Yuri Ancarani nimmt uns mit in die Bauchhöhle. Fast verliert man sich in dem lila-blau schimmernden organischen Gewebe. Bis plötzlich Operationsgeräte durch die Bauchdecke gerammt werden. Wir schauen ihnen bei der Arbeit zu. Da Vinci (2012) heißt das Werk des italienischen Filmkünstlers, benannt nach dem gleichnamigen medizinischen Roboter. Zwischendurch wechselt die Perspektive der Kamera. Dann sehen wir in die hoch konzentrierten Gesichter der Ärzte, die ihre Instrumente über Joysticks steuern. Zwei Millionen Euro kostet das „Da Vinci“-System, das minimalinvasive Operationen in der Urologie und Gynäkologie ermöglicht. Es veranschaulicht, wie viel uns die Rettung von Menschenleben wert sein kann. Zumindest in all jenen Ländern,
ändern, in denen eine solche Technik in vielen Kliniken inzwischen zur Standardausstattung gehört.Acht Filmkunstwerke von Yuri Ancarani sind derzeit in der Kunsthalle Basel zu sehen. Er ist Gast auf Filmfestivals in Locarno oder Toronto, auf der Venedig Biennale und in Ausstellungshäusern wie dem Centre Pompidou oder dem Guggenheim Museum. Sculture (dt. Skulptur) hat der 1972 in Ravenna geborene Wahl-Mailänder die Schau in Basel genannt. Und tatsächlich wirken seine Arbeiten wie modelliert. Die Orte, an die er uns entführt, sehen aus wie die Filmsets fiktiver Geschichten, doch was Ancarani dokumentiert, ist real. Der Künstler liefert spektakuläre Bilder und Kameraeinstellungen auf Kino-Niveau.Krachendes BaggerballettDas gilt auch für den zweiten Kurzfilm Piattaforma Luna (2011) über Metallarbeiter auf einer Offshore-Erdgasförderplattform. Sie bewegen sich geschickt durch Luken von Schlafräumen in Wasch- und Arbeitsräume. In einer Überdruckkapsel tauchen sie in die Meerestiefe ab. Jeder ihrer Handgriffe ist bedächtig ausgeführt und abgestimmt in permanenter Kommunikation mit einer Stimme aus dem Off, einer Kontrollinstanz, die an HAL aus 2001: Odyssee im Weltraum erinnert und ihnen das Überleben sichert. Die Technik mutet futuristisch an und wirkt doch wie aus einer vergangenen Zeit. Die Verletzlichkeit des Menschen spiegelt sich im Arbeitsalltag an diesem hochkomplexen und riskanten Ort, allein dazu da, den Energiehunger vor allem der Industrienationen zu stillen.Il Capo aus dem Jahr 2010 ist der chronologisch erste Teil dieser La malattia del ferro (dt. Die Krankheit des Eisens) genannten Trilogie. Yuri Ancarani untersucht darin uns sonst verschlossene Arbeitswelten und die Beziehung zwischen Mensch und Maschine. So auch im Mamorsteinbruch von Carrara in der Toskana. Das Gelände ist riesig und zerklüftet, Luftaufnahmen zeigen die Wunden der Natur. Abgebaut wird seit der Antike, die Arbeitsbedingungen sind bis heute schwer. Doch er findet hier etwas, das man ganz gewiss nicht erwartet: Poesie. Il Capo ist das Porträt eines Vorarbeiters, der zwei gewaltige Bagger dirigiert. Im Mittelpunkt der Kamera stehen die Hände, weiß getüncht vom Staub, zwei Fingerkuppen fehlen. Die Schaufeln reagieren minutiös auf seine Zeichensprache und die ausgefeilten Gesten. Das Auslösen eines riesigen Marmorbrockens aus dem Fels bildet einen krachenden Schlussakkord.Auch Ancaranis mit 70 Minuten bisher längster Film The Challenge (2016) zeigt eine reine Männerwelt, die der Scheichs in Katar. Er begleitet sie auf dem Weg hinein in die Wüste zu einem Falkenjagd-Festival. Die Falknerei hat eine lange Tradition in der arabischen Welt. Früher benutzten Beduinen Falken, um Vögel zu jagen, heute ist es ein Hobby der Superreichen. Arbeit spielt keine Rolle, Geld gibt es im Überfluss. Die Reifenspuren der SUVs durchziehen den Wüstensand. Ein Scheich fliegt mit fünf seiner Falken im Privatjet zum Event. Ein anderer reist im schwarzen Lamborghini an, auf dem Beifahrersitz sein Haustier: ein echter Gepard. Der Boss einer Motorradgang, stilecht in Jeans, Stiefeln und Kutte, sitzt auf einer Harley Davidson in 20 Karat Gold. Nur die Touristen sind noch auf Kamelen unterwegs. Wie lauter große Jungs wirken die Scheichs, ausgestattet mit den denkbar teuersten Spielzeugen. Der Umgang miteinander ist von Riten geprägt. Das gilt auch für das Publikum und die Teilnehmer während des Wettkampfgeschehens. Einzig der Falke treibt den Plot voran. Mit einer Kamera ausgestattet verfolgen wir schließlich aus seiner Perspektive die Jagd auf eine Taube. Von ihr bleiben nur ein paar Federn im Sand.Ancarani filmt auch ein Fußballstadion vor dem Spiel oder ein Tanzritual in einem haitianischen Dorf. Als Zuschauer betrachtet man staunend die speziellen Abläufe in diesen in sich geschlossenen Welten, die der Künstler uns zugänglich macht – und bekommt nichts erklärt. Der Sound ist ausgefeilt, doch gesprochen wird kaum. Interessant ist, immer drängen sich gedanklich auch die Leerstellen auf: neben der Technik die Menschlichkeit, neben der Präzision die Gefahr, neben dem Luxus die Armut und neben den Männern die Frauen. Insofern sind Yuri Ancaranis hoch ästhetische Dokumentationen Ausgangspunkt für Assoziationsketten entlang aktueller Debatten unserer Zeit. Ein erstaunlicher Effekt, bedenkt man, wie fremd uns die Orte sind, die er zeigt.Placeholder infobox-1