Blutende Literaten

Bücherkalender Doris Brandt tourt zwischen Kunst, Kommerz und Dickblattgewächsen, während sie zwischen den Zeilen liest

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„On the road“, so beschreibt der namenslose Ich-Erzähler und Tour-Manager das rastlose Leben mit seinem Freund dem labilen, eigenwilligen und unberechenbaren Dichter Erik. Gerrit Jöns-Anders neuer Roman „Kunststoff“ ist in gewisser Weise auch eine Reminiszenz an Jack Kerouacs 1957 erschienenen Roman „On the Road“, der als Manifest der sogenannten Beat Generation gilt.

Ja, der Roman „Kunststoff“ ist auch eine Art niedergeschriebener Roadmovie und nein, er ist dennoch kein weichgespülter Abklatsch. Mit vielen Stationen und Brüchen ist es ein Buch der heutigen Zeit, das verflechtet und spaltet: Dickblattgewächse im mütterlichen Wohnzimmer, Designer-Teppiche der Wiener Schickeria, kalbende Kühe, auf flippig machende Bürgerkinder, berechnender Sex, unberechenbare Liebe sowie nicht zuletzt Kunst und Kommerz.

Das Buch handelt von einer Lesereise zweier permanent besorgter und denkender Menschen Mitte Dreißig. Stationen dieser Reise sind Städte wie Berlin, Frankfurt, München und Wien. Rückzug bietet ein Bauernhof mit einem wiederum nicht ganz unkomplizierten Kommunenleben dreier Männer und einer schwangeren Frau. Der Roman beschreibt die gegenwärtige Literatur-Szene mit realistischem Blick, ganz gleich ob überschaubare Sub-Kultur-Lesung mit hornbebrilltem Publikum des kreativen Prekariats oder PR-Veranstaltung mit Krawatte und Pailletten. Literatur über Literatur mit einem Showdown, in der Kultur und Kommerz gnadenlos aufeinander prallen.

Mit detaillierten und lebendigen Beschreibungen seiner Menschen und Orte zeigt der Roman „Kunststoff“ Kopfkino: mal eine gesichtslose Hochhauswohnung in Köln, mal eine Äppelwoi-Kneipe in Frankfurt, mal einen ehemaligen Fremdenlegionär, mal eine Germanistikstudentin auf einer nächtlichen Taxifahrt durch Wien. Hängen bleiben tun die Dialoge und Gedanken der Protagonisten, die ganz nebenbei gespickt sind mit Jöns-Anders feinsinnigen Analysen gesellschaftlicher Probleme und Generationskonflikte. Sätze wie „Unsere Gesellschaft war so durchtherapiert, dass auch das letzte Rätsel, die letzten Geheimnisse in Suchmaschinen nachgelesen werden konnten“ prägen sich über die Handlung hinaus ein.

„Kunststoff“ ist kein Buch für die Beat Generation, sondern ein Buch über die Rastlosigkeit der heutigen Zeit und ihren Menschen, die zwischen den Stühlen sitzen und oft vom Kommerz getrieben sind. Ein Buch über Dinge, die man weiß, aber noch nicht auf diese Weise reflektiert hat. Der Roman wurde jüngst mit 500 Exemplaren vom Hamburger Independent-Verlag Minimal Trash Art veröffentlicht. Eine höhere Auflage war aus Kostengründen nicht möglich.

Die drei Fragezeichen:

1. Wie lautet der erste Satz des Buches?

Berlin ist wie ein Eimer Kleister.

2. Wer oder was wärst du gern in diesem Buch?

Der Bauernhof.

3. Wen könnte das Buch besonders begeistern?

Schreibende Menschen, lesende Menschen, rastlose Menschen, denkende Menschen.

Gerrit Jöns-Anders: „Kunststoff“, Roman, ca. 330 Seiten, Taschenbuch, ca. 15,90 €, Minimal Trash Art (MTA)

Bücher, für die wir als LeserInnen brennen, werden vom 1. bis zum 24. Dezember vorgestellt. Eine Koproduktion von Amanda, Calvani, Goedzak, H.Hesse, Kay.kloetzer, Magda und Mcmac.

Heute mit einem Beitrag von Doris Brandt.

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Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

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