Michael Jäger: Coram Deo

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Calvani: Welche Veränderungen ergeben sich für deine Arbeit als Redakteur durch die Möglichkeit der User selbst Blogs zu schreiben und Blogs und Artikel zu kommentieren?

Jäger: Die Blogs der User zeigen mir, für wen ich schreibe, ihre Kommentare, wie das, was ich schreibe, verstanden wird. Besonders vom Ersten, im Grunde aber auch vom Zweiten hatte man vorher nur eine vage Vorstellung trotz der Leserbriefe, die es immer schon gab. - Die User analysieren selbst schon die Sachen, die ich dann auch analysiere, so dass ich mehr antwortend schreiben kann. Und sie erweitern durch ihre Berichte etwa von der Auseinandersetzung um S 21, von Occupy-Schauplätzen oder aus Syrien das Erfahrungswissen, auf dem ich aufbauen kann. - Eine mehr banale Veränderung ist die, dass der Zeitaufwand steigt. Man liest sich oft noch nachts durch die Blogs und Kommentarstränge und kommentiert gelegentlich ja auch selbst. Aber das ist „Arbeit“ und „Freizeit“ zugleich, da es nicht nur wichtig, sondern einfach auch spannend ist, zu sehen, aus welcher Art Individuen der „irgendwie linke“ Teil der Gesellschaft real besteht, und da virtuelle Freundschaften entstehen.

Calvani: Wodurch zeichnen sich Blogs und Kommentare aus, die du besonders schätzt und warum?

Jäger: Dadurch, dass sie die Frage „Wie geht es dir?“ beantworten, oder wie geht es anderen, wenn es gelingt, das zu erzählen, und/oder dadurch, dass sie Denkanstöße geben.

Calvani: Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Texte zur "Anderen Gesellschaft" als fortlaufenden Blog zu veröffentlichen? Welche Erwartungen wurden erfüllt, welche nicht und welche vielleicht sogar übertroffen?

Jäger: Als Zeitungsschreiber muss man sich immer kurz fassen, hat „6000 Zeichen“ oder so. Das ist gut, denn in der Kürze liegt die Würze. Je kürzer, desto wirksamer. Am wirksamsten sind bekanntlich die Reklamesprüche, denen setzen wir etwas entgegen. Dennoch gibt es Dinge, die sehr ausführlich bedacht sein wollen, und die Frage, welche Zukunft der Gesellschaft wünschenswert ist, gehört mit Sicherheit dazu. Diese Frage war ja auch immer zentral im jetzt über 20jährigen Bestehen der Zeitung. Archinauts Motto „Ich schreibe um unser Leben“ ist zwar sehr dramatisch formuliert, es ist aber im Grunde die richtige Einstellung, finde ich. Ich habe also die Gelegenheit ergriffen, „rücksichtslos“ lange nachzudenken und auch zu schreiben, so ausführlich eben, wie es die Sache erfordert. Davon ist das fortlaufende Blog die Konsequenz. Erfüllt wurde meine Erwartung, dass Einige es auch lesen. Dass an manchen Brennpunkten längere Debatten entstehen, übertrifft meine Erwartung schon fast. Schade finde ich es, dass nicht noch viel mehr User in ihren Blogs über die Zukunft der Gesellschaft nachdenken. Ich hätte mir auch gewünscht, dass der Community-Support eine eigene Rubrik für Blogs dieser Art einrichtet.

Calvani: Was würdest du an der Community verbessern und was wünschst du dir von ihr bzw. ihren Usern?

Jäger: Ich möchte jetzt nur einen Punkt hervorheben, der sich mir in den letzten Debatten aufgedrängt hat: Wir sind in der Community vielfach der „Tyrannei der Intimität“ (Sennett) erlegen. Will sagen, es kommt uns ganz selbstverständlich vor, dass wir andere User anmachen können, als teilten wir seit Jahrzehnten das Wohnzimmer mit ihnen. Das ergibt doch aber überhaupt keinen Sinn. Niemand würde in einem Gespräch auf der Straße oder bei einer Einladung zum Essen, sei‘s bei Freunden oder Feinden, solche Sätzen sagen wie „Du kannst nicht richtig formulieren“, „Ich finde das affig“ usw. usf., die wir uns hier ständig um die Ohren hauen. Mit dieser Tyrannei sollten wir brechen. Alle sollten sich bei jedem einzelnen Kommentar vorstellen, sie schrieben gerade einen Brief: Das hilft vielleicht, auf diese Unmittelbarkeit, die der Zustand des Eingeloggtseins nur vorspiegelt, nicht hereinzufallen. - Ich frage mich, ob nicht eine Art Vergottung des Internets zugrunde liegt: Man gibt sich quasi coram Deo zu erkennen. Es ist ganz vergeblich, denn „uns hört niemand“, wie ein User (Lethe) richtig bemerkt hat. – Du, Calvani, machst es vorbildlich bis in den Stil hinein, denn dein Stil ist immer künstlich (und dennoch locker), und so soll es sein.

Calvani: Was ist dir noch wichtig, wonach ich vielleicht vergessen habe zu fragen?

Jäger: Was jedenfalls euch wichtig sein müsste, ist die Frage, was eigentlich mit unserer Ansage, wir seien „die größte Redaktion der Welt“, gemeint war. Sie führt zu Fragen, die noch nicht alle beantwortet sein dürften. Aber es ist euch ja auch wichtig.

(Ebenfalls zum Thema: Fragen und Antworten von und an Jakob Augstein und Wolfgang Michal.)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

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