Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 47

Das etwas andere Logbuch Tag 323 bringt wieder Schnee.

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Zumindest ein kleines bisschen. Schnee erinnert mich stets an die Kindheit. Unwillkürlich. Wenn es schneit, erfüllt mich Freude und ich muss hinaus. Wenn der Schnee liegen bleibt, fühle ich mich geborgen. Geborgener als im Frühling, wenn das Blühen beginnt, und geborgener als im Hochsommer, wenn die Sonne lockt. Denn der Schnee scheint alles zu beruhigen, macht aus Schmutz Reinheit und lässt Anfang und Ende miteinander verschmelzen. Schnee gibt mir das Gefühl, dass alles gut wird, ohne dass ich irgendetwas dafür tun muss – dass sich alles fügt, wie die Schöpfung es vorgesehen hat. Was der Schnee bei mir auslöst ist wichtiger als alle anderen Gefühle, die sich in diesen Tagen melden. Menschen, die Schnee nicht mögen, kann ich nicht verstehen. Bei Menschen, die immer nur Sonnenschein haben wollen, weiß ich nicht, ob sie die Natur lieben. Doch Menschen, die den Schnee nicht mögen, müssen wohl Menschen sein, die auch die Natur nicht lieben.

Der Winter ist die beste Jahreszeit für Geschichten am Kamin. Was ist wahr, und was nicht? Will man überhaupt noch Wahrheiten, wenn sich in diesen wie in anderen Zeiten so viele unglaubliche und unglaubwürdige Geschichten ereignen?

Genossin Stefanowa ist Apparatschik. Sie hat ein Herz, aber nur unter vier Augen. Nach außen vertritt sie stets die harte Linie. So auch in diesem Winter, in dem nach der Seuche der Schnee kommt. Ich möchte nicht mehr hier im Lager mit den Verhafteten arbeiten, mit den bereits Infizierten und von der Gesellschaft Abgehängten. Und ich habe eine alte Dame, um die ich mich kümmern muss. Stefanowa zeigt sich gerührt davon, dass ich mir Sorgen um mein Mütterchen mache, doch Disziplin sei ihr heilig, fährt sie fort. Lange hätten wir nun schon an der Westfront durchgehalten, allen Viren und Wirren getrotzt, selbst die höchsten Influenzawerte mit unseren billigen Schutzmasken überlebt, jetzt dürften wir nicht klein beigeben, beschwört sie uns mit hochrotem Kopf. Mein Kamerad und ich haben Angst. Wir fühlen uns wie Leibeigene, die von der obersten Heeresleitung vergessen wurden. Einer Leitung, die selbst schon längst im sicheren Bunker sitzt. Wir wollen nach Hause und erinnern die Genossin daran, dass unsere Kampflinie heutzutage die “elektronische Front” und unser Schützegraben das Homeoffice sei. Doch das zählt für Stefanowa nicht. All unsere Technik scheint nur der kabellosen Überwachung und den zu erstellenden Protokollen zu dienen, die uns tagtäglich mehr in Schach halten, als die uns anvertrauten Menschen. Denen wird nur das nötigste an Technik zugestanden. Ringsumher sind alle Erziehungslager bereits verlassen, doch Stefanowa scheint es auf einen mutterländischen Orden abgesehen zu haben. “Damals in Sibirien, da hatten eure Großväter keine Smartphones mit mobilen Daten”, wettert sie, “die hatten ein paar Bögen Karton aus den Lebensmittelpaketen, etwas schwarze und rote Tusche aus der Feldpostausrüstung, eine stumpfe Nagelschere und zu Weihnachten eine handvoll Gänsefedern. Und was hatten sie zu Ostern? Ein komplettes Doppelkopfspiel, selbst gezeichnet und geschnitten, ohne Lineal. Wie gedruckt sah das aus”. Dummerweise hat sie an diesem Punkt recht, ich selbst habe dieses Spiel als Kind bei meinem Großvater gesehen. So ist sie, unsere “Last Matroschka standing”, diese kleine, kluge Frau aus dem Bauch der großen Mutter Stussland, die auf alles eine parteilinientreue Antwort hat. Kleiner als sie sind nur wir beide – Genosse Petrowski und ich – unsere Klugheit verblasst neben der ihren. Weder eine telegrafierte Anordnung der Heeresleitung, die Pjotr aus dem Ärmel zaubert, noch mein ausgekügelter Fernüberwachungsplan mit täglichen Motivationsübungen kann Stefanowas Herz erweichen.

Plötzlich kommt uns, ganz unerwartet, das Telefon zu Hilfe. Am Hörer ist Genossin Brummerowa aus der Zentrale, die unsere Unteroffizierin sofort zur Rede stellt. “Bei euch sind die Infektioneraten doch so hoch ...”, höre ich noch, bevor die wendige Dienststellenleiterin mit dem Telefon in ihrer Dienststube verschwindet. Als sie uns wieder zu sich zitiert, hat sich der Generalstabsplan um 180 Grad gedreht: Wir erhalten den Abmarschbefehl noch für denselben Tag. Wie wir die Notverbindung zu unseren Schutzbefohlenen aufrechterhalten können, das interessiert die Genossin schon nicht mehr und unseren Kommunikationstest mittels neuerer japanischer Technologie quittiert sie mit kollegialer Gleichgültigkeit. Sie würde die Stellung alleine halten, verkündet Stefanowa abschließend, dann ist die Besprechung beendet. Wir entlassen unsere verdutzten Lagerinsassen, nur mit Smartphone bewaffnet, in ihre Einzelzellen, wo im günstigsten Fall ein veralteter Rechner auf sie wartet. Hier gibt es weder stabiles Netz noch doppelte Sicherung, das Überleben funktioniert nur, solange der mobile Datenvorrat reicht.

Ums nackte Überleben geht es scheinbar auch einigen Verwaltungschefs des Gesundheitssystems. Denn während ihr Personal an der Gesundheitsfront noch nicht komplett durchgeimpft ist, haben sie selbst sich bereits an den begehrten Ampullen bedient. Um sich dann wieder ohne zu befürchtenden Feindkontakt in ihr Büro, oder besser noch ihr Homeoffice zu verkriechen. Auch Apparatschiks, aber ein oder zwei Stufe höher und in einem anderen System.

Ob es bei unseren Kleinen auch schon ums nackte Überleben geht, wird nicht verraten. Denn die Gelehrten des Landes tun so, als wüssten sie noch nicht genau, wie ansteckend Kinder nun wirklich sind. Wahrscheinlich wird man das justament dann wissen, wenn es einen Impfstoff für die U16-Generation gibt. Deshalb dürfen sie im Moment auch noch ungehindert ohne Mund-Nase-Schutz herumsabbern und ihr Erziehungspersonal infizieren. Wann hat es eigentlich eine Studie dazu gegeben, dass Kinder durch das Tragen einer Maske stärker beeinträchtigt sind als Erwachsene? Oder dass Sie traumatisiert werden, wenn sie Im Gesicht ihrer Bezugperson einer Maske sehen? Im Bombenkrieg sagt man doch auch nicht “Ach lass das arme Kind doch in der Wohnung, im Bunker bekommt es Platzangst und Atemnot”. Da zerrt man die armen Kleinen selbstverständlich und alternativlos mit, weil es um das wirkliche Überleben geht, bestätigt mir auch Großtante Dorle.

Dass aktuell die täglichen Sterbezahlen noch immer jenseits der 600 liegen, scheint kein plausibler Grund zu sein, Schulen und Kitas komplett geschlossen zu lassen. Weil den Kindern und Jugendlichen sonst Bildung verlorenginge für die Zeit “danach”, heißt es dazu aus offiziellen Quellen. Stimmt, der “Spracherwerb” steht auf dem Spiel. Was Eltern heute offensichtlich nicht mehr leisten können oder wollen, müssen tausende von Erziehern schaffen. Als Dankeschön inklusive: Kontakt zu Kindern, die nicht die eigenen sind, und deren Viren. Die Zwei- bis Dreijährigen könnte man eigentlich auch zu Hause behalten, und die Vier- bis-Fünfjährigen könnten als wichtige Lektion ja schon mal lernen, mit Maske und Sicherheitsabstand in der Kita zu spielen. Damit würden sie wenigstens mal etwas lernen, das sie für ihr zukünftiges Leben wirklich gebrauchen können. Ich selbst saß im Kindergarten auch alleine und zufrieden mit meinem Spielzeug in einer abgeschiedenen Ecke, sodass mich meine Mutter beim Abholen fast nicht gefunden hätte. So etwas gibt es heute nicht mehr, denken Sie? Kinder müssen heute von Anfang an permanent Aufmerksamkeit bekommen und vollumfänglich betreut werden? Dann habe ich allerdings noch einen für Sie: Ich stehe wieder einmal beim Bäcker an. Vor mir stehen ein Mann und sein kleiner Sohn, höchstens acht Jahre alt. Als der einzige Kunde den Laden verlässt, schickt der Mann seinen Sohn mit Maske und Brötchengeld hinein. Der wiederum dreht sich um und will, dass der Vater mitkommt. “Nö, das kannst du schon alleine!”, höre ich den Mann sagen und mache darauf aufmerksam, dass doch zwei Personen den Kundenraum gemeinsam betreten dürfen. Er grinst mich an, ich applaudiere. Corona-gerechte Erziehung. Der Junge ist jetzt schon im Laden, alleine. Geht doch, man muss es nur probieren.

Am Samstagabend höre ich aus den Medien wieder die Ermahnung, unbedingt zuhause zu bleiben. Doch diesmal geht es nicht um die Pandemie, sondern um Schnee uns Eis. Pandemiebedingungen machen Schule. Gab es früher die Warnung, sich witterungsgerecht zu verhalten und Acht zu geben, wendet man heute ohne zu Zögern den Imperativ an. Er funktioniert ja wieder bestens, wir sind konditioniert. Man konnte es im letzten Jahr gut beobachten: Nach ungefähr sechs Monaten waren die meisten Mitbürger auf Linie. Die nicht mitmachen wollten wurden als “Querdenker” gebrandmarkt. Zum Glück hat der Schnee seine ganz eigene Magie: Am Sonntag wimmelt es im Stadtwald regelrecht vor Kindern mit Schlitten und Spaziergängern, mit und ohne Hunde. Dass dabei stets der Sicherheitsabstand eingehalten wird, kann ich leider nicht bestätigen. Mit der Intelligenz tun wir uns eben doch noch etwas schwerer als mit dem Imperativ.

Von der Fußballfront gibt es ebenfalls neues Coronaleugnen, sichtbar für Millionen Fernsehzuschauer. Die müssen ja weiterhin zuhause sitzen – und werden mittels ihrer Fernsehgebühren Zeuge des nicht nachvollziehbaren Umstandes, dass in den Innenräumen der Stadien weiterhin nur Stadionpersonal und Sanitäter Masken tragen. Bezüglich der Pyrotechnik jedoch scheint sich das allgemeine Paradigma gerade zu ändern. Wurden die Feuerteufel vor Pandemiebeginn restriktiv aus den Stadien verbannt, scheinen sie nun die besten Freunde der Vereins-PR-Abteilungen zu sein. Ein Bundesligaspieler, der sich angesichts bei Minusgraden am Straßenrand bengalisierender Fans im seinem klimatisierten Mannschaftsbus zu der Bezeichnung “Spacken” hinreißen lässt, wird öffentlich gescholten muss sich entschuldigen. In der Not nimmt man als Fans eben das, was man jetzt noch kriegen kann. Doch wer war eigentlich dafür verantwortlich, dass diese herabwürdigende Äußerung aus dem hermetischen Buskosmos überhaupt in den Medien landen konnte? Ach ja, genau, die etwas unterbelichteten Kicker appen ihre Filme ja ohne nachzudenken irgendwohin. Bespitzelung leicht gemacht, und alle machen mit. Die DDR hätte ihre helle Freude an den neuen Möglichkeit, dummerweise hat sie nicht lange genug durchgehalten. Ebenso Corona-verachtend verhält man sich beim FC Bayern München, indem man den frostigen heimischen Temperaturen in Richtung Katar entflieht. Geld ist eben wichtiger – wichtiger als Vorbildwirkung, wichtiger als Corona-Schutz, und wichtiger als Menschenrechte. Bekanntermaßen werden die in Katar ja mehr mit Füßen getreten als das runde Leder.

Ein Freund prognostiziert, dass wir irgendwann über all das, was gerade passiert, lachen werden. Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen. Ich fürchte, es wird nicht einfach so vorbei sein – schon gar nicht ganz spurlos, als wäre nichts passiert. Doch was wird kommen? Steigt die Insolvenz, wenn die Inzidenz fällt? Steigt die Inflationsrate schneller als die Impfstoffrate? Wird nur noch relevant sein, was das System kennt und anerkennt? Wird die nächste bösartige Grippe-Mutation heruntergespielt werden, damit alles wieder wie vorher wirkt? Wird die kommunikationstechnische Entwicklung, die gerade heraufbeschworen wird (ohne richtig stattzufinden) wieder gestoppt werden? Vor allem fürchte ich: Der Lerneffekt wird sich in Grenzen halten. Wenn sich die Intelligenz nicht jetzt durchsetzt, wie soll sie es dann erst hinterher schaffen, wenn wieder der Konsum regiert und man so tut, als sei “alles gut”?

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