Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 3.37

Das Logbuch geht weiter: Der Sturm im Wasserglas

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Nun knicken die Spieler und der DFB doch wieder ein vor der FIFA. Das war zu erwarten. Die meiner Meinung nach ohnehin lächerliche „One-Love-Binde“, die schwer an „Ein Herz für Kinder“ erinnert, darf nicht getragen werden. Sonst fliegt unser zwischen den Pfosten fliegender Kapitän oder vielleicht gleich die ganze Mannschaft raus – zumindest nach Punkten. Nach dem Japan-Spiel wäre eines daran allerdings ein interessantes Novum der WM-Geschichte gewesen: ein Team mit Minuspunkten. Stattdessen halten sich die Spieler als Geste des Protests den Mund zu. Was daran Widerstand sein soll, erschließt sich mir auch nicht so recht – hält man sich demnächst die Augen zu, um die eigene spielerische Blindheit zu kritisieren? Die Phalanx der Schlossgespenster reagiert prompt – beim zweiten Spiel gegen Spanien halten sich einige Weißbemantelte den Mund zu und zeigen Bilder von Mesut Ösil. Wir erinnern uns: Ösil war als Nationalspieler zurückgetreten, nachdem er Rassismus beim DFB ausgemacht zu haben glaubte. Hätte er besser für die Türkei gespielt, wie sein Vater das gefordert hatte – dann hätte ihm niemand einen Vorwurf für seine Erdogan-Verehrung gemacht. Doch das ist Schnee von gestern, bleiben wir im Hier und Jetzt. Was könnte man also tun, um Katar die gelbrote Karte zu zeigen?

Ein starkes Zeichen wäre es, wenn die Mannschaften, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen, mit den entsprechenden Schiedsrichtern ihrer Partien verabreden würden, dass gleich nach 60 Sekunden eine Schweigeminute für die gestorbenen Bauarbeiter eingelegt wird. So jedoch bleibt alles wie von den Mächtigen gewünscht und Infantino gönnt sich eine hämische Show-Einlage, indem er sich über die One-Love-Binde der deutschen Innenministerin – was macht dieser trampelige Mensch da bloß so ganz alleine auf der VIP-Tribüne? – lustig macht.

Bleiben wir kurz beim 21.11.2022, dem Datum des Bindenverbots. Denn dies ist kein historischer Tag, sondern nur ein weiteres tragisches Datum, an dem sich Geld gegen Gewissen durchsetzt. Dafür will der DFB nicht mehr für Infantino als FIFA-Chef votieren. Buh – jetzt fürchtet sich der Gianni aber! Wozu braucht er Deutschland, wenn er sowieso alle nach Belieben am Ring durch die Manege des weltweiten Stadionrunds zerren kann? Wenn Infantino seine Vorstandszeit ungelyncht übersteht, hat er finanziell doch sowieso ausgesorgt. Und zwar für mehrere Leben. Am schlimmsten sind – soweit der Sprachschatz es zulässt – die kunstvoll gedrechselten Erklärungen von Fußballern und anderen Nutznießern dieser Fußballfarce, die in das weltweite moralische Versagen des Spitzenfußballs Fortschritte oder gar Erfolgsmomente hineininterpretieren. Als das erste Mal Katar im Zusammenhang mit dem WM-Turnier auftauchte, dachte ich in Anlehnung an einen alten Sponti-Spruch: „Stell dir vor, es ist WM, und keiner geht hin!“ Hätte funktioniert, da bin ich mir sicher.

Wir erinnern uns an Muhammad Ali, der seinen WM-Titel verlor, weil er den Kriegsdienst verweigert hatte. Nie wieder boxen soll er, wetterten die großen amerikanischen Boxverbände. Na und? An wen erinnern wir uns heute? Wer ist immer noch das größte US-amerikanische Sport-Vorbild – auch für viele Nicht-Boxer? Und wie heißen diese albernen Boxverbände eigentlich noch mal? Kein Fußballer und kein nationaler Verband soll mir vorgaukeln, er sei selbstbewusst oder habe gar ein Signal mit irgendetwas gesendet, das sowieso morgen wieder vergessen sein wird. Schisser sind sie, alle zusammen, und haben schlichtweg Angst davor, Geld oder die Chance auf einen weiteren Titel zu verlieren. Peinlich. Beschämend. Bettnässerisch. Wenn sich nur ein gutes halbes Dutzend der namhaftesten Fußballnationen zusammengetan hätte – sagen wir mal: Deutschland, England, Frankreich, Holland, Belgien, Spanien und Portugal – dann wäre das korrupte Konstrukt zusammengeklappt und niemand wüsste mehr, wo Katar überhaupt liegt. By the way: Die oben aufgelisteten Länder liegen alle in Europa. Na, das wäre doch mal ein Anlass gewesen, der dahinsiechenden EU neues Leben einzuhauchen.

In Abwesenheit der stärksten Europäer würden wahrscheinlich die Brasilianer den Wüsten-Cup mitnehmen – wenn sie es nicht ohnehin tun werden – doch böte dieser beschämende Titelgewinn nicht auch für sie einen Anreiz, die „Copa América“ und den „CONCACAF Gold Cup“ endlich komplett zusammenzulegen und einen panamerikanischen Titel auszuspielen? Naja, Brasilien ist zwar selbst gerade eine Art Diktatur, aber das ändert sich hoffentlich bald wieder. Auf jeden Fall könnten sie alle zusammen eine „Copa Panaméricana“ ausspielen. Dann könnten Europa und Amerika ihre eigene WM – ein Name, der nicht von der FIFA geschützt ist, sollte sich finden lassen – auf die Beine stellen, die Pazifik-Staaten dazu einladen und die FIFA wäre neutralisiert. Passt doch perfekt zu deren Stammsitz, der Schweiz.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden