Größe ist relativ

Sommer Kleine Erinnerungen aus Kinderzeiten werden an heißen Sommertagen manchmal wieder ganz groß

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Dass es nicht auf die Größe ankommt, ist in dieser Allgemeinheit ein Märchen, das Männer wohl davor bewahren soll, dem körperlichen Norm- und Konformitätsdruck zu erliegen, dem Frauenkörper ohnehin ausgesetzt sind. Aber wie relativ die Größenwahrnehmung doch sein kann, wurde mir vor ein paar Tagen wieder klar, als ich meinen Schuppen entrümpelte. Ich fand zwischen lauter Gartengerätschaften und uraltem Nippes eine Bambusliege, auf der ich als Kind sehr oft im Garten meiner Tante gelegen hatte. Damals schleppte ich das monströse Ding immer auf der Jagd nach einem schattigen und noch besseren, noch lauschigeren Plätzchen durch den gesamten Garten und ließ mir partout nicht dabei helfen. Ich weiß es noch genau.

Vor ein paar Tagen nun sah ich zunächst nur eine Ecke der Liege aus all dem Krempel ragen und wusste doch sofort, um was es sich handelte. Auch die Schaumstoffauflage für diese Liege fand ich. Bordeauxrot mit immer demselben orientalisch anmutenden Ornament in Dauerschleife. Dieses Muster war mir nach bestimmt 20 Jahren, in denen ich es nicht gesehen hatte, immer noch vertraut. Äußerst überrascht hat mich hingegen die Größe der Liege und ihrer Auflage: Während in meiner kindlichen Erinnerung beides überlebensgroß war, belehrte mich die erwachsene Realität eines Besseren. Höchstens ein Meter zwanzig maß die Bambuskinderliege. Höchstens.

Auch bei meinen abendlichen Spaziergängen zum sommerlichen Tagesausklang begegnet mir die Größenrelativität meiner Kindheit zu der als Erwachsenen. Wenn ich einen schmalen Schleichweg parallel zu den Bahnschienen, über die in meinen Kindertagen nur Kohlewaggons fuhren, einschlage, komme ich an dem Hintertor des Gartens vorbei, der zu der Mietwohnung gehört, in der ich als kleines Mädchen gewohnt habe. Von meinem Kinderzimmer aus konnte ich täglich die offenen Waggons mit den Kohlebergen darin vorbeiruckeln sehen. Heute saust über die Schienen am Ende des Gartens meiner Kindheit ausschließlich Personennahverkehr. So ändern sich die Dinge. Und so bin ich immer wieder aufs Neue entsetzt, wie klein der Garten ist, der mir vor allem in den Sommertagen wie eine eigene große Welt erschien. Heute dagegen alles klein. Klein-klein. Die Wiese, der Baum, an dem meine Schaukel hing, bis sie krachte, weil sich unsere beleibte Nachbarin darauf setzte – ich habe es mit eigenen Augen gesehen, war das ein Spaß!, - und die Nutzbeete.

Hatte ich Freunde zu Besuch, mopsten wir immer Petersilie, Schnittlauch und Erbsen, wenn wir im Garten spielten, und stopften uns alles roh und ungewaschen in den Mund. Nicht dass uns das hastig abgerissene Grün wirklich geschmeckt hätte. Es ging um etwas Anderes. Und noch eine seltsame kulinarische Leidenschaft aus dieser Zeit fiel mir kürzlich in der Sommerhitze wieder ein: War es heiß genug, um im Planschbecken zu planschen, ließ ich heimlich nah am Rand des Beckens Fruchtgummi ins Wasser plumpsen, damit er auf den Planschbeckengrund sank. Drei, vier Stück, nicht mehr. Abends dann, wenn schon lauter Grashalme und tote Insekten im Planschbecken schwammen, fischte ich den Fruchtgummi aus dem Becken, untersuchte seine Konsistenz mit allen zehn Fingern und aß den vom warmen Wasser aufgeschwemmten Fruchtgummi mit Hingabe. Je größer und schwabbeliger, desto besser.

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Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

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