Vom Heranwachsen in den frühen 60ern

Bücherkalender H.Hesse konstatiert: Ein Toter macht noch lange keinen Krimi

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Es wäre falsch, weil in die Irre führend, Hakan Nesser in die Krimiecke zu stecken. Selbst dann, wenn er einen Kriminalroman vorlegt, sind seine Romane immer mehr. Man könnte auch sagen, nur weil ein Toter vorkommt, muss es sich noch lange nicht um einen Krimi handeln. Das gilt in ganz besonderem Maße für alle Nesser-Bücher außerhalb seiner beiden Serienfiguren van Veeteren und Barbarotti. Allein Hakan Nessers Sprache unterscheidet ihn deutlich vom Gros der Krimiautoren. Man vergleiche nur die nüchterne, wenig ausdifferenzierte, semi-dokumentarische Sprache der Mankellschen Wallander-Romane mit dem literarischen Stil Nessers! Die Romane von Hakan Nesser sind geprägt von einer starken atmosphärischen Dichte, die einen schnell in ihren Bann zieht.

So ist es mir bei der Lektüre der „Kim Novak“-Erzählung gegangen (im Original 1998 erschienen), einem wahren Meisterwerk, das in Schweden die Aufnahme in den schulischen Unterrichtskanon geschafft hat. Die Geschichte ist in den frühen 60er Jahren angesiedelt. Erzählt wird sie aus der (zurückblickenden) Perspektive des 14 Jahre jungen Erik. Der zieht für die Dauer der Sommerferien mit seinem Schulkameraden Edmund und seinem älteren Bruder Henry in das Haus am See Genezareth ein. Der Vater, der als Gefängniswärter arbeitet, bleibt in der Stadt, um seine an Krebs erkrankte und im Krankenhaus ihre letzte Zeit verbringende Frau besuchen zu können.

Henry versucht sich als Journalist und Buchautor, um schließlich bei der Seefahrt zu landen. Da er seinen Interessen nachgeht, haben Erik und Edmund viel ungestörte Zeit.

Und dann tauchtsieauf: Ewa Kaludis, jung, extrem hübsch und Aushilfslehrerin in ihrer Klasse. Schön wie Kim Novak, finden sie und sind hin und weg. Ewa hat einen Nachteil: sie ist mit einem raubeinigen Handballheros liiert. Bruder Henry und Ewa gehen ein Verhältnis miteinander ein, was dem Handballer überhaupt nicht gefällt. Ein Vorschlaghammer

beendet dessen Leben und Bruder Henry wird des Mordes verdächtigt und wandert erst einmal in die U-Haft. Wer das Ekel umgebracht hat, bleibt auch am Ende der Erzählung ungesagt, ist aber auch nicht weiter von Belang, denn darauf kommt es nicht an.

Eigentlich handelt „Kim Novak...“ vom Heranwachsen in den frühen 60ern, zumal unter schweren familiären Bedingungen und von erwachenden erotischen Träumen. Eriks sich durch die Geschichte ziehende Devise lautet: „Es kommt, wie es kommt.“ Er akzeptiert die Widrigkeiten seiner Jugendzeit: Mutter todkrank, der Vater ist tagsüber in seinem Gefängnis und in der Freizeit bei der Frau im Krankenhaus. Und dann sind da noch die Irrungen und Wirrungen der erwachenden und von Ewa-Kim befeuerten erotischen Träume. Das alles hält Eriks Innenleben kräftig auf Trab, wirbelt es durcheinander.

Nesser schildert das alles in einer sparsamen, knapp gehaltenen Sprache, die nichts unnötig ausschmückt und nicht mit einer Fülle von überflüssigen Adjektiven und zu langen Sätzen arbeitet. Das Ganze liest sich wirklich so, als spräche da ein Vierzehnjähriger zu einem. Dadurch wirkt die Geschichte so erstaunlich dicht und echt. Ein Rezensent schrieb, Nesser verstünde es, „in seiner Sprache immer in der Altersklasse zu bleiben und dennoch nicht ins Einfache abzudriften“. Das stimmt! Bücher vermitteln sich ja nicht nur über die Handlung, sondern auch und wenn es gut geht, vor allem über ihre Sprache, deren Klang. Feststellen kann man das sehr gut, wenn man einen Text laut liest. Es gibt Bücher, die sich dafür nicht gut eignen. Nessers „Kim Novak“ lässt sich ausgezeichnet vorlesen, was Dietmar Bär in seiner Hörbuchadaption genial beweist. Es ist ein Roman, den ich immer wieder auf ein Neues lese und dessen Klang mich immer wieder fasziniert.

Die drei Fragezeichen:

1. Wie lautet der erste Satz des Buches?

"Das, was ich jetzt berichten will, soll von dem SCHRECKLICHEN handeln, natürlich soll es davon handeln, aber auch von ein paar anderen Dingen."

2. Wer oder was wärst du gern in diesem Buch?

Ich wäre in dem Buch gerne die Lehrerin Ewa Kaludis, die es mit ihrem Wesen und ihrem Aussehen schafft, den Kerlen den Kopf zu verdrehen. Nein, ernsthaft: Ich wäre gerne Hakan Nesser, der solche Geschichten schreiben kann!

3. Wen könnte das Buch besonders begeistern?

Das Buch würde ich jemandem schenken, der keine Krimis mag, in der Hoffnung, dass ihm Nessers hier getroffener Ton gefällt und dass er oder sie merkt, dass nicht alles ein Krimi ist, in dem ein Toter vorkommt.

Bücher, für die wir als LeserInnen brennen, werden vom 1. bis zum 24. Dezember vorgestellt. Eine Koproduktion von Amanda, Calvani, Goedzak, H.Hesse, Kay.kloetzer, Magda und Mcmac.

Hakan Nesser:Kim Novak badete nie im See Genezareth, btb 2007, 286 S., € 9,00
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Geschrieben von

Calvani

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