Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 52

Das etwas andere Logbuch Tag 359 ist Weltfrauentag.

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Unser Befindlichkeitspräsident zündet diesmal kein Lichtlein an, sondern lädt zum Event “Frauen und Digitalisierung”. Wie lange soll die Diskriminierung denn noch weitergehen? Mich erinnert diese Veranstaltung einmal mehr an die DDR: Ist “Frauen und Digitalisierung” ein Nachfolgeprojekt von “Frauen in die Produktion”? Und wird es am Weltkindertag dann um “Kinder und Digitalisierung” und am “Vatertag” um “Männer und Digitalisierung” gehen? Dabei stellt sich abschließend die Frage, wann “Diversität und Digitalisierung” dran ist.

Am Freitag besuche ich eine verfilmte Eröffnungsveranstaltung, auf die mich ein Freund hingewiesen hat. Hannover hat jetzt einen Ort der “Erinnerungskultur”, und der ist so schön gestaltet, dass auch junge Leute Lust auf einen Besuch der hier vorgestellten Menschen aus der NS-Zeit bekommen können. Zu meinem Erstaunen hat unser Städele keine eigene Präsentationsplattform, sondern sendet via Youtube. Einmal mehr werde ich genötigt, dort Mitglied zu werden und Cookies zu akzeptieren. Wirklich “live” wirkt der Podcast leider nicht. Doch wenn man in unserem Städele schon alles auf “Leibnitz” umbenennt, kann man ja auch gleich genau das sein und bleiben, als welches der Meister uns einst bezeichnete: “Welthauptstadt des Mittelmaßes”.

Mit einem neuen Lernort also haben sich die Stadt und einige Kulturzentren im vergangenen Jahr beschäftigt. Wenn der Blick nach vorne verstellt ist, erscheint es barrierefreier zurückschauen. Wundern tue ich mich auch darüber, dass alle 45 vorgestellten Personen hier nur auf Papptafeln hängen. Und dass alle am Event direkt Beteiligten und von anderen Orten aus hineinkopierten Redner und Künstler der Veranstaltung sich im Alter von ca. 20 bis 70 Jahren bewegen. Warum hat man nicht einen einzigen lebenden Vertreter des Hannovers zwischen 1933 und 1945 eingeladen oder zugeschaltet? Sind Archiv-Dokumente interessanter als lebendige Zeitzeugen – insbesondere, wenn die uns nicht mehr so lange bleiben dürften? Altersdiskriminierung, “strukturelle” gar? Falsche Erinnerungen, die man an diesem Ort nicht haben will oder denen man nicht traut? Sollen sich stattdessen junge Menschen, die sich nicht einmal mehr an die RAF erinnern, die Erinnerungen anderer Menschen aneignen, mit denen sie weder bekannt noch verwandt sind? Abgesehen von einigen juvenilen Mitwirkenden, denen leider niemand gesagt zu haben scheint, wie man sich vor einer Kamera präsentiert (liebenswerter Charme der Unbeholfenheit?) und einer Band, bei der zwar die Instrumentalisten, nicht aber die spreadenden Sänger maskiert sind, fällt mir ein Sprachfehler auf, der sich während meiner Abwesenheit vom öffentlichen Leben entwickelt zu haben scheint: Wenn zu oder über Menschen mehrerer Geschlechter gesprochen wird, bauen die Sprechenden einen sonderbaren Stotterer ein. Ob das wohl wieder so eine Modeerscheinung ist, wie Tattoos und weiße Plastikschuhe? Nun ja, ersteres hält ein Leben lang, letzteres nur ein paar Monate. Warten wir es ab.

Zu allem Überfluss taucht in dem Film auch noch eine ”Influenza” (ich mag diese Rap-Schreibweise lieber als die englische, weil sie die virale Gefahr stärker zum Ausdruck bringt) auf. Wir schauen in unser Oxford-Dictionary: “Influence” ist nicht Information, Aufklärung, Journalismus, freie Meinungsäußerung oder gar Kundtun einer auf fundierter Erfahrung gewachsenen intelligenten Überzeugung. Sondern genau das, was auch in der NS-Zeit Verantwortliche und Mitläufer gleichermaßen ausgeübt haben. Wieder so eine Begriffsbildung, die offenbar viele cool finden, obwohl das, was dahintersteckt, schlichtweg einseitig manipulativ und bisweilen sehr gefährlich ist. Politische Winde drehen sich, die Mechanismen ändern sich nicht.

Ab kommenden Montag soll dieser Ort dann auch öffentlich begehbar sein – auch daran merke ich, dass es kein normales Museum sein kann. Der kommende Montag ist übrigens “Tag Eins von Corona-Jahr Zwei”. Zeit, auch einmal daran zu erinnern, was in Corona-Jahr Eins alles schiefgelaufen ist – damit man es im zweiten Jahre besser machen kann.

So taufe ich diesen Sonntag, den 14.03.2021, auf den Namen “C-Day”. Denn genau heute vor einem Jahr endete unser “normales” Leben. Seit Monaten frage ich mich, wie ich dieses Datum in meinem Logbuch angemessen bearbeiten kann – oder ob ich ganz mit dem Schreiben aufhören soll. Eigentlich möchte ich die ersten 365 Tage (eigentlich waren es 366, denn 2020 war ein Schaltjahr*) in Buchform herausbringen. Doch erstens klingeln die Verlage bei mir nicht gerade Sturm, und zweitens wollen die Leute jetzt, da die Buchhandlungen wieder öffnen, bestimmt nicht als erstes das ganze Trauerspiel noch einmal von vorne durchleben. Also werde ich dieses Manuskript erstmal auf A4 ausdrucken – zumindest meine IT-ferne Mutter wird sich darüber freuen. Und Großtante Dorle. Noch besser als die dürfte sich übrigens die 106-jährige Pianistin Colette Maze an die letzte große Pandemie in Europa erinnern. Gerade wird sie gefeiert als der wahrscheinlich erste Mensch, der seit über 100 Jahren Klavier spielt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch Corona überleben wird – und das nicht nur, um ihre aktuelle CD fertigstellen zu können. Vielleicht finde ich in ihr ein neues Vorbild. Seit Sepp Maier und Jimmy Page habe ich nämlich keine Vorbilder mehr. Wenn das mit den solistischen Vergnügungen in privater Zurückgezogenheit so weitergeht, werde ich an meinem 60. Geburtstag auch wieder anfangen zu zeichnen. Denn fast wäre Horst Jansen mein drittes Vorbild geworden. Damals sammelten sich kistenweise Skizzen, Gouachen, Aquarelle und Lithografien in meiner viel zu großen Wohnung. Als ich zum Ende meines Studiums ausziehen musste, landeten sie mit dem Vorsatz im Altpapier, der Freien Grafik abzuschwören. Aus seinen Vorbildern sollte man irgendwann herauswachsen, aus seinen Talenten nicht. Zeichnen kann man schließlich auch dann noch, wenn einen die Konzerte zu sehr schlauchen. Vom Fußball ganz zu schweigen. Irgendwann schließen sich Kreise, und es ist schön, wenn man das noch erleben darf. Dagegen ist dieses eine Jahr Corona ein “Vogelschiss”. Noch. Wenn auch ein ganz schön großer, der sich gerade weiter ausbreitet. In diesem Sinne wünsche ich uns allen jetzt mal einen “Guten Rutsch”.

* ”Schaltjahr” passt heuer wie die Faust aufs Auge: Erst wurde abgeschaltet, dann geschaltet und gewaltet, wie es den Großkopferten passte, und nun warten viele immer noch auf das Anschalten. Weil uns dieses Jahr sowieso schon viel geklaut wurde, klaue ich uns jetzt einfach selbst einen Tag. Auch das neue Corona-Jahr muss wieder an einem Montag losgehen, und nicht an einem Dienstag.

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