Nazi-Greise auf großer Farce

Bücherkalender Kay.Kloetzer hat Hans Waals „Die Nachhut“ zum zweiten Mal gelesen

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Vergesst „Er ist wieder da“ von Timur Vermes! Schon 2008 ist „Die Nachhut“ aus einem vergessenen Bunker in der brandenburgischen Provinz gekrochen. Fritz, Otto, Josef und Konrad von der „1. SS-Division, 5. Stabskompanie, Wachmannschaft für DB 10“ haben 60 Jahre bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent, etwa 20 Grad Celsius und reichlich Proviant auf die nächsten Befehle gewartet. Weil man im Bunker unter einem Bombodrom in der brandenburgischen Provinz eben nicht so merkt, dass schon Frieden ist.

Als der letzte Büchsenöffner abbricht, kommen die Gestalten ans Licht, um sich auf den Weg zu machen in die „Reichshauptstadt“. Auch in der Realität des Jahres 2004 gibt es für sie keinerlei Anhaltspunkte, dass der Krieg vorbei sein könnte. Die Neonazis an der nächsten „Feldtankstelle“ etwa hält Fritz für Russen: „Wie schlecht muss es der Rotarmee gehen, dass sie ihre Soldaten inzwischen mit Holzknüppeln gegen uns schickt.“

Zu gleichen Zeit ist ein Fernsehteam mit dem altlinken Kameramann Gerd Busch („Wackersdorf war nicht umsonst!“) und seinem Assistenten Benny unterwegs, um von einer Art Ostermarsch gegen das Bombodrom zu berichten. Auf der nahen Autobahn wird ein Bus amerikanischer Austauschschüler beschossen - die Schüsse kamen aus einer Maschinenpistole aus dem Zweiten Weltkrieg, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Und Evelyn, Chefin der Sonderermittlungsgruppe gegen Rechtsextremismus, wird deshalb nachts aus dem Bett geklingelt.

Das ist die Ausgangssituation, und damit kennen wir auch die Erzähler, aus deren Sicht Hans Waal die Ereignisse eskalieren lässt: Evelyn (45) und Benny (27) sowie Fritz (75), der alles für seine „liebe Liesbeth“ notiert: „Die Not muß groß sein seit der Besatzung. In der guten Stube stehen nur Möbel aus billigem Nadelholz.“ Seine Kommentare zum Zustand der ostdeutschen Provinz sind so komisch wie tragisch: „Hinter einer Bahnschranke stoßen wir auf erste Wohnhäuser, manche frisch herausgeputzt, als stünde ein Besuch des Führers bevor. Andere wieder sehen so heruntergekommen und kaputt aus, daß sie einzufallen drohen. Dieser verdammte Krieg!“

Waal lässt alte und neue Nazis, alte und neue Linke, alte und neue Zyniker aufeinandertreffen. Er beherrscht die Kunst der beiläufigen Komik, etwa wenn die vier Greise sich wundern, dass Oma Inge „die jüngste Totalmobilmachung“ Hartz IV nennt, was „angeblich jeder fürchten muss, der sich nicht freiwillig im Westen meldet, selbst Alte und Frauen“. Bei einem gepiercten Mädchen vermutet Fritz Granatsplitter: „Ich glaube, ihr Bauchnabel wurde auch getroffen“. Im „Deutschen Haus“ liest er staunenden Neonazis die Leviten; der Verfassungsschutz hört mit - und ist beeindruckt.

Die vier Alten werden von höchster Stelle instrumentalisiert – zum Vertuschen gleichermaßen wie zum Profilieren. Darum ist der Roman eben nicht nur witzig, sondern entlarvt auch den Umgang mit deutscher Vergangenheit. Waal selbst nennt es „eine Parabel darauf, wie wir mit der Zeit des Nationalsozialismus umgehen“. Evelyn verachtet den Trend, mit Nazi-Klischees zu kokettieren, lustige Filme über Hitler oder pathetische über Vertreibung. „Niemand wühlt ewig in der Scheiße, ohne braune Finger zu bekommen.“ Und Kameramann Gerd, selten nüchtern, aber immer aufrichtig, fragt: „Was fürchtest du mehr: ihre Waffen, ihre Uniformen oder ihr Gequatsche?“

Hans Waal: Die Nachhut. Roman. Aufbau Taschenbuch; 374 Seiten, 9.99 Euro

Hans Waal ist ein Pseudonym des „Stern“ -Redakteurs Holger Witzel, dessen gesammelte Kolumnen unter den Titeln „Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land“ und „Gib Wessis eine Chance: Neue Beiträge zur Völkerverständigung“ im Gütersloher Verlagshaus erschienen sind.

Die drei Fragezeichen:

1. Wie lautet der erste Satz des Buches?

„Heute muß Karfreitag sein, und daran – meine liebe Liesbeth – kann selbst Otto wenig ändern.“

2. Wer oder was wärst Du gern in diesem Buch?

Eigentlich niemand so ganz. Ein bisschen Gerd Busch vielleicht. Aber ich gehe gern in einigen Sätzen auf und ab, zum Beispiel in diesem: „Erst wenn die Regeln mit einem erwachsen werden, braucht man ständig Ausnahmen zur Selbstbestätigung.“

3. Wen könnte das Buch besonders begeistern?

Alle, die Satire mögen. Alle, die das übliche Histotainment, die filmische oder kabarettistische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit als verklemmt empfinden. Und: Wem "Er ist wieder da" (2012) gefällt, der wird hier richtig glücklich, weil "Die Nachhut" (2008) nicht nur gewissermaßen das Original* ist, sondern viel genauer, witziger, böser und in einer darunter liegenden Nachdenklichkeit der Realität näher als dem Quatsch.

*Auf amazon.de oder buch.de werden Ähnlichkeiten zwischen der "Nachhut" und "Er ist wieder da" diskutiert, wird Vermes "Trittbrettfahrer" genannt, ist von "geklauter Grundidee" die Rede und "einigen Parallelen".

Bücher, für die wir als LeserInnen brennen, werden vom 1. bis zum 24. Dezember vorgestellt. Eine Koproduktion von Amanda, Calvani, Goedzak, H.Hesse, Kay.kloetzer, Magda und Mcmac.

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Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

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