Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 3.19

Das Logbuch geht weiter: Uns Uwe

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Eigentlich stand für diese Woche ein anderes Thema auf dem Zettel – doch ist im Moment nicht sowieso vieles austauschbar? Also stelle ich spontan um. Auf Uwe. Denn der kann nicht warten. Auch wenn im Moment schon alle anderen darüber schreiben, so mache ich es doch – was wäre dieses Logbuch denn wert, wenn ich einen der bedeutendsten Menschen der deutschen Nachkriegszeit übergehen würde?

Als ich anfing, Gitarre und Fußball zu spielen, Schallplatten zu sammeln, Angeln zu gehen und Mädchen nachzuschauen, hatte sich Uwe schon zur Ruhe gesetzt. Dennoch war er im Unterschied zu den noch aktiven Müller, Maier und Beckenbauer nicht nur eine Legende, sondern eine Institution. So richtig klar wurde mir das, als ein etwas verlauster Gitarrist aus meinem frühmusikalischen Dunstkreis einem lokalen Fanzine auf die Frage, wer sein größtes Idol sei, “Uwe Seeler” antwortet. Warum nicht Jimi Hendrix, Johnny Winter oder Carlos Santana? Natürlich wollte der Gitarrist provozieren, schließlich war Punk gerade angesagt – doch in diesem so gänzlich dem Anti-Heldentum verschriebenem Musik-Genre wusste man zumeist nicht mal, wie die Gitarristen der einschlägigen Bands hießen. Udos gab es damals zwei große in Deutschland, Uwes nur einen. Das konnte sich jeder leicht merken.

Für mich war das Anlass genug, mich mit dem Mann zu beschäftigen, der mit Gerd Müller zusammen das wohl beste Sturmduo bildete, das Deutschland je hatte – zumindest einen Sommer lang. Das “Jahrhundertspiel” im Halbfinale 1970 gegen Italien, das so unglücklich verlorenging, oder das Hinterkopf-Tor in der Viertelfinal-Revanche gegen England – doch vor allem natürlich das Finale von Wembley vier Jahre zuvor, in dem die ganze Schande unserer Nazi-Vergangenheit auf Uwes hängenden Schultern zu lasten schien, als ihn die Bobbys vom Platz begleiteten. England hatte ein irreguläres Tor geschossen. Gegen die “Krauts”, im eigenen Land, dem “Mutterland des Fußballs” und im ersten von England erreichten WM-Finale überhaupt – natürlich war da Schluss mit der sprichwörtlichen britischen Fairness. Die Rotweißen rissen die Arme hoch und die Schwarzweißen bedrängten sie, das Jubeln sein zu lassen, weil doch auch sie gesehen hätten, dass der Ball auf, und nicht hinter der Linie aufgeprallt war. Jeder konnte sehen, dass die weiße Kreide aufstieb. Heute wäre es ganz normal, ein eigenes irreguläres Tor dankend anzunehmen als wäre es regulär, und als Gegner wäre es ganz normal, zu lamentieren und den Schiedsrichter anzugehen. Doch gut 20 Jahre nach Kriegsende biss man die Zähne zusammen, nahm sein Schicksal demütig an und bewegte sich tapfer zum Mittelkreis, um weiterzumachen. Dass auch das vierte Tor der Engländer irregulär war, geschenkt. Umso bemerkenswerter, dass beide Mannschaften sich danach regelmäßig trafen und daraus eine Art “Mannschaftsfreundschaft” entstand. Letzten Endes ist das legendäre “Wembley-Tor” auf einen der beiden Linienrichter zurückzuführen, einen Russen. Wieso man ausgerechnet ihn für dieses Spiel berufen hatte, wurde medial nicht ausreichend beleuchtet. Zur Begründung seiner Fehlentscheidung gibt es eine nicht wirklich überraschende Überlieferung. Der Linienrichter soll später eingeräumt haben: “Wegen Stalingrad.”

Unabhängig vom zweiten und vom dritten Platz 1966 und 1970: Wäre Seeler nur einige Wochen früher geboren, wäre er 1954 womöglich Teil des “Wunders von Bern” geworden. Zum Zeitpunkt des WM-Finales spielte der junge Stürmer noch in der U18 und hatte das FIFA-Turnier, das heute “U18-WM” genannt wird, bereits 1953 gegen Argentinien gewonnen. Hier also, mit zarten 16 Jahren war er bereits Weltmeister geworden. Und dann zum ersten Mal gegen Argentinien – welch ein Karma!

Im Oktober 1954 lud Sepp Herberger ihn zur A-Nationalmannschaft ein. Mit 17. Sollte jemals ein deutscher Spieler die Bezeichnung “Weltmeister der Herzen” verdient haben, dann Uwe. Leider wurde dieser Titel erst 2006 kreiert, als der deutsche Fußball mit seinen schwarz-rot-gelben Wangenbemalungen, ausufernden “Public-Viewings” und fröhlichen Fußball-Touristen aus aller Welt aus dem langen Schatten der Geschichte herauszutreten schien.

Uwe Seeler blieb sein Leben lang bescheiden und trotz eines Millionenangebotes aus Italien dem HSV treu. In den letzten Jahren schüttelte er mehr und mehr den Kopf darüber, was aus seinem Sport und seinem Verein geworden ist. Dabei scheint der unermüdliche Fußball-Arbeiter eher für das Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stehen, als für das der zweiten. Dennoch nennen auch heute noch, in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, viele Spieler und Spielerinnen Uwe Seeler als eines ihrer größten Vorbilder.

Irritierend finde ich das Paradoxon, dass viele es dann doch ganz anders machen, als ihr großes Vorbild. Auch darin liegt womöglich eine der großen Schwächen unserer Zeit: Man benutzt Vorbilder zwar gerne als Alibi, jedoch orientiert man sich nicht wirklich an ihnen.

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