit dem Virus schon innerhalb einzelner Familien so unterschiedlich ausfällt, wie soll das erst eine ganze Gesellschaft hinkriegen?

Ein ARD-Sprecher proklamiert das kommende Sylvester süffisant als “Stille Nacht”. Nach den Erfahrungen, die wir schon in den vergangenen Jahren zum Jahreswechsel machen durften, möge er sich da bitte mal nicht täuschen.

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