Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 8

Das etwas andere Logbuch Tag 50: "Montag, 7:30 Uhr, kontaktlose Übergabe, mit Schutzmaske...

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Überbringerin trägt auch Schutzmaske. Ihr erkennt euch nicht, alles muss genau so ablaufen. Achtung, die Polizei wird aufpassen. Es gibt keine direkte Kommunikation. Wenn du das Kleine hast, gehst du mit ihm sofort hinein und schließt die Tür. Dann sofort Maske runter, du darfst es nicht noch weiter verängstigen. “Deeskalation” lautet das Gebot. Dann auf dem Hof, mit niemandem aus dem Team in Kontakt treten. Abstand halten und dafür sorgen, dass auch die Kleinen isoliert bleiben. Mittags der Ablauf genauso. Alles klar? Dann GO”

Klingt wie ein Kidnapping-Szenario. Ist es auch. Aber keine Sorge, ein ganz legales. Nun bestünde mal die Möglichkeit, dass Kinder und Eltern sich richtig kennenlernen und Erziehung so stattfindet, wie sie Jahrtausende lang funktioniert hat. Und dann strecken die Eltern nach nicht mal zwei Monaten schon alle Viere von sich. Mit zweien davon halten sie ihr Kind der Erzieherin entgegen. Bloß weg damit, gleich morgens. Es reicht ja, wenn man sich ab nachmittags wieder um sein “Päckchen” kümmern muss.

Doch ich will an dieser Stelle nicht einseitig bewerten. Schließlich ist es ja eine Win-Win-Situation, es dreht sich primär um Kinder von Eltern, die wieder arbeiten müssen. Die ErzieherIinnen wollen auch arbeiten, die Eltern auch. Alles legitim, hat alles seinen Sinn.

Doch das Szenario, dessen Schutzwert etwas zweifelhaft ist, mutet recht bizarr an.

Es lohnt, für einen Moment zu reflektieren, welche Prioritäten gesetzt werden: Bevor das klassische merkantile Geschäftsleben wieder richtig in Gang kommen darf, kümmert sich der Staat darum, dass ihm die Familien nicht um die Ohren fliegen. Galt die Familie einmal als wichtigste Keimzelle für eine stabile Gesellschaft, scheinen es heute eher die Anforderungen des Arbeitsplatzerhaltes für beide Elternteile zu sein, die Familienleben in weiten Teilen definieren. Man fragt sich manchmal, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten sogar Handwerkerfamilien geschafft haben, nur vom Einkommen des Mannes zu leben.

Doch das Thema könnte in fragwürdige Grundsatzdebatten ausarten, die ich hier nicht anstoßen möchte.

Heute starten auch die Schulen wieder, mit halbgefüllten Klassen in täglicher Rotation.

Wie sich SchülerInnen und Eltern wohl auf diesen Rhythmus einstellen können?

ErzieherInnen bereiten sich gerade darauf vor, die – wohlgemerkt praktische – Prüfung digital zu machen. Meine unter Quarantäne gestellte Krankenschwester hängt noch immer in Süddeutschland rum und muss wohl irgendwie ohne Abschluss ihr erstes Anstellungsverhältnis beginnen. Fraglich, ob sie es überhaupt schafft ihr Zimmer angemessen zu hinterlassen. Aber auch das ist ein anderes Thema.

Und ich habe noch gar keine Ahnung, wann ich meine Erwachsenen wieder unterrichten kann. Mein Klientel sind aktuell ja “nur” die Mütter der Kinder, die jetzt zumindest teilweise in ihre Einrichtungen zurück sollen. Unsere vorgeschlagenen Alternativmodelle zum Frontalunterricht wurden offensichtlich noch nicht einmal seitens der Auftraggeber ins Kalkül gezogen.

Egal, an welcher Stelle einer Dominokette man einen Stein umkippt: In eine der beiden Richtungen fallen immer alle weiteren Steine um.

Ein andere, auffälligere Priorität offenbart das Thema “Corona-Test”. Dem Hörensagen nach sollen Fußballspieler für den wieder aufzunehmenden Spielbetrieb täglich gestestet werden. Während an anderer Stelle, unter anderem bei medizinischem, pflegerischem und betreuendem Personal, keine zyklischen Tests vorgenommen werden können oder sollen.

Naja, Fußballer sind ja auch teurer als andere Menschen. Vor allem aber haben sie einen wesentlich höheren Unterhaltungswert. Dass sie aufgrund ihres Alters und ihrer Konstitution zu den am wenigsten gefährdeten Menschen gehören, spielt dabei wohl weniger eine Rolle als der alte Kaufmannsgrundsatz “Geld muss arbeiten“.

So etwas Ähnliches hört man ja auch von der Lufthansa, die trotz Flugpause weiter Dividende für die Aktionäre abwerfen soll. Zumindest hier scheint man nach Wegen zu suchen, das Naturgestz des Dominos auszuschalten. Egal, auf wessen Kosten.

Endlich habe ich einen Ersatzmann für den Friseur gefunden. Unser Schornsteinfeger

kommt. Die Therme ist in zwei Minuten erledigt, Gesprächsstoff hätten wir für einen halben Tag. Für ihn ist ganz klar, warum erst in der siebten Woche die Schutzmaskenpflicht kommt: Vorher waren noch keine verfügbar, damit hätte sich kein Geschäft machen lassen.

Tag 51

Ein Bekannter weist mich auf ein schönes Beispiel dafür hin, dass Zeiten wie diese eben nicht nur Stillstand, Krise und Niedergang bedeuten. Sondern uns die Chance geben, die Entwicklung durch Erkenntnisse voranzutreiben.

1666, erzählt er, habe Isaac Newton einige seiner bahnbrechenden Studien vorantreiben können, weil er sich in eine freiwillige Quarantäne gegen die Pest zurückgezogen habe. Seine fundamentalen Erkenntnisse zur Gravitation und zum Licht konnte der erst 24-jährige Wissenschaftler nur gewinnen, weil er sich ein Jahr lang aus dem Universitätsstudium zurückzog und sich vollkommen auf seine Forschung konzentrierte. Wer mehr dazu lesen möchte:

https://www.curioctopus.de/read/25707/die-pestquarantane-von-1666-ermoglichte-es-newton-das-gesetz-der-schwerkraft-und-die-natur-des-lichts-zu-entdecken

Manche Ereignisse wiederum, die bei weitem noch nicht so lange zurückliegen, wirken jetzt absurder denn je. Da gab es vor zehn Jahren diese Love-Parade in Essen, bei der einige Besucher zu Tode gequetscht wurden. Gerade zeichnet sich ab, dass der Prozess gegen die vermeintlichen Verursacher des Fiaskos eventuell eingestellt wird. Wieder sieht man die absurden Bilder von Menschen, die sich freiwillig in eine unkontrollierbare Körperflut gedrängelt haben und dann wild durcheinander gespült werden.

Ich habe mich damals gefragt, ob außer den Veranstaltern und genehmigenden Behörden nicht auch alle Teilnehmer und Opfer eine gewichtige Mitschuld tragen. Das wurde schon damals festgestellt, jedoch nicht so breit kommuniziert.

In Zeiten, in denen jede Form von Massenzusammenkünften unmöglich gemacht werden soll, wirken die Bilder von damals wie ein zusätzliches Argument gegen derartige Events, weil diese “Stampede” nun in eine ganz neue Relation, die den Irrsinn noch deutlicher werden lässt, gebracht wird. Dass gerade jetzt der anhängende Prozess in Frage gestellt wird, muss kein Zufall sein.

Ganz anders sehen jetzt die Demonstrationen aus, die sich in Baden Württemberg Bahn brechen. Vorsichtiger, mit strengen Auflagen. Man hatte gegen das Demo-Verbot geklagt und Recht bekommen. Rechtsstaatlichkeit ist nicht mehr selbstverständlich, sondern muss erstritten werden.

Besonders gerne, um kurz wieder zu den alltäglich Ärgernissen zu kommen, lassen irgendwelche Arschlöcher ihre benutzen Gummihandschuhe in Einkaufswagen liegen.

Ich habe versucht, ein Paar mit meinem Zippo anzuzünden. Fehlanzeige, es kokelt nur etwas. Der City-Scout muss mir mal einen seiner Taschenflammenwerfer leihen, ich habe keine Lust mehr, diese Sauerei tatenlos hinzunehmen.

Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, das Corona-Theater bei meinen seltener gewordenen Einkäufen auf die Spitze zu treiben. Nicht nur die Maske setze ich auf, auch Handschuhe trage ich. Natürlich keine aus Gummi, sondern Lederhandschuhe, die sich von innen gut anfühlen. Egal, ob ich damit Produkte aus den Regalen nehme, den Weg versperrende Wagen anderer Kunden wegschubse oder an der Kasse bedächtig meine EC-Karte aus dem Portemonnaie fingere – ein bisschen Stil muss sein, Umweltbewusstsein sowieso, und auf dem Fahrrad halten die Teile die Finger warm.

Immer an den Mehrfachnutzen denken.

Übrigens hat mich bis jetzt noch niemand auf das Wort “Desinformation” angesprochen, dass auf meinem Mundschutz steht. Eigentlich ist er ein Nase-Mund-Schutz, doch zöge ich ihn eng über die Nase, würde meine Brille permanent beschlagen.

Wenn mich doch endlich mal die Polizei darauf ansprechen würde. Dann könnte ich ihnen sagen, dass ich nicht mal im Besitz eines gültigen Ausweisdokuments bin, weil das Bürgeramt keine Masken hat, um mich zu empfangen. Mal sehen, wie hoch das Bußgeld dafür ausfällt. Ich würde es sowieso stunden lassen, als 0-Kurzarbeiter.

Tag 52

Einkaufen sollte man möglichst früh. Weniger wegen der Lieferengpässe, sondern wegen der Drängelei. Auf nervige Ordner in schwarzen Anzügen kann man allerdings zu jeder Tageszeit treffen. Besonders im Drogeriemarkt wirken diese Leute völlig deplaziert, könnte man da nicht nette Helfer einsetzen, die einem auch Tipps geben können, wo man was findet?

“He Sie, wo ist ihr Wagen?”, ruft der schwarze Mann nicht hinter der Mutter her, die ihre Waren irgendwo im Kinderwagen zu verstecken scheint (warum müssen diese Teile eigentlich jeden Meter mitgerollert werden), und auch nicht hinter den gemütlichen Rentnern (ohne Rolator). Sondern hinter uns.

Lustig ist auch das Poster am Eingang, auf dem die Maske als Schutz für einen selbst und für Dritte bezeichnet wird. Gibt es keine “Zweiten”? Oder sind das die KassiererInnen, die zumeist keine Maske tragen und offensichtlich auch nicht geschützt werden sollen?

Apropos Schutz für Mitarbeiter: Fragen Sie doch mal Pflegepersonal, warum es eigentlich nicht getestet wird. Meine Krankenschwester weiß zu berichten, dass dahinter ein Konzept steckt: Es wäre nämlich doof, wenn ein Test positiv ausfiele. Dann müsste die betreffende Person in Quarantäne und könnte nicht arbeiten. Also ist es besser, wenn alle durchkeulen – entweder geht es gut, oder, wenn jemand umkippt, ist es ja wirklich ernst.

Meine Krankenschwester hingegen schiebt eine erstaunlich ruhige Kugel. Zuerst war sie zwei Wochen in Süddeutschland, wo sie gar nicht unbedingt hätte hinfahren müssen, in Quarantäne (einen Mietvertrag hat sie dort gleich mit unterschrieben). Jetzt düst sie erstmal eine Woche zu ihren Eltern, zum Nichtstun - so wie hier, schätze ich. Arbeiten muss sie nämlich gar nicht, die Prüfungen scheinen so nebenbei zu laufen. Ihr Laptop liegt auf jeden Fall die ganzen Wochen unbenutzt auf ihrem Schreibtisch herum. Das mit dem Pflegenotstand kann in ihrem Krankenhaus so schlimm wohl doch nicht sein. Komisch, hatte man dort doch kürzlich Notzelte in den Vorgarten gestellt.

Ab kommender Woche soll man wieder essen gehen können. Das ist eine der kleinen “Lockerungen” - so nennt man das im Medienrauschen - mit denen die Leute im Mai wohl bei Laune gehalten werden sollen. Ich habe noch immer keinen Hinweis darauf, wann ich wieder unterrichten kann. Viele Verantwortliche scheinen erstmal noch ordentlich essen gehen zu wollen, bevor sie sich wieder an die Front bequemen. Kulturbüros haben ebenso wie andere städtische Einrichtungen noch geschlossen. Mich würde mal interessieren, was die Leute, die in ihren Büros schon kaum was machen, in ihrem sogenannten “Home-Office” eigentlich so treiben. Warum übrigens auch dafür ein Anglizismus? “Heimatbüro” klänge doch viel putziger.

Ich bleibe heute, abgesehen vom unerquickliche Einkaufen mit permanent beschlagener Brille, in meinem “Heimat-Aufnahme-Studio”. Da kann ich klar sehen und hören.

Auch viele Künstler sind mittlerweile froh, manche sogar stolz, ihre Arbeit irgendwie online raushauen zu können. Ich find's ein oder zweimal ganz nett, aber zur Gewohnheit werde ich das nicht werden lassen. Dann eben erstmal keine Kunst, ich muss auch nicht essen gehen. Irgendwoher kam während meines Studiums der Spruch “Ohne Kunst fehlt dir nichts”. Der hat sich mir bis heute eingeprägt.

Nach den letzten Wochen könnte man diese These um etliches erweitern. Jeder kann ja mal für sich durchgehen, was er oder sie alles nicht braucht.

Tag 53

Hurra … Zahnarztbesuch! Dass ich so einen Termin mal feiern würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Auch meine mitfahrende Freundin ist ganz aufgeregt. Unsere Dentistin praktiziert nämlich in Göttingen, endlich kommen wir mal wieder raus. Für eventuelle Polizeikontrollen halten wir unsere Bonushefte griffbereit.

Doch die Premiere, die diese Fahrt bereit hält, ist anders als erwartet: Solange ich zurückdenken kann, habe ich noch keinen Verkehrsfunk gehört, in dem kein einziger Stau oder Unfall gemeldet wurde. Heute erinnert die austauschbare Stimme des austauschbaren Senders, der ebenso penetrant wie periodisch den grandiosen Pianisten Iro Rantala in seinem CD-Vortrag stört, lediglich daran, dass es sie und ihn noch gibt. Die Stimme und ihren Sender. Keine Verkehrsstörung, kein Unglück, keine LKW-Teile oder herumirrende Tiere auf der Straße, nur der Sender mit einer Stimme, die nichts zu sagen hat. Lediglich die “Flitzer-Blitzer” arbeiten noch ordnungsgemäß auf Deutschlands Straßen.

Wie sehr man sich doch schon daran gewöhnt hat, all diese Sender einfach nur an- und abzuwählen, auf den Displays zu erkennen, in den Programmspalten und auf den Werbeflächen zu sehen, über sie hinweg zu gehen auf der Suche nach Hörens- und Sehenswertem.

In Bezug auf den Straßenverkehr könnte öfter Corona sein. Wenn sie dann auch noch diese überflüssigen Programmteile abschaffen würden, die sowieso nichts zu melden haben, könnte ich die Medien fast wieder lieb haben. Zumal es dann schlagartig viel weniger dieser sinnlosen Klangtapeten geben würde.

Ob in irgendeinem Labor wohl gerade ein Virus gegen hirnzellenabtötende Sender entwickelt wird? Sowas, das man einfach in den CD-Schlitz seines Autoradios steckt und dann verschindet der Sender, den man gerade hören muss? Für immer?

In der Dentalpraxis sind wir die einzigen Patienten, jeder hat einen Behandlungsraum für sich. Unsere Ärztin und ihre Praxishelferin beweisen, dass sie in Sachen Neuigkeiten die Friseure, Taxifahrer, Schuster und Arbeitskollegen problemlos ersetzen können. Wir hören von einer 103-jährigen, die mit Corona gestoben ist, und das hätte auch noch im Tageblatt gestanden. Früher haben Zeitungen Bürgern ab dem 100sten Geburtstag gratuliert, jetzt ist ihr Ableben mit Corona die Meldung.

Auch die Gefängnisentlassung eines Mafiabosses, der jemanden in Salzsäure aufgelöst hat, ist Thema. Man hat ihn im Rahmen des europaweit in Mode gekommenen “Alles-muss-raus”-Strafvollzuges in den Hausarrest entlassen. Also wirklich, wie könnte man es auch riskieren, dass Schwerstverbrecher an dem Virus sterben? Was für ein schlechte Presse würde das bringen, insbesondere in Italien. Wo doch schon genug Geistliche und Pflegepersonal gestorben sind. In der Türkei riskiert man übrigens nur das Leben der “Politischen”. Die braucht dort keiner mehr und das kann auch keine schlechte Presse bringen. Handelt es sich bei den Inhaftierten doch um die Presse.

Besonders stolz ist man in unserer Praxis auf einen Desinfektionsmittelspender, der nicht mehr mit der Hand berührt werden muss. Mit Belustigung beobachtet die Praxishelferin mich, als ich vergeblich nach einem Knopf suche, ehe sie mir den Trick verrät.

Draußen scheint die Sonne und unter dem Fenster spielt wie immer ein Straßenmusikant.

Langsam füllt sich die Fußgängerzone, Artisten treten auf.

Die Studentenstadt ist ein Hort der Entspanntheit (selbst die Polizisten, die permanent durch die Fußgängerzone fahren, interessieren sich mehr für das gute Wetter), der Freundlichkeit und des guten Geschmacks.

Wir genießen exotisches Eis, kaufen gute Musik und nehmen das obligatorische Gebäck unserer Hofkonditorei Cron & Lanz mit.

Leider muss ich einräumen: Das Betreten meines Göttinger Lieblingsplattenladens mit Maske und das Plattendurchblättern mit beschlagener Brille stellen die bislang mit Abstand uncoolste Aktion meines kompletten Corona-Lebens dar.

Tag 54

Wenigstens in den Kaufhäusern ist keine Lala mehr zu hören, zumindest für mich nicht. Weil es gar keine Kaufhäuser mehr sind, sondern “Konsumarien”.

Was ist das denn? Auf jeden Fall keine gesungenen Arien, die den Konsum lobpreisen sollen. Eher so etwas wie Aquarien ohne Wasser oder Terrarien ohne Schildkröten. Auch wenn sich die Verkäufer darin ähnlich langsam bewegen.

Fasziniert stehe ich in der mehrtürigen Schleuse der Galeria, die jetzt bis auf eine einzige Schwingtür geschlossen ist. Durch diese Tür kann ich jedoch nicht gehen, weil sie durch eine Kasse mit Corona-Panzerglas blockiert wird. Durch die großen Glasflächen sehe ich das Personal im Erdgeschoss, gelangweilt in Zweier- und Dreiergruppen zusammenstehend, mit den Lieben simsend, oder die eigenen Fingernägel prüfend.

Ich frage die Dame an der Kasse, ob man irgendwo hineinkäme und sie verweist auf irgendeinen Bereich auf der anderen Seite des Gebäudes. Ich kann mir denken, dass dort die Corona-Schlange steht und frage sie, ob ich etwas aus der Schuhabteilung bekommen könne. Und in der Tat gibt es diesen Service. Ich nenne die Schuhpflege-Produkte, die mir meine Freundin als Fotos aufs Handy geschickt hat und sie gibt die Namen simultan per Telefon an eine Kollegin im dritten Stock weiter, wobei sie scheinbar das Wort “Nubuk” nicht kennt. Doch an dieser Stelle ausgebildetes Fachpersonal zu erwarten, wäre nun wirklich auch zu viel verlangt.

Nach drei Minuten kommen die gewünschten Pflegeprodukte. Der zweifelnden Kassiererin zeige ich die Fotos auf meinem Handy, alles ist richtig.

Nun frage ich mich, warum wir eigentlich einen beträchtlichen Teil unserer Lebenszeit mit dem Umherirren in Kaufhäusern verbringen, auf der Suche nach Produkten, die es dort dann oft gar nicht gibt. Auch an dieser Stelle wünsche ich mir, dass Corona Schule macht. Einfach fragen, kurz warten, und wenn's nicht passt, abwinken – schließlich ist man nicht selbst, sondern eine Verkäuferin durch die Regale gehetzt. Und vor allem: Man begeht keine Frustkäufe, nimmt nicht einfach irgendwas anderes mit, weil das Gewünschte nicht verfügbar ist.

Die kurze Wartezeit zwischen den Glastüren nutze ich für eine meiner “Hannover-Studien”. Dabei registriere ich den folgenden Dialog, der zwischen unterschiedlichen Kunden und immer derselben Kassiererin absolut identisch abläuft.

Kunde: “Haben Sie geöffnet?”

Kassiererin: “Nur auf der anderen Seite, einen Bereich von 800 Quadratmetern.”

Ende.

Keine zweite Frage. Zum Beispiel danach, ob man in jenem für ein fünfstöckiges Kaufhaus verschwindend kleinen Bereich alle verfügbaren Waren bekommen könne, welcher Eingang von den fünf oder sechs insgesamt vorhandenen es überhaupt sei, oder ob da mit längeren Wartezeiten zu rechnen sei. Vor allem vermisse ich die Frage, wozu eigentlich diese Kasse hier, vor der die Leute gerade stehen, sei.

Meine Bemerkung, das dieses Verhalten typisch hannöversch sei – nur eine Frage zu stellen, und dann wortlos wegzugehen – muss sogar diese vorher eher humorlos erscheinende Kassiererin mit einem Lachen quittieren.

Dazu habe ich an Sie, liebe/r Leser/in, der/die Sie nicht in Hannover leben, eine Frage: Sind die Leute in Ihrer Stadt aus so sparsam in Kommunikation und Zielstrebigkeit?

Der alte Zappa-Song „Amerika drinks and goes home” kommt mir in den Sinn. Nur, dass man gerade jetzt draußen nicht mal trinken gehen kann. Ab Montag wieder, glaubt man den Verlautbarungen unserer Sesamstraßen-Regierung.

In das Kaufland hingegen kommt man wie immer problemlos hinein, auch ohne Einkaufswagen, ohne Korb. Dieser kaufhausähnlich dimensionierte Supermarkt, den ich sonst immer so unsympathisch finde, bekommt dafür von mir 500 Corona-Kundennähepunkte. Hier nervt lediglich, dass der acrylgläserne Corona-Schutzwall sowohl die Entnahme der bereits bezahlten Waren vom Band und auch das Einschieben der EC-Karte in das Lesegerät verhindert.

Auch wenn unser Pandemie-Städtevergleich mehr als spärlich ausfallen muss: Göttingen hat die Nase vorne und bekommt nachträglich 1000 Kundennähe-Punkte.

Die Rückkehr der sogenannten Normalität kündigt sich auch auf Bild an. Endlich titelt das Zentralorgan wieder mit Alltäglichkeiten wie “17-Jährige sprengt Feuerwehrmann in die Luft”. Interessanter ist der kleine Kasten darüber, in dem erwähnt wird, dass Wissenschaftler den Lockdown scharf kritisieren. Wie raffiniert. Jetzt, da wieder nach Gründen gesucht werden darf, die Regierung zu kritisieren und Merkels Punkte sowieso im Keller sind, muss natürlich auch die “Lügenpresse” wieder so tun, als lanciere sie etwas ganz Neues. Doch warum wird diese Kritik “Wissenschaftlern” in den Mund geschrieben?

Es wäre mal klasse, wenn dort zu lesen stünde: “LIESCHEN M. WUSSTE ES VON ANFANG AN: CORONA NUR FAKE!”

So, wie es aussieht, müssen wir bezüglich unseres Punkte-Spieles sowieso bald Kassensturz machen. Nächste Woche sollen so viele Lockerungen kommen, dass man vielleicht besser ganz zuhause bleibt. Jetzt haben wir uns daran gewöhnt, und alles soll wieder anders werden? Erst Hü, dann Hott? Nö! Sollen sich die Anderen doch die Hucke zuziehen und gegenseitig anrülpsen, während sie sich ihre Corona-Heldentaten erzählen, wir machen da nicht mit!

Am Abend kann ich beruhigt feststellen, dass die heute show sich wieder etwas stabilisiert hat.

Ein Glück, so muss ich mich zu den großen Themen Fußball und Wirtschaft nicht auch noch äußern.

Tag 55

Auf meiner Assoziationsreise durch Kunst und Kultur erinnere ich mich heute an das Album-Cover “Crisis? What Chrisis?” von Supertramp, auf dem es sich ein farbenfroher Sonnenanbeter auf seinem Sonnenstuhl inmitten einer verrußten, finsteren Industrielandschaft in Schwarzweiß bequem gemacht hat. Natürlich sieht man sofort, dass dies eine Montage ist.

Ist es heute, über 45 Jahre später, so anders? Schon damals wusste man so vieles über die verheerenden Folgen des menschlichen Konsumverhaltens, dennoch ist seitdem alles noch viel extremer geworden. Und damals gab es bei uns noch nicht mal McDonalds, keine Abwrackpämien und chinesische Billigprodukte, die portofrei um die halbe Welt verschickt werden. So konnte es nicht ewig weitergehen. Irgendwann wäre sowieso etwas passiert.

Und dann kommt so ein Virus. Damit hat man noch keine Erfahrung, das wird jetzt mal durchexerziert. Hier mal ganz schnell die Arbeit niedergelegt, dort mal farbenfrohe Masken aufgesetzt, auf die Schnelle ein bisschen Bildungsverzicht praktiziert, dabei nebenbei doppelt so viel Hausmüll wie sonst produziert, und jetzt schnell die Autos von der Halde in den Verkauf gebracht, weil man ab Montag wieder Oma besuchen fahren darf.

Weil Deutschland gut darin ist, wie das Fettauge auf der globalen Wassersuppe zu schwimmen, werde man schon glimpflich davonkommen – so oder so ähnlich muss da doch irgendjemand spekuliert haben. Ob das nun auch so funktioniert, bleibt abzuwarten – in der EU scheint es ja gerade ziemlichen Ärger zu geben.

Wie immer gibt es Verlierer und Gewinner. Wer die Gewinner sind, wusste man auch vor der Aufklärungsshow im ZDF gestern Abend ab 22:30 Uhr schon. Zum Beispiel Aktionäre

von Automobilkonzernen. Übrigens gehen die Regierungen anderer Länder mit den asozialen und dreisten Bereicherungsraubzügen der ohnehin schon Reichen etwas anders um als die deutsche.

Corona, Stand „jetzt“, ist irgendwie keine richtige Krise. Schon gar nicht für alle. Richtige Krisen haben wir noch nicht am eigenen Leibe gespürt (sofern wir noch keine 75 Jahre alt oder Geflohene sind). Momentan kommt mir das vor wie ein Krisen-Planspiel. Eine große Übung. Ein Ausprobieren von Manövern.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich möchte die vielen gefährdeten und womöglich schon zerstörten Existenzen keinesfalls herunterspielen – ganz im Gegenteil. Auch große Truppenübungen kosten, ohne dass scharfe Munition eingesetzt wird, echte Menschenleben.

Dramatische Krisen werden wahrscheinlich erst noch kommen, schlimmstenfalls gleich mehrere parallel. Und vielleicht schneller, als wir ahnen. Wie werden diejenigen damit umgehen können, die jetzt schon überfordert sind?

Zum Beispiel unsere eine Nachbarin, der anscheinend ein paar Fehler im Job unterlaufen sind. Und das, obwohl sie nun schon viele schöne Tage mit ihrem niegelnagelneuen Freund (in gesicherter Position) an der Müritz verbringen konnte, und Ihren Job eher nebenbei vom “Homeoffice” (in diesem Fall wohl eher ein “Holidayoffice”) aus betrieben hat. Was sie daran überfordert haben soll, erschließt sich mir nicht … ach ja, doch, das hätte ich fast vergessen: Sie musste dieses Jahr auf ihren Skiurlaub verzichten.

In ihrer ganzen Verzweiflung über die Krise, in der man ja so gar nichts machen könne, erwägt sie nun, sich kopfüber in eine Schwangerschaft zu stürzen. Das arme Mädchen, muss es dem schlecht gehen!

Beim Kaffeekränzchen im Garten lerne ich ihre Mutter kennen. Sie ist Grundschullehrerin in einer dörflichen Gegend, irgendwo in Niedersachsen, und hat von den ganzen verzweifelten Fernunterrichtsbemühungen in der großen weiten Welt um sich herum anscheinend noch gar nichts mitbekommen. Während sie ihren Schokoladenkranz mümmelt, konstatiert sie: „Ohne Corona wäre das jetzt wie Ferien.”

Von eventuellen Positiv-Fällen im Umfeld der Familie höre ich nichts – also SIND Ferien.

In diesem Moment sogar für Mutter und Tochter zusammen, so hat sich das auch der FDGB immer gewünscht.

“Crisis? What Crisis?”

Tag 56

So langsam bereitet man die Menschen darauf vor, vom Corona-Modus in den Ferienmodus hinüberzugleiten. Was, wenn diese ganze Enthaltsamkeits-Show nur dazu dienen sollte, uns so richtig hungrig auf Urlaubskonsum zu machen? Hungrig darauf, es endlich wieder so richtig krachen zu lassen?

Diese spekulative Erkenntnis habe ich wieder mal vom Bäcker, beziehungsweise vom dort ausliegenden Revolverblatt mit dem roten Rechteck drauf. DER SOMMERURLAUB IST GERETTET, verrät es mir, noch bevor die Brötchen eingetütet sind.

Unter anderem werden milliardenschwere Subventionen für die Gastronomie angekündigt. Nicht, dass ich das irgendwem nicht gönnen würde – aber wenn man sowieso nur in Deutschland Urlaub machen kann, müsste es mit der Hotellerie doch eigentlich von alleine bergauf gehen, oder? Wäre da ein Urlaubszuschuss für Kurzarbeiter nicht besser?

Ach ja, die großen Gegenspieler des innerdeutschen Tourismus gibt's ja auch noch. Solche wie die TUI, um die wir Hannoveraner alle zittern mussten, und die wie durch ein Wunder schon wieder vollmundig tönt: Wir sind startbereit für Mallorca!

Hat diese Gazette mit dem roten Rechteck sich das ausgedacht? Oder hat überhaupt irgendwer in Spanien mal nachgefragt, wie die das sehen? Und hat Spanien nicht ohnehin schon genug Probleme?

Egal, Malle ist doch unsere Kolonie, extra für die Doofen. Und nach deren Meinung sollten sich sowieso die Mallorquiner verziehen. Wir könnten den Spaniern natürlich auch ein Geschäft anbieten: Sie fliegen mit der TUI kostenlos an einen Ort ihrer Wahl (wird über die bereits bezahlten Rückflugkosten unserer Suffköppe finanziert), und die Jungs und Mädels der „Generation Sinnlos” bleiben gleich dort, in Quarantäne. Egal, ob sie sich mit irgendwas infiziert haben oder nicht. Allein die potenzielle Gefahr irgendwelcher Infektionen scheint ja mittlerweile als Legitimitation jedweder Maßnahmen auszureichen.

Und dass sich die Leute auf Malle mit irgendetwas angesteckt haben müssen, legt ja schon ein kurzer Blick in diese Eimer-Trinkvideos auf youtube nahe. Irgendwas, das ihre ohnehin schon geringe Hirnmasse noch weiter schrumpfen lässt, schätze ich. Zuviel Sonne kann dafür nicht die einzige Ursache sein.

Heute wollen wir in den bereits erwähnten verlassenen Gärten nicht nur Pflanzen retten, sondern auch Probeaufnahmen für ein mögliches Video machen. Doch unser Geheimtipp ist keiner mehr. Ab zwölf Uhr bevölkert sich die Anlage mit irgendwelchen „Guppys“, die dort nach Wertstoffen suchen, aber auch Naturfreunden, die einfach nur den Kuckuck entdecken wollen, der weithin vernehmbar ist.

Einer dieser Naturfreunde entpuppt sich als MHH-Insider, von dem ich etwas mehr über den geplanten Neubau erfahre, der diese ganzen Biotope vernichten wird. Man könne die maroden Gebäude nicht abreißen, um an der gleichen Stelle neue zu bauen. Denn es würde viel zu lange dauern, bis die neuen Betten belegungsfähig wären.

Andererseits soll die Stadt gefordert haben, dass ein Haus, das in zwei Jahren abgerissen werden wird, zuvor noch für Millionenbeträge auf den neuesten sicherheitstechnischen Verordnungsstand gebracht wird. Bürokratie verbrennt Geld, das von arbeitenden Bürgern an anderer Stelle verdient werden muss. Oder doch im Keller der Bundesbank mal eben neu gedruckt wird?

Die wichtigste Frage hört oder liest man nirgends: Warum werden systemrelevante Zweckbauten eigentlich keine 50 Jahre mehr alt?

Spekulationen darüber, wie lange der noch nicht errichtete Neubau stehen wird und wie viel Natur und Geldressourcen darauf folgende Veränderungen verschlingen werden, will ich an dieser Stelle niemandem zumuten. Mit Nachhaltigkeit dürfte das alles auf jeden Fall herzlich wenig zu tun haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden