Jakob Augsteins Freundschaft - Die Politik der kleinen Dinge

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Ich trage nur ein Bikinihöschen und beobachte den braungebrannten Jüngling, der mit seinen Füßen große Kreise in den feuchten Sand zeichnet, um nach der nächsten zerstörerischen Welle wieder von vorne zu beginnen. Ob er mein Freund sein will, frage ich ihn ganz unverblümt. Er schaut mich erschrocken an, läuft davon und schreit: „Mami! Mami!“ Ich schiebe meine Unterlippe vor, starre auf die schäumende Gischt und bleibe enttäuscht zurück. Was stimmt denn mit mir nicht?


Viele Jahre später. Der Freitag zwei Wochen vor Weihnachten, überraschend sind gewaltige Mengen Schnee vom Himmel gerieselt, ganz Köln feiert Betriebs-Weihnachtsparty. Meine Freundin Isabelle hat einen neuen Freund und der ist Financier, weshalb auch mir heute die Ehre zu Teil wird, auf der Gästeliste des NN zu stehen, und ich sitze im Taxi eben dorthin. „NN?“ fragt der Taxifahrer, „Das ist doch diese Nobeldisco im Friesenviertel, oder?“ Ich brumme zustimmend. Am Ziel eingetroffen stelle ich früh fest, zu spät gekommen zu sein, alle sind schon betrunken und grölen. „Finger weg!“ belle ich den mir soeben vorgestellten Freund des neuen Freundes meiner Freundin Isabelle an, der offenbar der Meinung ist, gleich nach der Vorstellung meine Hüften tätscheln zu dürfen. Ich lasse ihn stehen, setze mich an unseren VIP Tisch, neben dem die Mannschaft einer Werbeagentur feiert, dessen Geschäftsführer auch ein Freund des neuen Freundes meiner Freundin Isabelle ist. Er torkelt an unseren Tisch und ehe wir uns versehen, kotzt er auch schon in den Sektkübel. Die Brühe läuft über die Tischplatte, der Prokurist bleibt neben der Entscheidungsträgerin eines großen Geldinstituts sitzen und befingert unbeeindruckt das Dekollete der Dame. Ich dagegen springe auf, bringe Mantel und Tasche in Sicherheit und denke: Nobeldisco. Soso.


Viele Monate später. „Jeder Mensch ist doch inzwischen bei Facebook!“ konstatiert meine Freundin Isabelle in einem Nebensatz. Da ich es aber nicht bin, wird mir komisch. Na gut. Ich melde mich an, lade ein Foto hoch und schließlich öffnet sie auch mir ihre Tore: die schöne neue Welt. Ich blockiere die Suchfunktion, stelle wie im realen Leben meine persönlichen Inhalte nur meinen engsten Freunden zur Verfügung, bin darüber hinaus erstaunt, welche Kontaktmöglichkeiten ein soziales Netzwerk für menschenscheue Individuen wie mich hat, und schicke deshalb neugierige Nachrichten an interessante Menschen, z.B. Jakob Augstein. Bekomme prompt eine Antwort und eine Freundschaftsanfrage zurück. Macht man das so? Freundschaft ist mir wichtig und eben nicht identisch mit Bekanntschaft oder Geschäftsinteresse, weder im Kleinen noch im Großen. Ich denke an die einstigen Freundschaftsbekundungen zwischen Mubarak und Merkel, also frage ich den kritischen Meinungsjournalisten Augstein via Facebook, welchem Zweck das öffentliche Bekenntnis zu Freunden dient, insbesondere wenn man diese gar nicht kennt. Schweigen. Ich starre bedrückt auf den Bildschirm und weiß immer noch keine Antwort auf die Frage: Was stimmt denn mit mir nicht?


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Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

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