I can't get no desinfection

Bücherkalender Amanda wirbt für Schnee, Weh und Höh'

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Der neurotische Erzähler und sein Freund sind eigentlich nicht gesellschaftsfähig.“, schreibt jemand, den ich darob sehr bewundere, weil er offensichtlich weiß, was a) neurotisch, b) die Gesellschaft ist UND c) die Fähigkeit in jener zu bestehen / funktionieren / keine Irritationen hervorzurufen ganz klar eingrenzen kann, auf die Rückseite des hier besprochenen Buches. Dass fürderhin „Brigitte“ und der „Stern“ zitiert werden, hängt mit der Verwahrlosung des Klappentextes insgesamt zusammen, die seit Jahren, ja Jahrzehnten in D fröhliche Urständ feiert.

Vorn* fahren ein grünes, ein rotes und ein gelbes Auto einen Schneeberg hinauf, oben steht ein Haus, das dunkel, ohne Fenster und mit schneebedeckten Schindeln eher semi-heimelig wirkt. Hinten fahren ein grünes und ein rotes Auto einen Schneeberg hinab, kein Haus, nirgends, bzw. ist das Haus ja auf der anderen Seite und wenn wir aufklappen, haben wir also drei Autos, die hinauf fahren, hinein ins Haus, in die Geschichte. Und nur zwei, die hinausfahren. Oha.

„Keiner versteht mich“, das Credo ungezählter menschlicher Existenzen, die mal mehr, mal weniger heimlich gefahrene Sicht auf sich und das Großeganze, scheint d.V. um einiges entfernt vom Begriff „neurotisch“, dazu ziehen die „Normalen“ sich allzu gern ein „Unnormalen“jäckchen an und lassen Verständnis, Harmonie und Empathie da, wo sie hingehören: In kekskrümelnde Adventskaffeekränzchen, die im Kerzenscheine die Wangen samten machen.

Der „Erzähler“ ist ein Glückspilz sondergleichen, und das weiß er auch, weil er, Alien wie wir alle, wen gefunden hat, der da ein Herz wie seins usw., das Seelchen zum Klingen bringt, in dessen Gesellschaft er etwas fahren kann, das mit Authentizität noch lax beschrieben ist. Welch Luxus! Wie schön ist die Welt, wenn sie mir gehört, und dir, mensch! Uns! Das ist so weit wie nah vom das Hirn ramenternden Gedöns der Liehiebe entfernt, das ist – mehr als Liebe.

Cromwell (sic!) ist der andere Flügel, mit dem sich fliegen lässt, dessen Päckchen dunkel dräut, der zum Erzähler sagt: „Du bist wie ich und wer bist du.“ (Funny van Dannen), und weil er das – nicht wörtlich im Buche, aber Sie wissen schon – sagt, kann sich der „neurotische Erzähler“ gleichzeitig erfreuen am Umstande, dass er ein „Du“, demnach also auch ein „Ich“ ist, UND darüber hinaus auf Verständnis bauen, Persönlickeitsklötzchen herzeigen, einschieben, stapeln kann mit des andern Hilfe.

Das „Oha“ der Geschichte ist Cromwells aktuelle Freundin. Hier wird es gemein, sehr gemein, und es könnte lohnend sein, den aus Eifersucht, Charakterzug-Ablehnung, Klischee-Alarm und Eigenem-Haustür-Dreck zusammen gewürfelten Furor, der jener entgegenschlägt aus dem Herzen des Erzählers, sich einmal bezüglich Gender** usw. anzuschauen. In dieser sprachlich geschmeidig borowiaesk daherkommenden „Sommerbeichte“ (Untertitel) treten drei Männer und drei Frauen auf, die spielfreudig entworfen werden: Zwei dürfen sich entwickeln, d.h. dem Erzähler und dem Leser entpellen, auf dass sie sympathischer werden. Zwei bilden Pol und Antipol. Und zwei bewegen sich in ihrem eigenen Sonnensystem, das wie oben nur unzureichend mit „nicht gesellschaftsfähig“ interpretiert ist. Der Ort, dieses Haus, alle auf einem Haufen, teils einander kennend, teils nicht, teils alte Geschichten miteinander habend, teils nicht, bietet beste Eigener-Saft-Strukturen, in denen geschmort wird, dass die Schwarte kracht. Außerdem spielt die Geschichte im Winter, und das passt just sehr kuschelmächtig, und es gibt ein 'Oha', das beim Lesen so nicht unbedingt zu erwarten ist.

Über Cromwell, unbestrittener Star dieser Geschichte, werden wir im nächsten Buch des Autors noch mehr erfahren. Mit den Auftritten in „Pawlows Kinder“, „Schade um den schönen Sex“, „Du sollst eventuell nicht töten“ und im vorliegenden Werke hat der schüchtern-arrogante Qualenkenner (In der Geschlossenen, oder Halboffenen, lernen er und der Erzähler sich kennen, und als Cromwelll sagt: „I can't get no desinfection.“ - Seite 136), ist dies der Beginn derer Freundschaft.) sich für eine ausführliche Betrachtung sehr anmutig anempfohlen.

Was hiermit für „Wer Wem Wen“ von Simon Borowiak geschehen, Heyne, 2009. Für Puristen auch Eichborn, 2007.

* Umschlaggestaltung Christina Hucker unter Verwendung einer Zeichnung von Simon Borowiak

** Wg. Advent sei hier darauf verzichtet, rahmensprengend, wie ja so oft, wenn es um Gender geht.

Die drei Fragezeichen:

1. Wie lautet der erste Satz des Buches?

„Draußen herrscht gerade ein besonders heftiger Stadtsommer.“

2. Wer oder was wärst du gerne in diesem Buch?

Na ja... Schon: Heike.

3. Wen könnte das Buch besonders begeistern?

Jemand, der auch mal über Folgendes sinnieren möchte: „Überall bei unseren Nachbarn beginnt das mit P: Peace, Paix, Pace. Nur bei uns: F-Frieden. Noch nicht mal Pfrieden. Was sagt uns das?“ (Ebd., Seite 83)

Bücher, für die wir als LeserInnen brennen, werden vom 1. bis zum 24. Dezember vorgestellt. Eine Koproduktion von Amanda, Calvani, Goedzak, H.Hesse, Kay.kloetzer, Magda und Mcmac.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

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