Till oder Lachen ist das bessere Heulen!

Bücherkalender Das Komische ist nicht lustig, findet Goedzak

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Gelacht hat ja Eulenspiegel nie – im Volksbuch von 1512 nicht, als Tyl Ulenspiegel in Charles De Costers Roman „Die Geschichte von Ulenspiegel und Lamme Goedzak“ (1867) nicht und auch in Christa und Gerhard Wolfs Bearbeitung des volkstümlichen Stoffes aus dem Jahre 1973 verzieht er seine Miene zu einem Grinsen nur, um jemandem eine Maske zu zeigen, die Maske eines tumben Toren, der er natürlich nicht ist. De Coster bereits und nun die beiden Wolfs versuchen, die Volksbuchfigur zu historisieren und zu individualisieren. In den überkommenen volkstümlichen Formen der komischen Literatur und des Theaters, z.B. der Commedia dell’arte, treten ja keine Individuen, sondern Typen auf, manchmal grob, manchmal filigran geschnittene Kasperköppe. Der Volksbuch-Eulenspiegel ist so eine Figur, die eigentlich nur als eine Art Spotlight auf die verschiedenen kleinkarierten Spießerfiguren eines heraufdämmernden bürgerlichen Zeitalters dient. Im „Narrenschiff“ des Sebastian Brant (1494) sind das alles selbst närrische Figuren, im „Eulenspiegel“ werden sie zum Narren gehalten.

Hier geht es heute um „Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film“ von Christa und Gerhard Wolf, die kurz nach der Veröffentlichung tatsächlich verfilmt wurde - mit Winfried Glatzeder („Paul und Paula“, später Tatort Berlin) als ziemlich coolem, ausgemergelt-asketischem Till. Die Autoren verlegen das Geschehen in die Zeit des Erscheinens des Original-Volksbuchs, also das frühe 16. Jahrhundert. Es ist eine Zeit der Umbrüche, die, was Intensität und Geschwindigkeit derselben angeht, durchaus mit unserer Gegenwart zu vergleichen ist. Der Merkantilismus und die Geldwirtschaft schreiten voran – mit allen Nebenwirkungen, die das mit sich bringt, zum Beispiel Verschuldung und Verelendung des Bauernstands, dem es im hohen Mittelalter einmal gar nicht so schlecht ergangen war. Die Kirche ist ideologisch in der Krise, der Adel politisch-wirtschaftlich. Die Zeitläufte haben eine große Massenmobilität ausgelöst. Auf den Landstraßen und in den Stadtgassen wimmeln sie herum, Fahrende, Bettler, Hausierer, Scharlatane, aber auch heruntergekommene Adlige, emsig-besorgte Kaufleute, Handwerksgesellen, entwurzelte Bauernsöhne und –töchter, Mönche und Priester, religiöse Eiferer und Utopisten, reisende Scholastiker und Humanisten... Dazwischen Till, der sie alle beim Wort nimmt, dasselbe in ihren Mündern umdreht und den wahren Sinn oder Unsinn zur Erscheinung bringt.

Das macht dem Leser Spaß. Es ist sinnlich, derb, sarkastisch, gewitzt. Requisiten und Kulissen sind räudig, roh, schmutzig, matschig. Die Luft ist durchwabert von starken Essensdüften, Fäkalgestank, Verwesung, Blütenduft. Da meine Ausgabe bloß nach dem dezenten Kellermuff eines inzwischen geschlossenen Antiquariats duftet, ist das gut erträglich, ja, sogar richtig genussvoll zu lesen.

Till aber ist nicht in der Lage zu genießen. Den Duft des Bratens, den er sich geräuschvoll in die Nase zieht, nimmt er gar nicht wahr. Es geht um die Provokation, um das Freilegen des eigentlichen Charakters eines gesellschaftlichen Phänomens - im Falle dieser Episode um die frühen Anfänge der Tendenz zur Verwandlung aller Genüsse in Waren.

Außerdem: Till ist ein Leidensmann. Die meisten neuzeitlichen Verkitschungen des Eulenspiegel-Volksbuchs stellen ihn, in den psychologischen Termini seiner Zeit gesprochen (Galenos), als Sanguiniker dar. Aber man muss ihn einen Melancholiker nennen! Heute hieße die Diagnose vielleicht: depressiv. Till ist jedoch ein unbändig starker Mensch mit einem ausdauernden Lebenswillen, der seine depressive Seite im Griff hat.

Als verboten kluger Outcast bleibt Till ein bindungsloses Individuum. Die einzige Bindung, die er eingehen möchte, ist ihm verwehrt. Die Ausreißerin Anna, Ex-Bauerntochter, landet immer bei anderen Männern, als Bademagd bei allen, und zuletzt sogar als Liebchen beim Kaiser. Till kann sie schließlich nur noch vor dem Scheiterhaufen retten - mit einem seiner Schalks-Tricks, wie er sie zum eigenen Überleben auch so oft anwenden musste.

Was diesen Till antreibt, ist die Hoffnung: „Warum soll man aus Menschen nicht auch Menschen machen können?“ Diese Devise lässt ihn im Buch der beiden Wolfs auch mit Bundschuh-Leuten konspirieren. Die künftigen Revolutionäre brauchen seinen Witz, auch ihnen hilft er gelegentlich mit seiner Kodderschnauze aus der Falle. Im Nachwort schreibt der Philosoph Wolfgang Heise. „Wie ist dieser Eulenspiegel, der die Schärfe seiner Kritik gerade aus (...) seiner Bindungslosigkeit gewinnt, in Beziehung zur historischen Bewegung zu setzen?“ Und antwortet sich selbst: „Der Schelm singt die Melodie, die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen; beginnt der Tanz, ist er nur noch einer unter vielen.“ Der Schelm Till Eulenspiegel erlebt den ohnehin nicht sehr zukunftsträchtigen Bauernaufstand nicht mehr. Er erlebt auch nicht mehr, dass sich folgerichtig und historisch angemessen statt Müntzers rigorosem Idealismus Luthers Variante einer immer noch religiös getünchten Ideologie für die neue Zeit durchsetzt: Fleiß, Sparsamkeit, Gehorsam. Der Wirt, der den Duft des Bratens extra verkaufen will, ist nun kein Geizkragen mehr, sondern ein Geschäftsmann.

Am Ende liegt Till todkrank danieder. Aber in seinem letzten, postmortalen Streich kommt noch einmal all sein aggressiver sozial-empathischer Witz zum Vorschein. Er verfügt testamentarisch, dass eine Kiste, die seinen Schatz enthält, mit ihm begraben, am Vorabend des kommenden Gründonnerstag aber wieder ausgegraben und der Schatz alsdann zu gleichen Teilen an die Kirche, den Baron und die Bauern verteilt werden solle. So geschieht es, aber als die Kiste geöffnet ist, zeigt sich, dass nichts als Steine darin sind. Der Kirchenmann schreit „Diebstahl!“, der Baron bezichtigt die Bauern und lässt seine Männer die Schwerter ziehen. Die Bauern aber ergreifen die Steine und wehren sich.

Die drei Fragezeichen:

1. Wie lautet der erste Satz des Buches?

„Die Farben des Mittelalters sind Blau und Gold.“ – Der letzte Satz ist auch ganz interessant: „Dem Leser sollte Spielraum bleiben, sich seine Vorstellung zu inszenieren.“

2. Wer oder was wärst Du gern in diesem Buch?

Ewig hungern, frieren, sich kratzen müssen, ständig Gewalt zu erleben, oder, wenn man reich ist, zwar nicht ewig hungern, frieren, sich kratzen zu müssen, dafür aber, um reich zu bleiben, ständig Gewalt ausüben (lassen) zu müssen – nee, das wär’ nix für mich! Also: Niemand!

3. Wen könnte das Buch besonders begeistern?

Jede(n), die/der zwar im Advent eine bunte Geschichte zu schätzen weiß, es aber nicht allzu idyllisch haben möchte.

Christa und Gerhard Wolf: Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film, Aufbau-Verlag Berlin, 1973 – oder: dtv München, 1994

Bücher, für die wir als LeserInnen brennen, werden vom 1. bis zum 24. Dezember vorgestellt. Eine Koproduktion von Amanda, Calvani, Goedzak, H.Hesse, Kay.kloetzer, Magda und Mcmac.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden