Zur Einführung: Das Unbehagen in der Scheide

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Elizabeth Kiehl ist mit einem Mann verheiratet, der nach ihrer Einschätzung nicht nur eine "Sexmaschine" ist, sondern auch die Hausarbeit besser erledigt als sie selbst. Georg, so heißt der Wunderknabe, hat außerdem viel Geld, lässt seine Frau Elizabeth an seinem Reichtum und der daraus resultierenden Sicherheit partizipieren und last but not least liebt er Elizabeth trotz ihrer ganzen Neurosen oder meinetwegen Psychosen - so genau kann ich das als Laie nicht diagnostizieren. In Charlotte Roches Roman "Schoßgebete" sterben zwischen Fickszenen und Fellatio, Bio Müsli und Bordellbesuchen drei Brüder der Protagonistin Elizabeth, und diese Tragödie muss neben der feministisch-dominanten Mutter und dem feministischen Domina-Über-Ich Alice Schwarzer für Elizabeths gestörten Geisteszustand herhalten.

Und was hat das nun mit mir zu tun? Ich fing an, mich für Roche zu interessieren, als Roche anfing zu schreiben. Mir bereitete die Lektüre ihres Debütromans "Feuchtgebiete" eine geradezu diebische Freude. Trotz der platten Rahmenhandlung und einiger anderer inhaltlicher Ungereimtheiten eröffnete "Feuchtgebiete" mir eine Enklave, einen Zufluchts- und Rückzugsort. Ich erinnerte mich beim Lesen an die Nachmittage zu Beginn der wundersamen Veränderung, der Menschen den plumpen Namen "Pubertät" gegeben haben. An diesem Scheideweg, der fließenden Grenze zwischen Kindheit und Adoleszenz, justierte sich mein Verhältnis zu mir und der Welt neu und bei dieser Gelegenheit sind persönliche Experimente überaus nützlich. Zugegeben meine Abenteuer physischer und psychischer Art waren harmlos gegenüber den Schilderungen, mit denen "Feuchtgebiete" aufwartete, und beschränkten sich auf z.B. frivole Fahrradtouren, aber gerade diese hatten mit der Motivation, "Feuchtgebiete" zu lesen, viel gemein.

So sauste ich im Sommer gerne auf meinem Rad eine Schlucht herunter, dass mein Herz mit meiner Angst nur so um die Wette raste. Dunkel war es dort in der Schlucht zwischen einem Friedhof und einem Waldstück, weil rechts und links neben der sich windenden Schneise Büsche und Bäume wuchsen, deren hohe Kronen auch tagsüber dem aufklärerischen Licht seinen Absolutheitsanspruch streitig machten. Der Enge und Kurven wegen wusste ich nie, was mich hinter der nächsten Biegung erwartete, ich fuhr diese steile Schlucht immer mit lauernder Lust, verkrampften Händen und am liebsten mit einem im Fahrtwind wehenden Rock. Wenn sich dann Stöckchen und Hölzchen in den Speichen meines Fahrrads verhedderten und aufwirbelten, mir blutige Striemen und Kratzer an den Unterschenkeln verursachten oder ich die Brennesseln am Wegesrand streifte, weil ich die eine oder andere Kurve doch nicht kriegte, triumphierte ich innerlich, trotzte dem Schmerz, der Angst und all dem anderen, mit dem mir die Erwachsenen und ihre blöde Erwachsenenwelt auf die Nerven gingen.

Ob ich während meiner wagemutigen Schluchtfahrten jemals wirklich in Gefahr war oder ob sich Charlotte Roche wie ihre Romanfigur jemals wirklich einen Duschkopf vaginal eingeführt hat, ist bei Abenteuern dieser Art, bei denen die nervliche Er- und Aufregung der Akteure oder Leser im Mittelpunkt stehen, weitestgehend irrelevant. Dem unberechenbaren Übermut sind derartig überflüssige und ungehörige Unternehmungen geschuldet - nicht mehr und nicht weniger. Genau so gespannt, wie ich damals auf meinem Rad den Dingen, die da kommen könnten, harrte, genau so las ich Jahre später "Feuchtgebiete".

Nur zu gerne hätte ich mich von Roches Feder wieder aufwühlen und in die feuchtfröhliche Enklave entführen lassen. Deshalb konnte ich es auch nicht abwarten, bis das gedruckte Buch am Ende seiner Reise von der Berliner Freitagsredaktion in meinem Kölner Briefkasten angekommen ist, sondern stürzte mich auf das gleichnamige und ungekürzte Hörbuch "Schoßgebete". Aber um zwar einerseits der hier ausgelobten Diskussion im Detail nicht vorzugreifen, andererseits doch irgendwie zur Sache zu kommen, muss ich an dieser Stelle unumwunden und konsterniert zu Protokoll geben, dass ich beim Hören des Hörbuchs mehrmals eingeschlafen bin. Da halfen auch die bisweilen klug und klar beschriebenen Beobachtungen und Humoreinlagen nicht.

Dabei hätte ich mir das eigentlich denken und die Enttäuschung vorwegnehmen können, denn spätestens, nachdem ich zwei Interviews mit Roche über ihr neues Buch gelesen hatte, hätte ich es wissen müssen, aber so bin ich manchmal. Trotzig will ich mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn mir schon schwant, dass es auf der anderen Seite weit weniger aufregend sein wird als erhofft.

Zunächst fragt Jana Hensel Charlotte Roche in einem Interview allen Ernstes, ob sie anderen ansehen könne, wenn sie keinen Sex hätten. Und Roche bejaht und rät Singles auch noch, mit jedem zu bumsen, den sie finden könnten. Schönheit bedeute Freiheit, meint Hensel, Roche sei eine schöne Frau und habe einen ziemlich geilen Arsch. Roche dagegen meint, Sex sei die Antwort auf den Tod, aber in "Schoßgebete" ginge es um wesentlichere Sachen als Sex. Tatsächlich?

Ich kann mir offen gestanden kaum etwas Wesentlicheres als die Antwort auf den Tod vorstellen, aber über diesen Widerspruch zu sinnieren oder der Frage nachzugehen, ob Roche, die zugibt, ihre Leser und Kritiker mit "Feuchtgebiete" an der Nase herum geführt zu haben, das nun auch mit "Schoßgebete" versucht, reizt mich dennoch nicht. Ich vermute, dieses lauwarme Vulgärgeplänkel zweier Bienchen ist eine Verarschung. Zwar weiß ich nicht, wer hier wen verarscht, ob nun Hensel Roche oder Roche ihre Leser und Kritiker oder beide zusammen die ganze Welt, aber auch dieser Frage nachzugehen, interessiert mich letztendlich nicht.

Interview Nummer zwei führte Felicitas von Lovenberg. Von Lovenbergs Sonnenblumenlächeln der höheren Töchter, die Roche in "Feuchtgebiete" noch despektierlich "Artzttöchter" nannte, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Vater wirklich Arzt war, gehört zu den Anlässen, die mich typischerweise aus der Realität in die Welt der Bücher und der Musik flüchten lassen. Dass ausgerechnet von Lovenberg "Schoßgebete" überaus positiv renzensiert, hätte mich daher schon vom Hören des Hörbuchs abhalten sollen, aber wie ich schon schrieb, höre ich manchmal nicht auf die warnenden Worte meiner inneren Stimme. Sagt Roche im Interview mit Hensel noch, dass die eingestreuten Beischlafszenen gern auch geil machen sollten, verklickert sie von Lovenberg, dass das erotisch sei, während man es macht, und das im Buch zwar schon auch klarwerden solle - aber die Schilderung selbst sollte nicht erotisch sein.

So unausgegoren gegensätzlich diese beiden Aussagen und Interviews im Vergleich sind, bieten sie wie der Roman selbst natürlich viel Raum für eine Diskussion. Schließlich geht es in diesem inhaltlich völlig überladenen Buch neben Sex und seiner Bedeutung für die Ehe auch um den plötzlichen und grausamen Tod naher Angehöriger, Fluch und Segen der Patchworkfamilie, das Schönheitsideal für Frauen, den Feminismus, die Methoden eines Boulevardblattes, Selbstaufgabe, Psychotherapie, Gläubigkeit und und und.

Und wie immer, wenn es um alles geht, geht es über das Argumentum e contrario auch um nichts. Deshalb werde ich das Gefühl nicht los, dass anders als in "Feuchtgebiete" Scheiße in "Schoßgebete" nicht nur hin und wieder das literarische Motiv des Buches ist, sondern ganz allgemein sein Thema. Inwiefern es nun sinnvoll sein kann, sich an dem Schauspiel zu beteiligen, wie man mit markt- und mediengerechten Strategien aus Scheiße Gold macht, daran scheiden sich mit Unbehagen die Geister der Kultur.

Roche&Hensel: www.zeit.de/2011/33/Roche-Hensel/komplettansicht

Roche&von Lovenberg: www.faz.net/artikel/C30437/ein-gespraech-mit-charlotte-roche-ich-bin-keine-frau-die-andere-frauen-verraet-30482153.html

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Geschrieben von

Calvani

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