Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 44

Das etwas andere Logbuch Tag 302 bringt den Stubenarrest für fast alle Schüler in Niedersachsen.

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Raus aus den Ferien, ja, aber auch raus aus dem Pyjama? Ganz anders sieht es bei meinen Auszubildenden in spe aus: ihr Kurs füllt sich diese Woche. Ob es daran liegt, dass sie keinen Arzt mehr finden, der ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellt?

Wenn die Gegenwart gerade mal keine richtigen Helden anzubieten hat, dann kommen Figuren aus der Geschichte gerade recht. Sophie Göing (nein, da gehört kein “r” hinein, auch wenn ihr Mann Herrman heißt, und nein, auch da gehört kein zweites “n” hinten dran) ist eine von ihnen. Vor genau 100 Jahren soll die couragierte Gründerin ihre “Vorratskammer” ins Leben gerufen haben. Bei Wikipedia findet man sie leider nicht, was immerhin besser ist als ein Fake-Eintrag. Alles ging recht unauffällig los: Während andere Bäckereien einfach Absperrband um ihre Sitzgruppe drappierten, platzierte man auf Frau Göings Frühstückstischen schon vor Monaten kleine Pappkärtchen mit dem unterschwellig subversiven Test “Dieser Platz ist vom Gesetzgeber nicht freigegeben”. Nun wurde nachgelegt. Ein kleiner, reich gedeckter Tisch steht vor der gesperrten Sitzecke. Darauf finden sich unterschiedliche landwirtschaftliche Produkte wie Honig, Eier, Mehl und Konfitüren sowie gebrandete Stoffbeutel. Wenn schon kein Merchandising bei Konzerten, dann wenigstens hier. Ich muss an die Erinnerungen von Großtante Dorle denken. Auch Sophie Göing hatte den ersten Weltkrieg und die spanische Grippe überstanden – Wirtschaftskrise und Inflation sollten erst noch kommen – als sie in einem Vorort von Hannover ihre “Vorratskammer” eröffnete. Mit so etwas übersteht man jede Krise, wird sie sich gedacht haben, essen und trinken müssen die Menschen immer. In nur hundert Jahren ist aus dieser Vorratskammer eine Backwarenkette geworden, die jahrelang mit dem Slogan “Go Göing” warb. Aus dem Vorort Isernhagen ist eine ebenso wohlhabende wie langweilige Ansammlung von schlauchartigen Dörfern geworden, in der allerlei Profiteure leben und wo man als Fremder besser nicht versucht, Fuß zu fassen. Außer, man hat Geld. Das Geld der Isernhagener interessiert mich nicht, aber ihre Pferde könnte man als letzte Notration auch dann noch schlachten, wenn den Berlinern schon lange das Dönerfleisch und den Hamburgern der Krabbensalat ausgegangen ist. So gesehen können wir in Niedersachsen zuversichtlich sein, jede drohende Krise zu meistern, Agrargüter haben wir in Hülle und Fülle. Seit dieser Woche hat Sophie ihre eigene Website. Dort ist nachzulesen, dass es doch eine schöne Tradition sei, bei seinem Lieblingsanbieter alles zu bekommen, was man benötige, anstatt in diesen unsicheren Corona-Zeiten nach dem Bäcker auch noch in den virenverseuchten Supermarkt zu rennen. Die Tankstellen legen schon seit Jahren vor, Elektroartikel (zumindest Elektrowecker) bekommt man in diesen Tagen nur beim Aldi, Friseure machen illegale Hausbesuche, Zeitungen und Tabakwaren sind “systemrelevanter” als Bücher und Unterhosen und aus Bayern kommt die Idee, alle sollen jetzt die teuren Wegwerfmasken tragen und Straßenbahnen am besten ganz den Betrieb einstellen. Ist doch klar, dass die Tante-Emma-Bäckerei an fast jeder Ecke jetzt ihre Chance gekommen sieht, sich für die jahrzehntelang durch andere Anbieter zugefügte Schmach zu rächen. Und um zum Bäcker zu kommen, braucht‘s noch nicht mal die Tram. Vielleicht haben wir nach Corona ja wieder so viele Lädchen ums Eck wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und alle bieten regionale Produkte an, außer den paar chinesischen Elektroartikeln in der Ecke, in der jetzt noch Frühstückstischen stehen.

Weniger spektakulär aber ebenso systemrelevant sind die neuen Aufgaben, die einige Feuerwehrmänner und Soldaten haben. Die roten Helfer organisieren die Impfungen in Seniorenheimen und die olivgrünen wieseln, geschützt mit Mund-Nase-Schutz, zwischen unmaskierten Gesundheitsämtlern herum und helfen beim Zusammentragen und Bearbeiten von Testergebnissen. Zu den neuen Zahlen, die wir tagtäglich auswendig lernen sollen, gehört neuerdings auch die Zahl der Geimpften. Was die bringen soll, wenn die meisten von ihnen in Seniorenheimen leben und draußen in der freien Wildbahn nie anzutreffen sind, weiß ich allerdings nicht. Oder soll ich mir nun tagtäglich ausrechnen, wann ich mit der Impfung dran sein könnte? Dieser Kick wird nun aber auch ausgereizt wie – ja, wie was eigentlich? Großtante Dorle würde jetzt bestimmt wieder eine Analogie zum ersten Bohnenkaffee nach dem Krieg oder zur ersten D-Mark nach der Währungsreform einfallen.

Mich erinnert das eher an die Nummer mit dem Maßband, von dem Wehrpflichtige jeden Tag ein paar Millimeter abschneiden. Dieses Prozedere verfestigt alleine schon durch seine ritualisierte Redundanz die trügerische Annahme, dass das, was nach dem Wehrdienst kommen wird, so viel besser sein müsse. Wie auch immer, an Zahlen kann man sich offensichtlich stets gut festhalten. Egal ob niedrig oder hoch – in Deutschland herrscht die Meinung vor, dass man von allgemein aufgestellten Zahlenmustern auf die persönliche Relevanz schließen kann.

Zum Impfstoff selbst fällt mir noch ein Phänomen ein, das ich aus der Werbung kenne: Durch Verknappung wird eine erhöhte Nachfrage erreicht. Egal, um was für ein Produkt es sich handelt – wovon es zu wenig gibt, das wird begehrt. Vorausgesetzt, man kommuniziert das Produkt und die Knappheit desselben so massiv wie möglich über alle verfügbaren Kanäle. Ist es womöglich pures Marketing, das sich hinter der abenteuerlichen Engpass-Strategie der Bundesregierung verbirgt? Egal, wenigstens hätte ein solches Vorgehen nichts mit Verschwörungspraktiken zu tun.

Auch wenn man keine Nachrichtensendungen und Corona-Specials verfolgt, kann einem das Polit-Spektakel nicht ganz verborgen bleiben: Irgendwelche Lautsprecher, teilweise sogar aus der zweiten oder dritten Reihe, nicht einmal mit besonderen Posten ausgestattet aber nah genug an den Medien, verbreiten ihren persönlichen Meinungsunfug und das Volk redet darüber. Jetzt doch zwei Wochen Total-Lockdown? Öffentliche Verkehrsmittel komplett lahmlegen? Ausgangssperren? FFP2-Masken-Kauf- und Wegwerfzwang? Ich hätte da auch noch ein paar Ideen zu, aber die verkneife ich mir besser.

Zum Wochenausklang flattert eine Trompete ins Haus, die musikalische Reise von “Liquid Words” geht weiter. Auch an dieser Stelle möchte ich allen beteiligten Musikern, von denen ja keiner auftreten darf, für ihre Hilfe und Kollegialität danken!

Ein denkwürdiges Novum gibt es auch im Sport: Mit 32 Nationen sind pünktlich zur Pandemie mehr Teilnehmer als jemals zuvor zu einer Handballweltmeisterschaft nach Ägypten eingereist und die sportlich relativ unbedeutenden “Kapverdischen Inseln” verursachen am Sonntag den ersten Spielausfall der Handballturniergeschichte. Da außer Sportlern, Betreuern und Funktionären in der Öffentlichkeit niemand mehr sämtliche Distanzregeln brechen darf, sind es die Sportler logischerweise auch, die weiterhin Geschichte schreiben dürfen: Tasmania Berlin darf weiterhin Sieglos-Rekordhalter der Fußballbundesliga bleiben, weil Schalke endlich mal gewinnt, Stürmer Finn Bartels von Holstein Kiel wird zur Identifikationsfigur für ganz Nicht-Bayern-Fußballdeutschland, indem er die Münchener in einer Corona bedingt nachgeholten zweiten Runde aus dem DFB-Pokal schießt und – naja, nicht ganz so heldenhaft: Handball-Deutschland wirft zehn imaginäre Tore gegen die Kapverdischen Inseln, ohne überhaupt auf die Platte zu müssen. Unabhängig von dem katastrophalen Umstand, dass unsere Kultur derzeit insgesamt noch kaputter gemacht wird, als sie ohnehin schon ist, könnte man es durchaus als Skandal ansehen, dass der Fußball weiterhin profitieren darf. Nicht zuletzt dank der Fernsehgelder. Obwohl viele sportliche Zusammentreffen Corona-Hotspots sind. Vorbildwirkung? Dass über die permanente Verletzung der Maskenpflicht und Abstandsregeln hinaus wie eh und je geflucht, gerotzt und ohne Taschentuch die Nase geleert wird, scheint nicht unter “unvorbildlich” zu fallen – doch wenn im Eifer des Gefechtes einem Spieler ein “Scheiß-Afghane” rausrutscht, verursacht das gleich wieder einen riesigen Rassismus-Aufruhr. Ja, was hat man als Folge leerer Stadien denn erwartet? Natürlich hört man das unflätige Gefluche jetzt mehr denn je. Lasst die Vereine die Meisterschaften und Pokale doch ohne Fernsehpräsenz auf ihren Trainingsplätzen ausspielen. Das würde auch die aberwitzigen Betriebskosten einsparen und nach dem Spiel würden es persönliche Entschuldigungen für im Eifer des Gefechts geäußerte Beleidigungen auch tun. Natürlich ohne Shakehands oder Bussis.

Wenn die Bayern in diesem ganzen Zirkus sowieso am meisten kassieren, dürfen sie für unsere abgepressten Fernsehgelder gerne auch mal Tore kassieren. Und wenn ich schon zahlen muss, dann gucke ich auch – Gitarre üben oder Texte schreiben kann man dabei ebenso gut wie ohne Fußball. Und an die notorische Unsportlichkeit der Bayern, keinem Gegner den verdienten Sieg oder auch nur ein einziges Tor zu gönnen, geschweige denn ihm zu gratulieren, habe ich mich auch schon lange gewöhnt. Den Sittenwächtern im Lande sei gesagt: Wenn ihr Vorbilder wollt, dann sucht euch für die mediale Erziehung der Bevölkerung etwas anderes als ausgerechnet den Fußball.

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