Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 3.18

Das Logbuch geht weiter: Im System angekommen

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Endlich – in meinem was-weiß-ich-wie-vielten Job – bin ich im System angekommen. Man hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte. Bisher war ich in mehr oder weniger seriösen Jobs tätig, um meine unseriöse Kunst zu finanzieren – jetzt weiß ich nicht mehr so genau, was seriöser ist. Ich denke allerdings, die Kunst. Dabei weiß ich noch nicht mal, wie man auf mich gekommen ist. Die, die mich angeheuert haben, frage ich besser erst gar nicht. Nur keinen Verdacht erregen, denn der Job ist gut bezahlt. Welchen Sinn er hat, weiß ich noch nicht, aber es wird schon einen Masterplan geben. Hoffe ich. Irgendwo im Hintergrund sitzen bestimmt welche, die genau wissen, was sie tun. Vermute ich. Meine Aufgaben haben einen tieferen Sinn, führen irgendwo hin. Rede ich mir schön. Reden darf ich eigentlich gar nicht darüber – doch wenn ich keine Namen und Daten nenne? Die Fakten klingen sowieso unglaubwürdig, also was soll's.

Unter anderem habe ich die Corona-Müdigkeit im öffentlichen Personennahverkehr zu überprüfen. Also begebe ich mich in S-Bahnen und Regionalexpressen in die Nähe von Masken-Gegnern, bevorzugt sind das verliebte Pärchen und unbegleitete junge Männer, die sehr laut reden. Ich soll prüfen, wie das Zugpersonal auf diese Leute reagiert. Leider sind die Züge, nachdem im Juni noch Platz zum Atmen war, mittlerweile gerammelt voll. Die Schaffnerin zeigt sich völlig unbeteiligt. Frei nach dem Motto: “Wenn ich nicht kontrolliere, zumal es dafür viel zu voll ist, muss ich auch niemanden auffordern, seine Maske aufzusetzen. Falls mich jemand anspricht: Ich habe bereits Feierabend!” Ich vermute, dass der 9-Euro-Trick ein Versuch ist, um die Inzidenzen wieder in die Höhe zu treiben und im Herbst schärfere Maßnahmen zu verhängen. Andere Tricks sind Veranstaltungen wie die letzte Woche beschriebene “Ideen-Expo” und diverse Musikfestivals. In manchen Fällen könnte man dort Abstand halten, und vor allem könnte man Maske tragen. Macht aber kaum jemand. Also heißt es: Ein Festival in vollen Zügen einatmen und die Tickets für das nächste Konzert wem anderes geben, weil man sich Corona geholt hat. Insofern hat das Virus jetzt so ungefähr den Stellenwert eines Sonnenbrandes am Mittelmeer: Einmal zu viel Sonne tanken und danach den Liegestuhl für ein paar Tage anderen überlassen. Wenn schon nirgendwo hingeflogen werden kann, schafft zumindest das etwas Urlaubsgefühl. Alles Kalkül, um die Menschen bei der Stange zu halten?

Natürlich habe ich noch andere Aufgaben, zum Beispiel das “Menschenwegmogeln”: Jemand wird zu mir geschickt, der laut Statistik 25 Jahre alt ist und am 1.1.1997 geboren wurde. Der Mann sieht allerdings aus, als sei er ungefähr 40, und bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass er drei Kinder hat. Im Lebenslauf steht lediglich “verheiratet”. Der Kunde verfügt über IT-Kenntnisse, die ihm lediglich das Anschalten eines Computers ermöglichen. Das Ausschalten muss ich ihm zeigen. Welche Fähigkeiten und welches Wissen er mitbringt, kann ich bei unserem ersten Treffen nicht in Erfahrung bringen. Das übrigens ist auch gar nicht meine Aufgabe – zu viel Information ist nicht gewünscht – zumal es in diesem Fall signifikante Sprachbarrieren gibt. Man hört übrigens aus Standesämtern, dass es Menschen wie ihn auch mit 13 Kindern gibt. Dient mein Einsatz in der nachhaltigen Bearbeitung seines Lebenslaufes dazu, aus diesem Mann einen jungen Erwachsenen zu machen, der in nächster Instanz einmal mehr bestätigte 25 Jahre alt ist und zu einer weiteren Aufbewahrungsstation geschickt wird, die ihn aus sämtlichen Nichtbeschäftigtenstatistiken verschwinden lässt? Wie werden wir in einigen Jahren damit umgehen, dass wir biologisch 80-jährige im statistisch noch nicht rentenfähigen Alter haben, sofern diese Leute überhaupt Rente beanspruchen können? Soll dieses “Age-Washing” womöglich dazu dienen, das bedingungslose Grundeinkommen durchzusetzen? Doch wie sollen diese hilflosen Menschen ihren ganzen Versicherungs- und Behördenkram selbst erledigen? Sie merken schon: ich habe nun einen Job, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet.

Bisher habe ich in einem System gelebt, das ich nicht gemocht, aber zumindest halbwegs verstanden habe. Jetzt lebe ich in einem, das ich nicht mehr verstehe. Und wenn Sie nun denken, das kann doch hier alles nicht stimmen, dann haben Sie Recht. Die “gute Bezahlung” ist in der Tat geflunkert.

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