Geschichte wird gemacht

Rollenspiel Seit den 1970ern schafft Lynn Hershman Leeson sich neue Identitäten. In Berlin kann man ihnen nachspüren, auch im Hotel
Ausgabe 25/2018

„First Person Plural“. Oder anders: Ich ist viele. Die Identitätsspaltung, die Lynn Hershman Leeson hier andeutet, gilt wohl für alle. Zumal in der digitalen Welt, in der sich mit jedem Account ein neues Selbst erschaffen lässt. Die amerikanische Medienkunstpionierin hat die ersten Teile ihrer Electronic Diaries so genannt. Vier dieser elektronischen Tagebücher aus den Jahren 1984 bis 1996 sind derzeit in einer ausgelagerten Ausstellung der Kunstwerke Berlin zu sehen – auf großen Leinwänden in einer leer stehenden Gewerbehalle. Lynn Hershman Leesons Blicken entkommt hier niemand.

Wobei die Künstlerin lieber entpersonalisiert von einem Individuum spricht, das uns in einer Art Beichte mit seinen Ängsten konfrontiert. Die Protagonistin, die Hershman Leeson verkörpert, erzählt von Kindesmissbrauch, Verlassenwerden, Fresssucht, Krankheit und Tod – und den Narben, die dies hinterlässt: anekdotisch, selbstreflexiv und ausschweifend. „Ich empfinde es nicht nur als hilfreich, über diese Dinge zu reden, ich stelle vielmehr fest, dass es von entscheidender Notwendigkeit ist“, sagt sie an einer Stelle. „Es muss eine Menge geredet werden, damit man hört, was wir sagen.“ Lynn Hershman Leeson spielt mit Intimität, die elektronischen Tagebücher sind ein autobiografisches Projekt. Genauer: Die Künstlerin „schreibt“ mithilfe der Videos ihre Lebensgeschichte, was sie als Befreiung erlebt. Der Monitor wird einerseits zum Spiegel und andererseits zur Bühne, auf der sich ein Selbst inszeniert. Allerdings weisen ihre Erzählungen oft über sie persönlich hinaus, erhalten durch die Tiefe ihrer Analyse teils Allgemeingültigkeit.

Die Selbstvergewisserung, die gegenwärtig in den sozialen Netzwerken stattfindet, nahm Hershman Leeson mit den damaligen medialen Mitteln vorweg. Technisch war die heute 77-Jährige stets auf der Höhe ihrer Zeit – doch als Frau wurde sie in der Medienkunst meist übersehen. Ihren feministischen Blick schärfte das umso mehr.

Pionierstatus hat auch die interaktive Installation Lorna (1979 – 1983), die ebenfalls in der Ausstellung aufgebaut ist. Hier steuert der Besucher über eine Fernbedienung das Schicksal einer unter Agoraphobie – der Angst vor der Außenwelt – leidenden Frau. Die Videodisktechnik, die ihr dies ermöglichte, holte Lynn Hershman Leeson als eine der Ersten in die Kunst.

Es gibt keine Unschuld

In den Electronic Diaries setzt sie Split-Screens ein, ihr Porträt verdoppelt, -dreifacht, -vielfacht sich. Das Ich ist viele – und lotet Möglichkeiten des Rollenspiels aus. Es gibt Überblendungen, Wischblenden, die Erzählung selbst längerer Episoden ist montiert in kurzen Takes. Kleidung, Gesichtsausdruck, Sitzhaltung wechseln, ein Handmikrofon taucht auf, das alles verändert die Rezeption. Die Protagonistin selbst reflektiert ihre Sprechhaltung, Kameraperspektiven und das Medium, das sie für ihre Bekenntnisse wählt. Der manipulativen Kraft dessen ist sie sich bewusst, bis auf eine Ausnahme sind nur Porträtausschnitte von ihr zu sehen.

Das unpersönliche Auge der Kamera erleichtert ihr das Sprechen. „Gerade sitze ich ohne Kameramann hier im Raum, vollkommen allein, ich würde nie und nimmer so reden, wenn noch jemand im Raum wäre“, gesteht sie. Und doch richtet sie sich an einen Adressaten: Sie hat ein Fernsehstudio angemietet, damit die Aufnahmen ernst genommen werden. Nicht nur dieses Paradox kratzt vermeintlich an ihrer Glaubwürdigkeit. Die Filmcredits zeigen, dass hier mehr als nur eine Person involviert war. Und Lynn Hershman Leeson gibt in Bezug auf den Physiker Werner Heisenberg zu bedenken, dass eine Situation, die wir beobachten, schon allein durch den Akt der Beobachtung verändert wird. Unschuldig ist hier niemand, manipuliert wird auf allen Seiten. Den moralischen Zeigefinger allerdings erhebt sie nicht.

Eine ähnliche Wechselwirkung formulierte die Künstlerin 2015 im Interview mit dem Kurator Hou Hanru anlässlich einer ersten umfassenden Retrospektive im ZKM Karlsruhe, durch die sie – bereits über 70 Jahre alt – erstmals auch in ihrer Heimat USA große Anerkennung bekam. Wenn wir Technologie gebrauchen, benutzt und beobachtet sie uns gleichzeitig, sagte sie damals und wies auf das Doublebind zwischen Voyeurismus und Überwachung. hin. Anschaulich macht dies ihre Installation am zweiten Ort der Berliner Ausstellung, im Novalis-Hotel in Berlin-Mitte.

Lynn Hershman Leeson zitiert hier ihre Installation The Dante Hotel aus den Jahren 1972/73 in San Francisco. Damals erwarteten die Besucher zwei Wachspuppen und Atemgeräusche im angemieteten Zimmer. In Berlin ist das ungemachte Bett in Raum Nummer 5 im ersten Stock leer. Bei der Schlüsselübergabe an der Rezeption wird man nicht nur animiert, nach Lust und Laune zu stöbern, sondern auch gebeten, den benutzten Trinkbecher für eine Speichelprobe zu hinterlassen.

Oben brennt im unaufgeräumten Badezimmer noch Licht. Der Computer im Schlafraum ist aufgeklappt, in der Mailbox laufen Nachrichten von Okcupid ein, und wir erfahren: Roberta Lester wohnt hier. Ihren Vornamen trug schon ein anderes Alter Ego Lynn Hershman Leesons, die von ihr entwickelte Figur Roberta Breitmore, die sie auch im echten Leben verankerte – samt Bankkonto, Dates und Psychotherapie – und mithilfe mehrerer Doppelgängerinnen über mehrere Jahre lang performen ließ.

Am Ende der Installation werden die von uns hinterlassenen Spuren untersucht und ausgewertet. „OHW / IMA / (EYE)“ – das steht in roter Schrift auf dem Spiegel im kleinen Flur. Bei der Frage, wer wir sind, könnten uns die DNA- und die Verhaltensanalyse womöglich auf die Sprünge helfen – wären die hinterlassenen Daten nicht anonymisiert.

Info

Lynn Hershman Leeson. First Person Plural KW, Berlin, bis 15. Juli 2018

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