Ost-West-Hilfe-Politik (4)

Chat2Blog .

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Kay.kloetzer: Es gibt ein neues Buch von F. C. Delius: „Als die Bücher noch geholfen haben". Es sind biografische Skizzen. Ich habe es noch nicht gelesen, aber der Titel gefällt mir, weil er mich auf ein paar Fragen bringt: Wann haben Bücher geholfen? Warum war es so? Warum ist es nicht mehr so? Ist es nicht mehr so? Wollen wir darüber reden?

Calvani: Ich meine, davon gehört zu haben, weiß aber nicht mehr in welchem Kontext und was genau. Wobei haben dir Bücher denn schon geholfen?

Kay.kloetzer: Da kommen wir leider am in letzter Zeit strapazierten Ost-West-Thema nicht vorbei. In der DDR also war Literatur Regulativ, Lehrer, Gesprächspartner, Therapeut, Urlaub, Freunde ... Natürlich nicht immer alles. Aber vieles einiges davon. Es ließ sich in Büchern leben. Und heute würde ich sagen: Sie waren so wichtig, weil es keinen anderen mehr oder weniger öffentlichen Diskurs gab. In der alten Bundesrepublik haben sie, wenn ich das in einer Rezension richtig verstanden habe, geholfen, weil sie den öffentlichen Diskurs prägen und lenken konnten. Hast Du das auch so empfunden?

Calvani: Oh, wie es sich in der alten Bundesrepublik verhielt, kann ich nicht sagen. Vor '89 habe ich nur Kinderbücher gelesen ...

Manchmal können Bücher tatsächlich eine Debatte lostreten, manchmal scheinen sie fast ausschließlich dazu geschrieben worden zu sein.

Kannst du dich an ein Beispiel erinnern? Ein Buch, das für dich heraussticht?

Kay.kloetzer: Nein, ein einzelnes Buch hätte das nicht vermocht. Es waren zu jeder Zeit andere, und gar nicht unbedingt Werke von DDR-Autoren. Auch Klassiker wurden im konkreten Alltags-Kontext anders besprochen (womit nicht Rezensionen gemeint sind, sondern Gespräche). Balzacs „Vater Goriot“ zum Beipsiel. Oder sie weckten Sehnsüchte wie Zolas „Paradies der Damen“. Ich war 1989 gerade 21, für mich war Brigitte Reimann wichtig, Volker Braun, Christoph Hein, Jurek Becker. Werner Heiduczek war es und Tschingis Aitmatow ... Tucholsky, Sartre, Brecht ... Und Christa Wolf natürlich. Von ihr sind jetzt Reden, Essays, Gespräche erschienen. Darin kann man es lesen, obwohl sie aus den Jahren nach 1989 stammen. Es hat nicht nur mit den Themen, sondern mit der Relevanz zu tun. Welche Bücher haben Dir geholfen?

Calvani: Es gibt eine kleine Handvoll Ratgeber, die mir tatsächlich geholfen haben bzw. helfen. Davon abgesehen „helfen“ mir Bücher, indem sie meine Aufmerksamkeit zentrieren, auf mich warten, mir eine Fantasiewelt erschließen.

Aber beschreib' doch mal, was sich nach deinem Empfinden geändert hat seit '89. Wann ist dir zum ersten Mal eine Veränderung aufgefallen? Und woran? Was hat sich an den Alltagsgesprächen verändert und warum?

Kay.kloetzer: So eine Hilfe wie sie Ratgeber leisten können, meine ich weniger. Die gibt es ja noch. Alice Millers Bücher beispielsweise haben bei mir unabhängig von Gesellschaftsordnungen einiges auslösen können. Ich fürchte, nach '89 ist so viel egal geworden, hier wie dort. Es schien und scheint nicht mehr nötig, sich mit Ideen zu beschäftigen, Begriff und Vorstellung von der Freiheit sind verlottert, seit es kein jeweils anderes Deutschland mehr gibt, dem es etwas zu beweisen gilt. 1990 hat es einen Schnitt gegeben. Eine Abspaltung der Vergangenheit. Schon darum, wegen dieser nach wie vor nicht vernarbten Wunde, funktioniert das mit dem Zusammenwachsen nicht so, wie es herbeigeredet werden soll. Mit diesem Schnitt haben wir uns auch von einem Teil der Literatur getrennt. Das Gefühl ist geblieben, aber die Gedanken sind im Exil. So kam es hier in den vergangenen Jahren zu Lesungen von Braun oder, als sie noch lebte, Wolf, die eher an eine SED-Stadtbezirksversammlung erinnerten. Im Publikum, meine ich. Auf diese Weise entstehen immer mehr kleine, sich nach außen abschottende Gruppen. Der Austausch, das gemeinsame Denken und - Gott bewahre - Handeln verläppern sich. Von gemeinsamen Interessen ganz zu schweigen. Mehrheit sells. Und Mehrheit liest jetzt Sachen, über die man nicht mehr reden, die man höchstens verfilmen kann. Weißt Du, mit wem ich heute über Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ von 1986 reden kann? Mit Ostdeutschen. Mit denen, die auch Robert Pfaller lesen oder Stéphane Hessel oder Bernhard Schlink und die auch nach dem vierten Bier noch Fragen haben. Ich sehe eine Banalisierung der Gesellschaftskritik als Ursache.

Du sagst, Dir helfen Bücher, die Dir eine Fantasiewelt erschließen. Ist das eine Art Flucht?

Calvani: Ja, vielleicht ist es auch eine Flucht - und zugleich Rückzug, Austausch und Abenteuer.

Verstehe ich dich richtig, dass du die Banalisierung der Gesellschaftskritik auf den Wegfall, des „anderen Deutschlands“, einer anderen Gesellschaftsordnung zurückführst? Sind dadurch die Fragen, die Kritik, der Austausch substanzloser bzw. weniger existenziell geworden?

Kay.kloetzer: Sie erscheinen weniger wichtig als anderes und es scheint ja auch, als könnten sie zu nichts mehr führen. Das hat aber eher schon angefangen, eben mit der Individualisierung und auch mit der Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben. Mal zugespitzt: Wenn ich den ganzen Tag überlegen muss, welchen Joghurt ich wo kaufe, wann ich die Kinder zu welcher Nachhilfe fahre und in welchem Fitness-Studio ich die Überforderung im Job kompensiere - das heißt, wenn ich den ganzen Tag an der Hülle flicke, dann bleibt nicht mehr viel Zeit für die Füllung.

Nun aber zu Dir: Könntest Du Dir vorstellen, ganz auf Literatur zu verzichten?

Calvani: Nein! Warum sollte ich das auch tun? Mir fällt aber auf, wie misstrauisch ich Literatur gegenüber geworden bin. Ob es sich wohl lohnt, dieses oder jenes Buch zu lesen? - frage ich mich oft. Aber ich vermute, noch schlimmer wäre es für mich, wenn ich auf Musik verzichten müsste. Wie bist du denn auf diese Frage gekommen? Klingt, als sei sie einem Horrorfilm entsprungen...

Kay.kloetzer: Ja! Ein Horrorszenario! Aber vielleicht führt ja alles dorthin, zur Abwägung: Brauche ich das für mich? Hilft mir das weiter? Lohnt sich das für mich? Reicht es vielleicht, die Zusammenfassung auf dem iPad zu lesen? Dann kann man "Gefällt mir" klicken und schauen, wem das Buch, also die Zusammenfassung, sonst noch gefallen hat, und fertig ist ein Konsens. Kann ich mir alles vorstellen. Möchte ich aber nicht. Ein damit verwandtes Problem ist, das Lesen zu verlernen. Scrollen ist nicht Lesen. Erst wenn der letzte Text zergliedert, der letzte Fakt gefettet und die letzte Quelle verlinkt ist, werden wir feststellen, dass man Denken nicht googeln kann. Ist das das Schlimmste: Dass Bücher nicht mal mehr auf einem Index stehen müssen, um nicht gelesen zu werden?

Calvani: Naja, es wird doch gelesen, oder? Vielleicht ein bisschen zu viel Jussi Adler Olsen und Paulo Coelho und Kerstin Gier und so ...

Übrigens zum Thema öffentlicher Diskurs: Krachts „Imperium“ ist auf der Bestsellerliste, Platz 4, inzwischen Platz 7. Wobei ein gekauftes noch lange kein gelesenes oder gar gelobtes Buch ist.
Das stört mich aber so kolossal, dass ich Diskurse oft für inszeniert halte und die Inszenierung auch noch fruchtet - jedenfalls oberflächlich betrachtet.
Kannst du dich an ein Buch erinnern, das eine Debatte losgetreten hat, die du richtig gut fandst?

Kay.kloetzer: Och, ich habe so ein schlechtes Gedächtnis ... Zuletzt fand ich die Plagiatsdebatte nach Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" wichtig, aber da ging es ja weniger um Literatur. Ich erinnere mich spontan nur noch an Walsers „Tod eines Kritikers“ und Billers „Esra“, das waren eher Spiegelfechtereien. Kannst Du mir mit ein paar Debatten auf die Sprünge helfen?

Calvani: Ne, leider nicht. Das ist es ja gerade! Worum sich die Debatten drehen, gefällt mir oftmals nicht. Was mich schon ein wenig interessiert hat, ist, wie Hegemann letztendlich mit „Axolotl Roadkill“ viele Kritiker vorgeführt hat. Das müsste so manchen von ihnen doch zu denken geben...

Die Debatte um „Tod eines Kritikers“ habe ich nur am Rande wahrgenommen, aber ich mochte das Buch sehr gerne. Und du?

Kay.kloetzer: Walser hat mich amüsiert. Das tut er jetzt wieder. Ich hatte an „Muttersohn“ großen Spaß und habe ihn jetzt an „Über Rechtfertigungen, eine Versuchung: Zeugen und Zeugnisse“. Das dürfen wir nicht vergessen: das Vergnügen!

Calvani: Ja, ich dachte bei der Lektüre, dass es Walser sicher eine diebische Freude war, das Buch zu schreiben und so hatte ich sie auch beim Lesen. Gibt es Bücher, die keine politische Dimension haben?

Kay.kloetzer: Wenn es auch eine politische Dimension ist, alles Politische draußenzulassen, dann schon. Irgendwie. Weißt Du schon, was Du als nächstes lesen wirst?

Calvani: Hier liegt gerade Lisa-Marie Dickreiters „Vom Atmen unter Wasser“. Und was steht bei dir auf dem Programm?

Kay.kloetzer: O ja, das will ich auch unbedingt noch lesen! Neben mir liegt „Blaue Stunden“ von Joan Didion über den Tod ihrer Tochter. Aber ich trau mich noch nicht, es aufzuschlagen.

Calvani: Den Tod der Tochter haben beide Bücher zum Gegenstand...

Kay.kloetzer: Dann lass und doch nächstes Mal darüber reden ...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden