Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 5

Das etwas andere Logbuch Tag 29: Ostertag, Montag, Ruhetag.

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Nur für Bäcker nicht. Die unterschwelligen Trotzreaktionen nehmen zu, gerade hier, wo sich das Personal nicht wehren kann. Obwohl der Innenraum für zwei Kunden zugelassen ist, steht bei meiner Ankunft einer drinnen und der andere draußen. Und zwar sechs, anstatt nur zwei Meter vom ersten entfernt. Purer Protest. Als der erste herauskommt, tritt der Protestler nicht an die Abstandsmarkierung vor dem Tresen – nein, er übertritt die Grenze leichtfüßig. Um sich dann für seine Bestellung halb über den Tresen zu lehnen.

Sonst passiert nichts. Ich bleibe bis auf meinen Mittagsspaziergang zuhause. Heute muss ich mal nichts erleben. Und auch über nichts nachdenken. Von den Büchern, die ich angefangen habe zu lesen, entscheide ich mich für Die Welt ohne uns von Alan Weisman.

Diese phantastische Reise über eine unbevölkerte Erde, entstanden unter Mitwirkung sehr unterschiedlicher Wissenschaftler, zieht einen unwillkürlich in ihren Bann, verbindet sie doch die Zeit vor uns Menschen mit einer Perspektive auf die Zeit nach uns. Dass dieser Planet den Menschen überlebt, darin sind sich die meisten seriösen Forscher einig – wie sie dann aussieht, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen.

Gerade lese ich ein Kapitel über Afrika. Es geht um das Phänomen, dass dieser Kontinent noch heute über die meisten großen Landsäuger verfügt, obwohl hier die Wiege der Menschheit liegt. Die wiederum auf den anderen Kontinenten bereits so viele Arten ausgelöscht hat.

Und es geht um die Verwandschaft der Menschen mit den Schimpansen und den Bonobos. Der HIV-Erreger wurde auch bei Schimpansen festgestellt, nur ist er bei ihnen ungefährlich. Erst im Menschen wurde er zu der tödlichen Immunschwäche, die die afrikanische Bevölkerung stetig dezimiert. Und damit ist man gedanklich doch wieder im Hier und Jetzt. Bei den Viren, die für Fledermäuse ungefährlich sind. Wie sich die Geschichten doch ähneln.

Abends dann ein kleiner Ausflug in die Zeit, in der alles noch so schön unschuldig war. Der Hexer kommt, ein Film, der uns Deutschen fast die Filmrechte für James Bond eingebracht hätte. Ach, wussten wir damals wenig, war alles noch schön schwarzweiß und analog. Wir hatten zwar den Krieg, aber noch kein WM-Finale verloren, Kinski war noch kein inzestiöser Päderast und den Mond hatte auch noch niemand betreten.

Mehr muss heute nicht mehr kommen, auch mein Herz braucht mal einen Ruhetag.

Beim dritten Wallace in Folge an diesem Abend schalten wir aus und gehen schlafen. Damals gab es nur einen Wallace am Stück, im Kino. Und ab den Siebzigern im Fernsehen. Die ganze Familie wurde am Ende zum Miträtseln eingeladen und hinterher hat man tagelang davon erzählt. Es gab weniger, das Wenige aber war intensiver, nachhaltiger. Gutenachtkuss.

Tag 30

Auf dem Weg ins Studio bietet sich mir ein ungewohntes Bild. Alle 50 bis 100 Meter lodert ein kleines Flämmchen auf dem Gehsteig oder im Rinnstein. Als ich eines dieser Feuerchen näher begutachte, stelle ich fest, dass es sich um einen brennenden OP-Handschuh handelt. Manche Brandherde sind schon erloschen, man sieht nur noch einen schwarzen Fleck. Wahrscheinlich von einem Taschentuch, oder, bei den größeren, von einer Atemschutzmaske. Irgendwer handelt hier in Notwehr, vermute ich, und habe auch schon so eine Ahnung, wer das sein könnte.

Als ich im Studio ankomme, piept mein Handy. Auf dem Display erscheint das Foto eines Taschenflammenwerfers, nicht größer als eine Baretta Nano. Darunter steht: “Ich habe zwei davon.” Der Mann bekommt von mir 5000 Corona-Heldenpunkte.

Das musste ja so kommen. Unter den vielen Gefährdern, die hier draußen noch immer unterwegs sind, gibt es leider auch etliche, die grob fahrlässig handeln. In Anbetracht der Hunde und kleinen Kinder, die man gelegentlich auch noch draußen sieht, könnte man ihr Verhalten auch als bewusste Körperverletzung interpretieren.

Man weiß gar nicht, worüber man sich am meisten aufregen soll: Die Ressourcenverschwendung, die sinnlose Müllproduktion, das gedankenlose Wegwerfen auf der Straße statt einer gezielten Entsorgung, die Gefährdung der anderen durch die eigenen Viren oder die Dummheit, zu glauben, dass diese Maßname die eigene Infizierung sicher verhindert. Ich komme zu dem Schluss, dass es die Kombination aus hysterisch egoistischem Selbstschutz bei gleichzeitig rücksichtsloser Gefährdung anderer ohne Rücksicht auf die Umwelt ist. Was auf der Straße liegt, geht mir am Arsch vorbei, im Sinne von #MeineVirenSollenDraußenBleiben.

Vielleicht sollten sie im TV mal andere Hashtags einblenden, zum Beispiel #MeinMüllSchadetAnderen, #MeineHandschuheWerdenImKrankenhausGebraucht oder, auf den ganz niederschwelligen Sendern #IchBinDasVirus.

Mit kommt dieses Bild von Schiffbrüchigen, die sich an Bord hieven, indem sie sich oben hochziehen und unten mit den Füßen von anderen abstoßen, die sie dabei unter Wasser treten.

Wie diese anonymen Handschuhattentäter sich verhalten werden, wenn es einmal richtig heftig werden sollte, mag ich mir gar nicht ausmalen.

Unser Sterne-Koch macht drei Soßen zu den Nudeln. Man kann sie gar nicht alle genießen. Und mindestens ebenso viele unterschiedliche Desserts. Selbst, wenn man einen Nachschlag nimmt, schafft man nur zwei Saucen und zwei Desserts. Mann muss entweder unanständig viel essen, oder irgendetwas entgeht einem immer. Schade – zumal es an den anderen Tagen der Woche entweder gar nichts gibt oder nur schmale Kost. Suppe zum Beispiel. Aktuell, hört man, gibt es öfter Essen. Weil Corona ist und die Kursteilnehmer nicht kommen. Der Koch bildet normalerweise selber aus, deshalb hat er im Moment mehr Zeit und kocht öfter als sonst.

Eigentlich bin ich ja an einem auswärtigen Standort tätig, jetzt aber immer noch auf Kurzarbeit 0. Also nutze ich das Essen hier in der Regionalzentrale, um mir ein paar Informationen zu holen. Doch auch in Woche Nummer 5 gibt's noch keine. Na gut, wenn man mich schon nicht mitarbeiten lässt, dann esse ich wenigstens mit.

Etwas gewöhnungsbedürftig ist es schon, wenn jeweils nur vier Kollegen in einem großen Schulungsraum in unterschiedlichen Reihen sitzen, im Zickzack versetzt, so dass jeweils mindestens zwei Meter zwischen ihnen liegen. Meine Firma nimmt das Kontaktverbot sehr ernst.

Als ich das Zimmer eines Führungsmitarbeiters passiere, frage ich durch die halb geöffnete Tür, ob es schon eine Tendenz gäbe, wie lange wir noch abgeschaltet bleiben müssten. “Mai, vielleicht Juni, oder … “ - “Sankt Nimmerleinstag”, führe ich seinen Satz zu Ende und schalte bereits ab. Dieses Abwarten und Nichtstun, ohne eine eigene Idee zu entwickeln, das kommt mir irgendwoher bekannt vor...

Ja, genau! Nur haben sie da immer auf Material gewartet. Auf was warten wir eigentlich? Auf einen Impfstoff? Der wird nicht kommen, da haben es die Genossen leichter gehabt, aus der Zwickmühle zu kommen.

Also warten alle auf das Wort des Staatsrats. Doch was wird dessen Frontfrau sagen? Zum Thema ist bereits alles gesagt: Das Virus – oder eine Mutation – wird uns noch eine Weile beschäftigen, und dann durch den nächsten Sars oder Covid abgelöst. Wirksame Impfstoffe versucht man seit 20 Jahren zu entwickeln. Ohne nachhaltigen Erfolg.

Als ich aus meinem kleinen Mittagsschlaf aufwache, weiß ich nicht, ob ich das alles nur geträumt habe. Auf jeden Fall bin ich angenehm gesättigt und setze mich wieder unter meine Kopfhörer.

Nächste Woche sind die Schulferien vorbei, ursprünglich sollte ab dann wieder gelernt und gelehrt werden. Aber im Moment scheint die ganze Branche Mikado zu spielen: Wer sich als erstes bewegt, hat verloren. Warten die wirklich alle nur auf einen Startschuss der großen Vorsitzenden – oder wünschen sie sich eine Verlängerung? Meine Bekannte, die Krankenschwester, weiß immer noch nicht, ob und wann sie Prüfung machen kann. Die Schüler*innen meiner Freundin können das für ihr Examen erforderliche Praktikum nicht absolvieren. Wie es in der Schule weitergeht, was mit Abschlussprüfungen ist, weiß auch sie nicht.

Mir fiele zu jedem dieser Probleme eine Lösung ein, doch für deren Umsetzung bräuchten die Bildungsträger Initiative, Kreativität und Flexibilität. Und Chuzpe, Bestimmungen auch einmal etwas zu “dehnen”;-)

Ich bin nur Mitarbeiter, sollen sich doch die Verantwortlichen dazu ihre Gedanken machen.

Und tschüss für heute …

Tag 31

Ein Monat ist um. Sogar ein langer. Jetzt muss sich der Staatsrat aber langsam was einfallen lassen. Man kündigt für heute eine wichtige Runde an und lässt parallel für Schulen schon mal ein “Unlock-Date” durchsickern. Ich habe heute mit drei Schulen zu tun – und endlich sind mal alle Gerüchte deckungsgleich: Am 4. Mai soll's wieder losgehen. Aber wieso gerade der 4. Mai? Ich fänd den 1. besser, man sollte dem Tag der Arbeit endlich mal einen neuen Sinn geben. “Heraus zum 1. Mai”, wie es bei den ehrenwerten Proletariern immer hieß. Weiß doch auch die Vorsitzende – das würde uns vielleicht mehr zusammenschweißen als dieses dämliche Schlange stehen oder “Social distorting”.

Apropos: Beim Fleischer mache ich vormittags (unbeabsichtigt) einen Mitdenktest, leider fallen die Mitarbeiter durch. Das Szenario: Die Markierungen für die Schlange haben einen Abstand von ungefähr einsfünfzig und befinden sich allesamt ungefähr vier Meter vom Tresen entfernt, vor dem in 50 Zentimetern Abstand von der Vitrine eine weitere Sperrlinie ist. Ich möchte das Warten nutzen, um mir das Angebot anzuschauen und stelle mich dafür in zwei Meter Entfernung zum Tresen, so dass ich auch zu allen anderen Kunden mindestens zwei Meter Abstand habe. Nach der zweiten Aufforderung, zurück ins Glied zu treten und meinem Hinweis, dass ich doch den Sicherheitsabstand einhalte (im Gegensatz zu allen anderen Leuten im Laden), verlasse ich das Geschäft. Diese Fleischerei verliert 1000 Corona-Punkte und mich als Kunden. Zum Glück gibt's noch genug Auswahl, zumindest darin unterscheiden wir uns noch vom früheren Osten. In ihrem Verhalten sind viele, die ich treffe, schon ziemlich dicht dran – beziehungsweise schon übers Klassenziel hinausgeschossen.

Zufällig treffe ich meinen direkten Vorgesetzten bei seiner Zigarettenpause. Eine Kollegin hat er noch im Einsatz gelassen, ich soll mich mal nächsten Mittwoch melden. Also noch ein paar Tage Fulltime-Produzent mehr, umso besser.

Ich werde mit einem kleinen Kunstwerk fertig, das ein harte Nuss war. Wieder mal ein Titel von uns, für den es keine Referenz, kein Vorbild gibt. Ich weiß nicht, ob ich das ohne die Offtime hinbekommen hätte. Pünktlich um viertel nach acht bin ich fertig. Zeitig genug, mich von irgendwas berieseln zu lassen. Spät genug, um nicht in die Versuchung zu geraten, Tagesschau zu gucken. Ich werd noch früh genug erfahren, was sich die Politbrigade nun wieder ausgedacht hat.

Von meinem Lieblingsschulkontakt erfahre ich am Telefon, dass bei ihnen das Chaos jetzt komplett sei. “Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin” hatten wir nun vier Wochen lang. Jetzt beginnt die Phase “Stell dir vor, es ist Schule, und keiner weiß wie's geht”.

Ich erfahre von einem Schulungsvideo - welches für alle Kolleg*innen dort Pflicht ist - worin erklärt wird, wie man sich die Hände wäscht. Soviel zum Thema “Wir könn's immer noch”.

So oder so, die nächsten Tage werden bestimmt interessant. Wir haben jetzt so oft ähnliche Szenarien erlebt, dass mir langsam der Schreibstoff und die Lust, rauszugehen, ausgeht. Doch zum Glück gibt es den City Scout. Er hat auf einer seiner Radtouren einen tollen Baum gefunden, aus dem er eine Fischskulptur sägen will, erzählt er mir. Da werde ich doch demnächst mal mit der Kamera mitradeln.

Tag 32

Jedes Schulkind weiß, dass kein Monat 32 Tage hat. Doch auch dieses Wissen ist jetzt überholt. Wir leben in Monat Eins des ersten Corona-Jahres. Die Zahl “32” im Zusammenhang mit dem Kalender flößt mir Angst ein. Für diejenigen, die sich das letzte Wochenende in Freiheit, den 14./15.3., haben versauen lassen, sind es schon 34 Tage.

So absurd diese Zeitschiene anmutet, so bizarr entwickeln sich die Dinge gerade. Auf Bild sehe ich in Riesenlettern: “Was sich ändert”. Weiterlesen muss ich nicht, weiß ich doch schon längst, dass es lediglich um Ladengrundflächen geht. Wenn ich Ladenbetreiber wäre, würde ich die Information aufsaugen wir ein Schwamm. In der Gesamtrelevanz könnte man von einem verspäteten Osterei sprechen.

Die, welche zuhause bleiben, sind vielleicht am glücklichsten, zumindest sehen sie in der Werbung so aus. Möglicherweise sind einige von ihnen schon zum Möbelstück in der eigenen Wohnung mutiert. Oder sie gucken mittlerweile anstatt in den Fernseher lieber in ihre laufende Waschtrommel, wenn sie das neue Spielzeug ihrer Kinder, das die Großeltern gerade geschickt haben, porentief virenfrei waschen.

Es gibt keine lauten Veränderungen mehr da draußen. Sie schleichen sich inzwischen heimtückisch an. Keine Plünderungen, keine Raubüberfälle, auch von häuslicher Gewalt hört man zum Glück nicht mehr als sonst auch. Es ist wie mit der neuen Datenschutzverordnung, die schon lange vor diesem Virus Besitz von uns ergriffen hatte: Man tut so, als wäre alles logisch und plausibel. Ist es aber nicht.

Wir bewegen uns in ein Stadium, in dem die beiden sich verbinden – der Daten- und der Virenschutz. Sie mutieren. Ganz von alleine. Sie werden ein degeneriertes Ganzes.

Einerseits ist es jetzt opportun, dass urheberrechtlich geschützte Werke für einige hundert Schüler kostenlos auf irgendwelchen digitalen Plattformen zugänglich gemacht werden, andererseits wird der Fußboden des zweigeschossigen Megamarktes am Hauptbahnhof (immerhin der letzte Supermarkt, in dem man ohne Wagen oder Korb einkaufen darf!) durch die Datenschutzverordnung geschützt. Dort haben sie vor den Kassen extra gedruckte Klebebänder mit 2-m-Abstandswarnungen auf dem Boden aufgebracht. Doch viel interessanter finde ich die gelbschwarzen Betriebsschutzmarkierungen an der 20 Meter langen Fleischkäsefischtheke, die aussehen wie Coachingzonen im Stadion.

Vor ungefähr zwei Wochen habe ich begonnen, diese aparten Spielfelder, die überall entstehen, fotografisch zu dokumentieren. Vielleicht werde ich die Bilder später, wenn das nächste Virus kommt und sich niemand mehr an 2020 erinnert, als Anleitung zum Selbermachen veröffentlichen. So, wie man den Menschen jetzt per Video das korrekte Händewaschen beibringt. Ich hole mein Handy heraus, schreite die Markierungen ab, um den besten Blickwinkel zu finden, und drücke ab. Am oberen Bildrand sieht man eine Verkäuferin, aber nur von den Füßen bis zum Bauch. Was man nicht sieht, sind ihre Arme und Hände. Die fuchteln in der Luft, während sie ruft: “Fotografieren verboten!” Sogleich echot es von schräg hinter mir: “Die Frau hat gesagt, fotografieren verboten.” Es ist ein unscheinbarer, einsamer Kunde mit seinem Einkaufswagen, der sich unbedingt zu Wort melden muss. “Kein Problem, ich fotografiere keine Personen, nur den Fußboden, keine Veröffentlichung, nur Kunst,” informiere ich in beide Richtungen und gehe weiter.

Beim Herabfahren wartet am Ende des Rollbandes schon ein Security-Mann in Schwarz, Typ “Pascha-Club-Türsteher ”. Er winkt mit dem Zeigefinger wie ein Hausmeister, der einen halbwüchsen Übeltäter vom Schulhof holen will und spricht mich an: “Sie haben ein Foto gemacht? Zeigen Sie das doch bitte mal.” Während ich ein zweites Mal meinen Spruch aufsage, verlangt er von mir, das Bild zu löschen. Ich frage ihn nach der Grundlage für sein Ansinnen, er beruft sich auf eine Haussordnung, die nirgendwo aushängt und ich empfehle ihm, besser die Polizei zu holen. Als er zur Information geht, um die Hausordnung zu holen, simuliere ich das Löschen des Fotos. “Ich hab's gelöscht”, sage ich bei seiner Rückkehr und gehe ein zweites Mal weiter. Er verfolgt mich und will sehen, ob ich das Foto auch wiklich gelöscht habe. “Sie müssen mir jetzt einfach mal vertrauen, ich werde es nicht veröffentlichen, das habe ich doch schon gesagt.” Er beteuert, cool bleiben zu wollen, indem er an seiner Forderung festhält. Besser cool, als durchsetzungsfähig, denke ich. Sicher ist er neu im Geschäft und die Frau an der Information hat ihm Anweisung gegeben, wie er zu verfahren habe. Sonst hätte er nicht dreimal erfolglos Anlauf nehmen müssen. Ich beschwichtige ihn und lasse ihn endgültig stehen.

Hinter der Kasse wartet schon der nächste schwarze Anzug, doch der lässt mich in Ruhe passieren. Glück gehabt!

Draußen sehe ich zwei Polizisten, die zwei Passanten belästigen, indem sie ihnen ohne Masken bis auf 50 cm auf die Pelle rücken. Auf dem Weg nach Hause drehe ich mich noch einige Maile um, es könnte ja sein, dass Mr. Pascha-Club doch polizeiliche Verstärkung angefordert hat. Ist das jetzt schon Pandemie-Paranoia?

Was habe ich falsch gemacht? Gleich der ersten Verkäuferin hätte ich erklären sollen, dass ich Produkte für meine Mutter im Pflegeheim fotografieren und dann nach Einkaufsfreigabe besorgen müsse, da sie mit ihren 90 Jahren leider nicht mehr selbst einkaufen könne. Zumal sie unter Quarantäne stehe.

Zum Abschluss des Tages noch eine ebenso unglaubliche wie schöne Geschichte:

Ein befreundeter Kleinunternehmer in Bremen teilt mir mit, dass sein Soforthilfepaket nicht nur genehmigt, sondern die Betriebsausfallkosten sogar schon auf seinem Konto eingegangen seien. Aus 600 Anträgen seien innerhalb weniger Tage 14 000 geworden,

man habe jetzt wohl einige hundert Aushilfskräfte angeheuert, die mal eben die ganzen Bilanzen prüfen.

Ich freue mich für einen Freund. Ein Monat mit 32 Tagen kann also doch ein guter Monat werden. Und ich verstehe, warum Bremen das höchstverschuldete Bundesland ist. Ob es mit den zugesagten Hilfen für Kleinunternehmer in Söder-Land auch so reibungslos funktioniert?

Tag 33

Endlich sehe ich ein intelligentes Hinweisschild: “Sie sind mit ABSTAND die besten Kunden”, das vierte und das letzte Wort sind rot dargestellt. OK, das Rot, müsste nicht sein, ersteres ist ja schon groß geschrieben, und dass man als Kunde der Angesprochene ist, sollte auch selbsterklärend sein. Aber immerhin: nach so vielen Tagen, in denen man uns vergeblich die Maße 1,5 und 2 Meter zu erklären versuchte, um dann doch besser Markierungen für Analphabeten zu installieren, ist das für mich als Werbetexter eine Erleuchtungen. Und das am Baumarkt. Drinnen lerne ich, dass man sogar für eine einzelne Mutter mit 57er-Gewinde ein Klebchen in Bon-Größe ausdrucken muss. Wer beschwert sich denn da noch über einen Bon für eine ganze Brötchentüte?

Oliver Welke ist heute wieder im TV unterwegs und fragt nach den absurden Kurzfilmchen, die in seiner Sendung über neue Strafmaßnahmen gegen Corona-Sünder gezeigt werden, abschließend noch, ob man alles mitgeschrieben habe. Nein, habe ich nicht. Das, was heute von einem Freund per Email zu den Polizeieinsätzen in Berlin kam, hat mir schon gereicht. Und dass nicht mal unsere politischen Entscheider wissen, wie man sich eine Schutzmaske aufsetzt oder den Mindestabstand einhält, kann mir keine Gefühlsregungen mehr abringen. Ich finde die Leute peinlich und bin froh, dass ich sie nicht gewählt habe.

Der Spargelerntebeitrag bei Welke ist aber wirklich nett – schaut euch die Sendung in der Mediathek an, ich will dem heute gar nicht mehr viel hinzufügen.

Für die, die diesen Text erst später lesen: Schaut mal, ob ihr die heute-SHOW vom 17. April 2020 noch irgendwo bekommt. Die ist fast so gut wie die vom 3. April.

Wenigstens eine gute Nachricht gibt es heute: Wir werden dieses Jahr höchstwahrscheinlich weniger Alkoholvergiftungen von Minderjährigen zu beklagen haben als in den Vorjahren. Die großen Festivals fallen aus. Und soviel Geld, wie die Kids dadurch sparen, kann man für Streaming alleine gar nicht verballern. Es könnte also sein, dass einige Musiker wieder mal etwas mit ihren Produktionen verdienen.

Apropos: Mir fällt zwar nicht die Decke auf den Kopf, dafür aber meine Schallplatten vor die Füße. Es sind einfach zu viele in diesem Zimmer, in dem ich schlafe, esse, schreibe, fernsehe, Musik höre und produziere. Heute muss ich umbauen, und zwar rigoros. Insbesondere, weil am Sonntag eine hochkarätige Gastmusikerin kommt, die einige unserer Werke veredeln will. In unser neues Probe-Studio kommen wir noch nicht rein. In die Kirche, in der wir aufnehmen wollen, auch nicht. Nachdem ich gestern schon mal die Vinyl-Quader anderweitig untergebracht habe, verwandle ich heute mein Zimmer in ein fast schickes Loft-Studio. Deshalb auch der Baumarkt und die einzelne Mutter: An meinem Couchtisch ist ein Rollfuß locker.

Wer hören möchte, was bei uns musikalisch so passiert, ist herzlich eingeladen:

https://soundcloud.com/liquid-words

Mein Tipp für die Zeit danach ist der Titel “Du meinst, wir sollten (… die Straße fegen)”. Bald dürfen wir hoffentlich wieder ganz legal und ohne Gefährdung durch Polizisten ohne Schutzmasken wieder raus, und dann sollten wir Besen mitnehmen.

Irgendwer muss die ganzen Gummihandschuhe ja beseitigen. Der City-Scout mit seinen Miniflammenwerfern alleine schafft das nicht.

Tag 34

Früh am Morgen fahre ich in die um diese Zeit noch menschen- und polizistenleere Parkanlage Herrenhausens, ein Highlight der Stadt. So wie der Maschsee und die Badeseen, die jetzt tagsüber von Vierergruppen fahrradfahrender Blaumützen bewacht werden. Hier aber ist es schön idyllisch, zumindest um neun Uhr morgens. Ich möchte mir die schwimmende Iglu-Installation eines Künstlerfreundes anschauen, ehe sie wieder entfernt wird. An dem Teich vor dem kleinen runden Tempel schleichen lediglich zwei Tierfotografen in Camouflage-Montur herum, bis sich ein Althippie mit weißen Handschuhen und heruntergelassener Atemschutzmaske dazugesellt. Ich informiere die Drei, dass ich gleich ein Foto machen werde, auf dem sie klitzeklein im Hintergrund zu sehen sein werden.

„Na, dieses Ding da muss ja nicht sein“, moniert der Hippie auf das Iglu deutend und fährt fort, dass dies doch ein so schöner Park sei. Ich versuche, ihn auf die Harmonie zwischen der Tempelkuppel und dem ebenfalls runden Land- bzw. Waterart-Objekt hinzuweisen und führe an, dass es ohne derartige Kombinationen von Klassik und Moderne auch keine Städte wie Paris gäbe. Seine Antwort macht mich für einen Moment sprachlos: „Paris ist ja auch menschlich gewachsen.“

Der Tierfotograf muss schmunzeln und ich fahre mit der Bemerkung davon, dass wir den sich daraus ableitbaren Umkehrschluss auf Hannover an diesem schönen Morgen besser nicht erläutern sollten. „Ich habe aber jetzt Lust dazu!“, ruft er mir streitlustig hinterher, da bin ich schon fast auf der anderen Seite, um mein Foto zu machen.

Nach eingehender Begutachtung des Objektes, das auf der Wasseroberfläche zu schweben scheint, steht meine Bewertung fest: 10000 Corona-Kreativpunkte. Bisherige Höchstwertung.

Der Park ist analog. Das macht ihn klar und geheimnisvoll zugleich. Analogie ist Unschärfe, Unwägbarkeit, mit der ständigen Veränderung als einzigem bleibenden Wert. Sobald ich den Park verlasse und in die Stadt komme, werde ich mit den Unzulänglichkeiten und der unbeholfenen Aufgesetztheit der Digitalität konfrontiert. Die Markhalle, die ihrer eigentlichen Funktion, leibliche Bedürfnisse zu befriedigen, heute nicht nachkommt, erniedrigt sich zum Plakathalter für eine Botschaft wie “Niedersachsen hat digitale Wirtschaft”. Oder steht da “Niedersachsens Wirtschaft hat Digitalität”? Ich kann es mir nicht merken, das Eine klingt so sinnlos wie das Andere – was soll das bedeuten? Niedersachsen ist ein Agrarland, die Landwirtschaft bildet die stärkste Interessenlobby. Das musste auch ein Gerhard Schröder verstehen, bevor er Ministerpräsident und dann Kanzler werden konnte. VW mag das Aushängeschild sein, aber die Landwirtschaft ist die Hausmacht. Und weil die wichtigsten Events der Landbevölkerung Schützenfeste sind, gibt es auch in Hannover kein größeres Fest als eben dieses. Es ist das größte Schützenfest Europas – und damit womöglich auch das größte der Welt. Obwohl die Veranstalter selbst über ausreichende Finanzmittel verfügen, schießt die Stadt Riesenbeträge dazu – Geld, das woanders fehlt. Wenn Schützenfest ist, pissen erwachsene Männer von außen an Dixieklos. Geschossen wird zum Glück nicht. Schützenfest ist hier das, was in Köln der Karneval ist, in grün.

Oder entsteht in der Lüneburger Heide heimlich ein Silicon Valley?

Vor meinem Parkausflug habe ich per Suchmaschine einen auf meinem Weg liegenden Penny-Markt ermittelt, in dem ich meine gesammelten Treuepunkte in eine Pfanne ummünzen möchte. Als ich im ermittelten Laden nachfrage, guckt mich der Filialleiter ungläubig an: “Was für eine Aktion sollen wir haben? Sie sind hier im Edeka, das ist seit zwei Jahren kein Penny mehr!”

“Tja, dann sollte mal jemand die Internet-Einträge aktualisieren”, empfehle ich zum Abschied. Noch Fragen zum realen Stand der Digitalisierung?

Um den Bogen zum aktuellen Problem zu spannen: Eine Digitalisierung, die man fromm auf Plakate schreibt, ohne auch nur eine vage Vorstellung von den Konsequenzen zu haben, geschweige denn, zu wissen, wie man sie zielführend umsetzen kann, verhindert kein Corona. Im Gegenteil: Unsummen an Investitionsmitteln wurden im Gesundheitswesen umgeleitet in Datentechnologien, während scheinbar niemand an Masken und Beatmungsgeräte gedacht hat. Und in den Datensätzen wird dann nicht einmal zuverlässig die Infizierungsrate des medizinischen Personals erfasst.

“Digitalisierung” ist zu einem Schlagwort geworden, zu einer Ideologie, die jetzt unaufhaltsam über uns hinwegrollen wird. Jeder, der Skepsis oder Kritik anbringt, wird als gestrig oder Hemmschuh hingestellt – selbst wenn er 30 Jahre digitale Erfahrung mitbringt. Der letzte Bundestagswahlkampf hat es schon angedeutet: “Digitalisierung first – Bedenken second”. Fehlt nur noch, dass die AFD mit der rein rhetorischen Frage “Wollt ihr die totale Digitalisierung?” kommt.

Digitalisierung ist nichts weiter als eine Technologie, die an der einen Stelle sinnvoll ist, an einer anderen jedoch nicht. Das wird leider zurzeit vergessen. Macht man sie zur Ideologie, setzt man sich ihr bedingungslos aus.

Als in Sachsen die ersten Grundschulen die Anschaffung von Tablets für U10-Schüler planten, haben wir in einer Promo-Veranstaltung sechs mögliche Templates für die Gestaltung einer Schülerzeitung und eine Stop-Motion-App ausprobiert. Danach haben wir herzlich über unsere Ergebnisse gelacht.

Ganz ruhig im Raum wurde es, als ich die Promoter fragte, welche Lern-Apps es denn für die Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht gäbe. Es gab keine.

Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.

Leider gibt es in Hannover keine Demos wie in Berlin. Deshalb probe ich den zivilen Widerstand am Ende dieses dann doch wieder viel zu ereignisreichen und langen Tages im Supermarkt. Hier hat man die Kunden mittlerweile gut erzogen: Selbstständig treten sie in ihrer Einkaufswagen-Polonaise an, während es die Gelbweste nicht einmal mehr für nötig erachtet, die Handgriffe zu desinfizieren. Desinfektionsmittel ist eben auch Mangelware.

Ich laufe (natürlich mit zulässigem Sicherheitsabstand!) an der Schlange vorbei und rufe dem Aufpasser zu, dass ich nur eben eine Packung Eis holen wolle. “Nur mit Einkaufswagen”, spult er seinen Klassiker herunter, worauf ich ihn frage, ob er den Handgriff des von mir zu holenden Wagens vorher desinfiziert habe. Er weiß keine Antwort. Stattdessen deutet er mit einem Ausfallschritt an, dass er mich am Ärmel festhalten will. Es bleibt bei der Andeutung.

An der Kasse sitzt eine fröhliche Sächsin. Das höre ich schon vor Erreichen des Förderbandes, während ich versuche, im Zielkorridor mit Sicherheitsabstand an den beiden Regalnachfüllern und ihren Paletten vorbeizukommen. Im Nebengang stauen sich die Einkaufswagen und versuchen, sich in meiner Schlange einzufädeln. Aussichtslos.

Als ich dran bin, sage ich der Kassiererin auf den Kopf zu, dass sie dieses Einkaufswagen-Prozedere doch bestimmt noch aus dem Konsum kenne. “Klar”, reagiert sie schlagfertig und amüsiert, “und bald werden auch die Regale so leer sein wie damals im Osten. Ich weiß gar nicht, was die Leute sich hier denken. Dafür bin ich damals in Leipzig auf die Straße gegangen? Und dann wollen sie hier auch noch den Sozialismus. Gerade die, die gute Posten haben und nicht arbeiten müssen.” Mittlerweile habe ich grinsend bezahlt und mein Eis eingesackt. Sie grinst zurück, der Kunde hinter mir kann oder will nicht mitgrinsen.

Vieles bei uns ist derzeit wie im früheren Osten. Und das nach nur vier Wochen. Hut ab, so schnell haben die Genossen das damals nicht hingekriegt.

Tag 35

Nach unserem Osterfest kommt heute das russische. Wir weihen das neugestaltete Studio musikalisch ein und die Cellistin Elena zeigt mir per Video, wie es derzeit in der Moskauer Metro aussieht. Papa Putin hat alles und alle unter seine Kontrolle gebracht, indem er zuerst einen landessweiten Urlaub verordnet hat und nun Ausgangssondergenehmigungen ausstellen lässt, ohne die man sich draußen nicht bewegen darf. In der Metro sieht das so aus, dass alle durch eine kleine Pforte müssen, die von einem Polizisten bewacht wird. Wenn sie rein wollen.

Drinnen ist ein Menschenvakuum. Eine Fast-Geisterbahn hält in einer Geisterstation, man passiert eine Geisterhalle (Moskau hat majestätische Stationshallen mit Kronleuchtern) und schiebt sich durch besagte bewachte Tür an dem Wachoffizier vorbei. Davor brodelt es, als würde ein Superstar erwartet. Es wird gezetert und gezerrt, wie an der Börse, es ist das reinste Virenparadies. Da muss man in jedem Fall durch– wenn man nicht schon mittendrin ist.

Nicht nur bei uns wird Corona falsch verstanden, ich bin erleichtert. In Russland zeigen sich Dinge, die bei uns zumeist unauffälliger ablaufen, sehr drastisch. Veranschaulichung durch Überhöhung.

Nachmittags radele ich zu unserem Gartenparadies und buddele Löcher für Pflanzen.

Es ist der entspannteste Tag seit vielen Wochen, deshalb möchte dieser kurze Eintrag

primär nur bestätigen: Ja, es gibt diesen Tag – keiner wird vergessen – doch er hat gefälligst unberührt von medialen Belästigungen und menschlichen Unzulänglichkeiten zu bleiben.

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