Es wütet sehr

Bücherkalender Von drauss' vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es wütet sehr. Allüberall auf den Tannenspitzen sah ich verwunderte Leser sitzen

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Der Stein, der die Sache, die es jetzt und hier vorzustellen gilt, ins Rollen brachte, war zunächst nichts Besonderes. Ich saß wie der Affe auf dem Schleifstein auf dem Sattel meines heimeligen Trimm-dich-Rads, während meine Beine in gleichförmigen Kreisen in die Pedalen traten, die Füße in dicken Wollsocken an den Pedalen festgeschnallt. Diese körperlichen Ertüchtigungen, die ich nicht Sport nennen will, weil sie weder der Verschönerung meiner Beine, noch der Reduktion meines Körpergewichts, noch der konsequenten Verfolgung eines Leistungsziels dienen, sondern einzig und allein der Klärung meines Geistes, denn Geist ist geil, entspannen mich regelmäßig und versöhnen mich mit mir und der Außenwelt. Ich saß also da, versöhnlich gestimmt, dem Affen gleichend und die Ohren gespitzt, denn es galt dem Zauberkünstler, einem der besten dem Realismus verpflichteten Chronisten unserer Zeit zuzuhören. Nicht wirklich ihm, sondern vielmehr seinem Machwerk Saturday - die Rede ist natürlich von keinem Geringerem als Ian McEwan. Jan Josef Liefers hockte in meinen hüfthohen Boxen versteckt und las mir beflissentlich aus McEwans Roman vor und in mir stieg die blanke Wut auf. Ich trat heftiger in die Pedalen, kam aber nicht von der Stelle, die Wut wuchs und wuchs und wuchs. Und es waren die kleinen Dinge, die scheinbaren Nebensächlichkeiten, die umso schwieriger einzufangen und auf die Anklagebank zu katapultieren sind, die sich aber im Laufe meines nicht mehr allzu jungen Leselebens offenbar angehäuft haben. Eine Bemerkung hier, ein Einschub da. McEwan zog meinen Zorn gleich auf sich, indem er den ersten Satz seines Buchs so beginnt: Henry Perowne, ein Neurochirurg, wacht einige Stunden vor Tagesanbruch auf (…)

Das Wichtigste, das, was sofort und unmittelbar über den nächtlich erwachenden Protagonisten Henry mitgeteilt werden muss, ist sein Beruf. Sein Status. Seine soziale Zugehörigkeit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Sandmännchen auch Neurochirurgen ein paar Schlafkrümel in die Augen streut, dass wegen des reduzierten Speichelflusses auch in Mündern schlafender Neurochirurgen viele Bakterien ein Stinkfest feiern, aber wo kämen wir denn da hin, wenn wir nicht unverzüglich erführen, mit was für einem bedeutenden Zeitgenossen wir es hier zu tun haben. Der wichtige Henry wacht also auf, beobachtet am geöffneten Fenster stehend und - ich zitiere: „gegen die Kälte so immun wie eine Marmorstatue“ einen Flugzeugabsturz und geht seinen Gedanken nach, während ich immer wütender werde. Ich muss mich nämlich gegen Kälte mit dicken Wollsocken und anderem Equipment schützen, Henry hingegen ist gegen Kälte so immun wie eine Marmorstatue. Toll! Marmorstatuen-Henry denkt am Fenster stehend an die Operationen des vergangenen Tages und ihre Krönung, nämlich die „Entfernung eines pilozytischen Astrozytoms“ und die dazugehörige rebellische Patientin Andrea, denn Henry gefielen ihr Kampfgeist, ihre dunklen blitzenden Augen, ihre makellosen Zähne und ihre saubere rosa Zunge. Und wir alle wissen doch, dass zwischen makellose Zähne und eine saubere rosa Zunge ein erigierter Pipimann geschoben gehört. Letzteres schreibt McEwan natürlich nicht explizit, aber ich verstehe, dass er das gemeint haben muss. Schließlich weiß ich an dieser Stelle über Marmorstatuen-Henrys Zunge und Zähne noch nichts. Gar nichts. Aber Henry ist ja auch Neurochirurg und gegen Kälte so immun wie eine Marmorstatue, damit ist seine männliche Attraktivität ohnehin hinreichend bestimmt. Und wie McEwan sich all dieser exotisch neurochirurgischen Fachtermini bemächtigt hat! Wie souverän er damit um sich schmeißt, fast möchte ich sagen: angibt. Supi. Wirklich supi. So supi, dass ich meine Füße losschnallte und dem McEwan lesenden Liefers den Saft abdrehte. Schluss für heute. Schluss mit Saturday, Schluss mit dieser antiquierten Altherrenperspektive, die mich so wütend macht.

Nun bin ja auch ich mit den Jahren weiser geworden und inzwischen eigentlich der Meinung, dass Wut über Bücher besser anderweitig kanalisiert werden sollte als dadurch, sie anderen um die Ohren zu hauen, aber Ausnahmen bestätigen nun mal die Regel. Also habe ich an Türen geklopft, Anrufbeantworter besprochen und Mails geschrieben, um andere davon zu überzeugen, ihr Dasein als Gutmensch für einige Momente zu vergessen und sich eben nicht in Schwärmereien für das gedruckte Wort zu verlieren, sondern Gift und Galle zu spucken, wenn sie es nur können. Naja, eine Nummer kleiner geht‘s natürlich auch. Wie dem auch sei, hier geht er jetzt los, der Count-down-Kalender gegen Weihnachtsbeschwerden, Fehlkäufe und allzu viel Behaglichkeit.

Und morgen, Kinder, wird’s das geben: Axel Brüggemann lässt die Hosen runter und wärmt eine alte Feindschaft wieder auf

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Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

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