Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 43

Das etwas andere Logbuch Tag 295 manifestiert die große Unentschlossenheit der Bundesregierung.

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Und ihre Hilflosigkeit. Man will bei unseren Nachbarn nachfragen, wie deren Erfahrungen bezüglich der sogenannten Hotspots, insbesondere der Schulen, sind. Von irgenwelchen ausländischen Beratern ist die Rede. Als könne man aus den hierzulande gemachten Erfahrungen nicht selbstständig lernen und vernünftige Entscheidungen treffen. Ich erinnere mich an den “Rat der Wirtschaftsweisen” – etwas vergleichbares hätte mittlerweile ja auch in Sachen Pandemie ins Leben gerufen werden können. Unseren Impstoff brüderlich mit den EU-Nachbarn zu teilen ist eine grundsätzlich löbliche Idee. Eklatante Verteilungsfehler und -engpässe dadurch relativieren zu wollen hingegen ist eine weitere Peinlichkeit aus dem Hause “Kanzleramt”, das mich übrigens an einen Wüstenpalast erinnert. Lediglich die vergoldete Kuppel fehlt. Aus Hamburg höre ich, dass auf dem Messegelände Kapazitäten für 7000 Impfungen pro Tag vorgehalten werden, man derzeit jedoch mit Impfstoff für lediglich 500 Impfungen auskommen müsse. Ob Geimpfte bei eigener Immunität weiterhin ansteckend sein können, weiß niemand, auch in diesem Palast ohne vergoldete Kuppel nicht. Wenn man so vieles nicht weiß und so viel Zeit scheinbar tatenlos oder zumindest völlig ineffizient hat verstreichen lassen, ist das ständige Verkünden neuer Regelungen zugegebenermaßen die beste Ablenkungstaktik. Die fehlende goldene Kuppel verdient man sich damit natürlich nicht.

Großtante Dorle, die mit ihren 103 Jahren jeden Abend ganz tapfer die Tagesschau verfolgt, kann nur mit dem Kopf schütteln: “Die Alten zuerst impfen? Die sollen mir bloß wegbleiben mit dem Zeug. Warum fangen die nicht bei den wichtigen Menschen an? Familien, Kindergärten, Personal in Schulen und Krankenhäusern? Mit Menschen, die wichtiger sind als ich. Man hat sogar gehört, dass Ärzte und Schwestern gar nicht erst getestet werden, wenn kein Impfstoff da ist. In meinem Heim hier waren neun Fälle und niemand ist gestorben. Und wenn es mich erwischt, dann will es der liebe Herrgott so. Als Baby habe ich die Spanische Grippe überstanden, dann haben wir von allem zu wenig gehabt, wurden ausgebombt, mussten fliehen, hungern und frieren. Es gab schlimme Geschichten und viele, die es nicht geschafft haben. Aber die Anderen? Sind doch prächtig geraten.

Und jetzt denken alle nur an einen Impfstoff, damit sie sich wieder am Skilift drängeln können, ohne von der Polizei bestraft zu werden. Die sollen sich besser in Acht nehmen, Abstand halten und sich ordentlich im Freien bewegen. Ohne diesen ganzen Schnickschnack. Und diese vielen dicken Menschen, die es heutzutage gibt. Wenn sie im Fernsehen diese überfüllten Corona-Stationen zeigen, sind da auch immer ganz viele von zu sehen. Die Ärzte und Schwestern tun mir Leid! Und verstehst du, Junge, warum sich diese Fußballspieler immer noch verschwitzt und keuchend umarmen, und dann die Trainer noch mitmachen, während die Betreuer alle Masken tragen und die Tribünen leer sind? Dann erzählen sie der Presse ganz heldenhaft von ihren Corona-Problemen. Man merkt, dass die nie im Krieg waren und gar nicht wissen, was Probleme sind. Denen geht es noch viel zu gut. Die kriegen schon viel zu viel Geld – und dann noch solche Sonderrechte?”

Stundenlang könnte die Großtante so weitermachen. Von den meisten jüngeren Menschen in ihrem Umfeld wird sie nicht ernst genommen. Wie erwartet wird der sogenannte Lockdown verlängert, während besagte Fußballer direkt nach der Weihnachtsfeier mit wie vielen Haushalten auch immer so früh wieder spielen müssen, dass ich den Ligastart 2021 verpasse. Auch verstehe ich noch immer nicht, warum manche Läden ganz geschlossen bleiben müssen, während andere permanent geöffnet haben. Großtante Dorle hat auch hierzu Ideen, die natürlich völlig spinnert sind: “Die sollen die Geschäfte zwei Stunden früh morgens, zwei Stunden am Mittag und zwei Stunden am Abend aufmachen. Die Menschen bekommen wöchentlich Lebensmittelmarken für das, was sie für sich und ihre Familien brauchen. Dann müssen sie Einkaufstermine vereinbaren, bei denen sie sich alles mitnehmen, was sie für eine Woche brauchen. Wenn sie was vergessen haben sie Pech. Die sehen auch alle nicht so aus, als wären sie kurz vor dem Verhungern. Gucken immer nur auf ihre Handys, keiner hat eine Einkaufsliste. Im Fernsehen sehe ich auch, wie sich die Leute an den Kassen mit fast leeren Einkaufswagen drängeln. Stimmt das, Junge, dass jeder so ein Riesending nehmen muss, wo dann fast nichts drinliegt? Müssen die für drei Sachen überhaupt in den Laden? Und gibt es da nicht heute so Lichtdinger, die die Leute von alleine zählen? Die Frisöre machen sie zu, obwohl die schon immer Einzeltermine gemacht haben. Das Fernsehen sagt nichts darüber, ob die Frisöre im Sommer auch solche Hotschpots waren. Naja, viele Männer laufen draußen heutzutage ja anscheinend überall in ihren Schmuddelhosen und Plastikturnschuhen rum – sehen die eben auch obenrum ungepflegt aus. Manchmal bin ich ganz froh, dass ich nicht mehr jung bin. Und was ausgerechnet die Kinder noch in der Schule sollen, wo sie dort doch sowieso nicht mehr gescheit lesen und schreiben lernen, verstehe wer will …”

Man darf Großtante Dorles Worte nicht auf die Goldwaage legen. Doch so, wie sie meine Zeit noch miterleben darf (oder muss), würde ich doch zu gerne mal in ihren Jahren

von 1920 bis 1960 Mäuschen spielen. Wenn es ganz dumm kommt, erleben vielleicht auch wir eine unselige Abfolge von Pandemie, Wirtschaftskrise, Inflation und Krieg – dann schon lieber Mäuschen spielen und irgendwas daraus lernen. Oder sich zumindest schon einmal mental damit auseinandersetzen.

Viele Mitbürger meinen übrigens noch immer, kleine Kinder müsse man nicht an Pandemie-Bedingungen gewöhnen. Dazu eine neue Folge meiner Lieblings-Soap “Heute in der Bäckerei”: Aktuell dürften zwei Kunden gleichzeitig rein. Vor mir drinnen sind eine Frau und ein Mann mit Kleinkind auf dem Arm. Alle bis auf das Kind tragen Masken. Die Frau kommt raus, ich darf nicht rein. Schließlich seien der Mann mit dem Kleinkind zwei Kunden. Merkwürdig, sind doch beide zuvor auch reingegangen, obwohl bereits eine Kundin anwesend war. Beim Eintreten war es scheinbar nur ein Mann mit Lebendbündel, das stande pede erst im Verkaufsraum zum gültigen Menschen geworden ist. Eine Maske aufsetzen braucht es trotzdem nicht. Als ich das gegenüber der Verkäuferin anspreche, bemerkt sie schulterzuckend, dass Kleinkinder durch einen Mund-Nase-Schutz wohl Atemenot bekämen. Was für einen Blödsinn manche doch als Argument für die Duldung äußerst fragwürdigen Verhaltens ins Feld führen. Aus vergangenen Einkaufserfahrungen heraus belasse ich es bei dem Hinweis, dass “wir Alten” wohl eher Atemnot bekämen, um dann ganz schnell die hier erhältlichen Brötchen über den grünen Klee zu loben. In der Öffentlichkeit bloß keinen Raum zum Denken mehr anbieten, lautet einer meiner Vorsätze für 2021.

Großtante Dorle, mit der ich auch an diesem Tag wieder telefoniere, wundert sich: “Warum muss denn dieser dumme Vater das kleine Kind überhaupt mit zum Bäcker nehmen, wenn es überall so gefährlich ist?” Angesichts des jüngsten Erlasses, nach dem man jetzt auch im Frischluft-Ressort des hannoverschen Maschsees Mund-Nase-Schutz tragen muss, während Abschlussklassen an Schulen sich ab kommendem Montag wieder mit 15 Leuten in einem Raum herumdrücken sollen, kann ich Großtante Dorle die Welt, in der wir seit Monaten leben, nicht mehr erklären.

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