Die Mathematik der Manipulation

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Als ich die Geschichte zum ersten Mal las, beschlich mich gleich das Gefühl, dass irgendetwas an ihr nicht stimmte. Aber ich glaubte ihr trotzdem. In einem Lehrbuch für Steuerrecht bin ich ihr begegnet. Auf den ersten Seiten.
Vielleicht bin ja auch ich nachlässig, ignorant und hochtrabend, jedenfalls fiel mir das erwähnte Lehrbuch gestern beim Aufräumen wieder in die Hände und aus einer Laune heraus habe ich die ersten Zeilen dieser Geschichte gegoogelt. Die meisten Seiten, die mir die Datenkrake zu dieser Geschichte ausspuckte, zitierten sie unkommentiert. Andere stellten die angegebene Autorenschaft in Frage oder konterten in spitzfindiger Weise. Ich habe - und dieses Vorgehen scheint meinen hochtrabenden Charakter endgültig zu belegen - etwas anderes gemacht: Ich habe meinen Taschenrechner gezückt, mich auf meinen Hosenboden gesetzt und gerechnet. Aber bevor ich wahlweise meine Genialität unter Beweis stelle oder mich als mathematische Nulpe oute, will ich nicht versäumen, zunächst die Geschichte wiederzugeben. Und zwar genau so, wie sie in meinem Lehrbuch (sic!) unter der Überschrift "Über Gerechtigkeit im Steuerrecht" steht:

"Es waren einmal zehn Männer, die jeden Tag miteinander zum Essen gingen. Die Rechnung für alle zusammen betrug jeden Tag genau 100 $. Die Gäste zahlten ihre Rechnung wie wir unsere Steuern. Die vier Ärmsten zahlten nichts, der Fünfte zahlte 1 $, der Sechste 3 $, der Siebte 7 $, der Achte 12 $, der Neunte 18 $ und der Reichste zahlte 59 $. Das ging eine Zeit lang gut. Bis der Wirt Unruhe in das Arrangement brachte, indem er vorschlug, den Preis für das Essen für die Gruppe um 20 $ zu reduzieren, weil sie alle so gute Gäste waren. Jetzt kostete das Essen für die Gruppe nur noch 80 $.

Wie konnten sie die 20 $ Ersparnis aufteilen, dass jeder etwas davon hatte? Für die ersten Vier änderte sich nichts, sie aßen weiterhin kostenlos. Die übrigen Sechs stellten schnell fest, dass 20 $ geteilt durch sechs Zahler 3,33 $ ergibt. Aber wenn sie das von den einzelnen Teilen abziehen würden, bekämen der fünfte und der sechste Gast noch Geld dafür, dass sie überhaupt zum Essen gehen.

Also schlug der Wirt den Gästen vor, dass jeder ungefähr prozentual so viel weniger zahlen sollte, wie er insgesamt beisteuere. Heraus kam folgendes. Der fünfte Gast, ebenso wie die ersten vier, zahlte ab sofort nicht mehr (100 Prozent Ersparnis). Der Sechste zahlte 2 $ statt 3 $ (33 Prozent Ersparnis), der Siebte zahlte 5 statt 7 $ (28 Prozent Ersparnis). Der Achte zahlte 9 statt 12 $ (25 Prozent Ersparnis). Der Neunte zahlte 14 statt 18 $ (22 Prozent Ersparnis) und der Reichste zahlte künftig 50 statt 59 $ (15 Prozent Ersparnis).

Jeder der Sechs kam günstiger weg als vorher, trotzdem machte sich Missmut breit. "Ich habe nur 1 $ von den 20 $ bekommen", sagt der sechste Gast und zeigt auf den zehnten Gast, den Reichen. "Aber er kriegt 10 $". "Stimmt rief der Fünfte. Ich habe nur 1 $ gespart und er spart zehnmal so viel wie ich." "Wie wahr", rief der Siebte. "Warum kriegt er 9 $ zurück und ich nur 2?" "Alles kriegen mal wieder die Reichen." "Moment mal", riefen da die ersten Vier. "Wir haben überhaupt nichts bekommen. Das System beutet die Ärmsten aus." Und wie aus heiterem Himmel gingen die Neun gemeinsam auf den Zehnten los und verprügelten ihn.

Am nächsten Abend tauchte der Reiche nicht zum Essen auf. Also setzten die übrigen Neun sich zusammen und aßen ohne ihn. Als es an der Zeit war, die Rechnung zu bezahlen, stellten sie etwas Außerordentliches fest: Alle zusammen hatten nicht genügend Geld, um auch nur die Hälfte der Rechnung bezahlen zu können. Und wenn sie nicht verhungert sind, wundern sie sich noch heute.

David R. Kamerschen, University of Georgia, U.S.A."

Stutzig machte mich sofort die 100 Prozent Ersparnis des fünften Gastes. Er zahlte zuvor 1 $ von 100 $, also genau 1 Prozent der gesamten Rechnung. Wenn er seinem Anteil entsprechend prozentual an den 20 $ Nachlass beteiligt werden soll, dann macht das 0,20 $, er müsste also weiterhin 0,80 $ zahlen. In der Geschichte aber zahlt er gar nichts mehr. Wie kommt also die 100 Prozent Erparnis zustande?


Der 6. zahlte ursprünglich 3 $ von 100 $, also 3 Prozent. Von den einzusparenden 20 $ entfielen auf ihn folglich 0,60 $. Er müsste eigentlich weiterhin 2,40 $ zahlen.

Und so weiter und so fort. Was hat nun der Autor mit diesen Zahlen gemacht? Er hat sie offenbar gerundet. Dabei hat er alle noch zu zahlenden Anteile abgerundet nur den Anteil des Reichsten nicht - den hat er von 47,20 $ auf 50 $ aufgerundet.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt... oder habe ich am Ende falsch gerechnet?

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Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

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