„Zusammen sind wir stark.“ Emmi sagt diesen Satz zu Ali. Ganz zum Schluss von Angst essen Seele auf im Berliner Maxim-Gorki-Theater. Zu diesem Zeitpunkt haben die deutsche Putzfrau und der marokkanische Gastarbeiter schon einiges durchgemacht. Ein Paar, getreu der Fassbinder-Vorlage, versetzt in die „Ausländer“ hassende Bundesrepublik der 70er Jahre.
Dass dieser Satz in einer Hochkulturfestung der Hauptstadt fallen darf, zeigt, dass sich da jemand etwas traut. Denn Emmis Worte sind natürlich Kitsch. Doch wirken sie wie ein Therapeutikum, das es auch in der Gegenwart anscheinend immer noch braucht. Und es zeigt, dass da jemand richtigliegt: Die Publikumszahlen in der ersten Spielzeit unter Intendantin Shermin Langhoff sind am Berliner Gorki-Theater ungemein hoch. Laut Auswertung der ersten fünf Monate lag die Auslastung bei traumhaften 95 Prozent. Das postmigrantische Theaterkonzept, das Langhoff bereits an der Offbühne Ballhaus Naunynstraße erprobte, bewährt sich nun auch am kleinsten der Berliner Staatstheater.
Die Berliner scheinen darauf gewartet zu haben, ihre eigene Diversität und Pluralität auf der Bühne gespiegelt zu bekommen. Die Mehrheit der Schauspieler im Ensemble hat einen Migrationshintergrund, und auch die Stoffe verhandeln die Themen Zugehörigkeit und Identität. Dafür werden Shermin Langhoff und ihr Ko-Intendant Jens Hillje als leuchtendes Beispiel gefeiert – in einer deutschen Theaterlandschaft, die sich gesellschaftlichen Minderheiten bislang noch kaum geöffnet hat. Die Debatte um fehlende kulturelle Vielfalt bis hin zu Vorwürfen von strukturellem Rassismus in deutschen Kulturinstitutionen wird inzwischen scharf geführt. Interkulturelle Öffnung heißt das Zauberwort, und das berührt kulturpolitische genauso wie wirtschaftliche Fragen und lässt sich vom Theater direkt auf gesellschaftliche (Unter-)Entwicklungen übertragen. Teilhabe ist ein Hauptwort unserer Zeit. Viel beschworen und leider doch wenig realisiert.
Neue Konflikte
Es lässt sich aber noch etwas anderes ablesen am Zuspruch und an der Aufmerksamkeit, die das Gorki-Theater derzeit bekommt: ein stärker werdender Überdruss gegenüber postmodernen Positionen, mit denen man sich in hiesigen Theatern eingerichtet hat. Dort hält man dramatische Konflikte, kritische Verweise oder soziale Thesen für überholt. Dem Grundsatz folgend, dass in der Kunst nichts Neues mehr zu schaffen sei, üben sie sich vor allem in Selbstreferenz und der Zurschaustellung vermeintlich echter, authentischer Handlungen. Es geht um das sinnliche Erleben und nicht um das Verstehen, auf die klassische Bedeutungsebene wird verzichtet, die Deutungshoheit letztlich dem Zuschauer überlassen.
Zwei einflussreiche Theatermacher hat das im vergangenen Jahr auf den Plan gerufen und zum Abgesang auf das postmoderne, postdramatische Theater motiviert. Bernd Stegemann, Professor an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und Dramaturg an der Schaubühne Berlin, zielt darauf, dass sich die Kunst, vom Kapitalismus eingeschläfert, aus der Verantwortung stiehlt. „Das Ganze ist nicht mehr zu überblicken und auch nicht mehr zu denken. Von daher muss die Arbeit an der Darstellung der Widersprüche auch niemand mehr übernehmen“, ironisiert er in seiner Streitschrift Kritik des Theaters.
Und der Theaterregisseur und Autor Milo Rau beschreibt in seinem Essay Was tun? einen „Teufelskreis von Kapitalismuskritik und unfreiwilliger Systemoptimierung“ und attestiert der postmodernen Vernunft den Willen zur „Dekonstruktion anstelle der Konfrontation“. Auf der Bühne bliebe es bei einer Pseudokritik, denn „in Wahrheit wollen wir niemanden festnageln, und wir brauchen die bewusstlos in ihren exotischen Milieus verharrenden Betroffenen und die ‚dummen Zuschauer‘ genauso wie die Revisionisten das entfremdete Bewusstsein des Proletariats: damit wir immer weiter auf der Stelle treten und unser impotentes Utopie-Scrabble am Laufen halten können“.
Aber was macht nun Shermin Langhoff? Sie geht munter voran und schert sich nicht weiter um solche Theaterdiskurse. Sie verändert die Wirklichkeit schon dadurch, dass sie im eigenen Haus interkulturelle Tatsachen schafft. Es geht ihr nicht darum, immer intelligentere Formenexperimente oder Authentizitätsversprechen auf die Bühne zu bringen. Sie versucht nicht, schlauer zu sein als das System, das sich solche Versuche sowieso gleich wieder unter den Nagel reißt – und in dem jeder Protest, wie Bernd Stegemann plastisch sagt, sein eigenes T-Shirt bekommt.
Revolution sieht zwar anders aus, aber wer macht die schon noch? Die künstlerische Avantgarde erscheint kaum noch radikal, weil fast alle Tabus gefallen sind. Und so lässt sich die Gesellschaft vielmehr von reaktionären Geistern wie Thilo Sarrazin oder Akif Pirinçci erschüttern. Dass solche Autoren von vielen gelesen werden, dass deren Bücher zu Bestsellern geworden sind, weist für Shermin Langhoff auf verbreitete Verunsicherung und Ängste hin. Und auch das sind Konflikte, die sie im Gorki-Theater verhandelt sehen will. Die Vermutung liegt nahe: So weit und so aufgeklärt, wie andere Theatermacher es gerne hätten, ist unsere Gesellschaft noch nicht. Postmoderne Inszenierungen stellen also für viele Zuschauer auch eine Überforderung dar.
Im Gegensatz zu den postmodernen Konzepten geht es Shermin Langhoff darum, traditionelle Bedeutungszusammenhänge wieder zuzulassen. Sie will Geschichten erzählen. „Emotionales Schauspielertheater“ hat sie das in einem Interview einmal genannt. Im Sinne eines modernen Volkstheaters, das sich eben auf das Interkulturelle konzentriert.
Alte Konflikte
So webt Regisseur Nurkan Erpulat in seiner Inszenierung von Tschechows Kirschgarten, mit dem das Gorki seine Spielzeit eröffnet hat, neben dem drohenden Verkauf des Gutshofs von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja noch weitere Heimatverluste in das Stück. Darunter den des ehemaligen Leibeigenen der Familie, des Kaufmanns Lopachin. Der schreit all die Wut über die Missachtung heraus, die er als türkischer Gastarbeiter in Deutschland erfahren hat. „Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen aber Menschen“, bemerkt Gajew an einer Stelle; er ist der Bruder der Gutsbesitzerin und trägt ausgeprägte Gutmenschenallüren vor sich her. Das ist sehr plakativ, aber berechtigt, denn diesen Schock hat das Land bis heute ja offensichtlich nicht richtig verdaut. Erpulat selbst wurde 1974 in Ankara geboren und kam im Jahr 1998 nach Deutschland.
Am Gorki wird nicht so getan, als hätten wir alle Konflikte schon verstanden und bewältigt, hier werden sie munter in den Ring geworfen. Das wirkt in Teilen unterkomplex, klamaukig oder eben kitschig, und entsprechend beleidigt reagierten verschiedene Medien. Doch vom Publikum wird es dankbar quittiert. Und das mag daran liegen, dass Langhoffs Theater nicht fatalistisch agiert und neben der Anklage vor allem auf Heilung setzt.
Das heißt auch: Wunden offenlegen. Etwa in Common Ground von Yael Ronen. Ronen wurde 1976 in Jerusalem geboren, lebt in Berlin und gehört in Israel zu den streitbarsten Theatermachern. Nun hat sie Schauspieler aus Ex-Jugoslawien versammelt, die während der Kriege nach Deutschland kamen. Zusammen sind sie in ihre Heimat gereist, haben Erinnerungsorte besucht, mit Augenzeugen gesprochen. Auf der Bühne berichten sie davon, von ihren Erfahrungen, ihrem Schmerz. Die Tochter eines Kriegsverbrechers spricht mit einer, deren Vater in ebenjenem Lager umkam, in dem der andere Vater gearbeitet hatte. Aus dem Flüchtling, der vor dem Krieg floh, brechen die Schuldgefühle gegenüber den Zurückgebliebenen heraus. Das hat auch etwas von Therapie.
Durch die Erzählung solcher Konflikte zeigt das Berliner Maxim-Gorki-Theater, wie sich der innerdeutsche Erfahrungsschatz durch die Zuwanderer zunehmend erweitert, und nimmt die Zuschauer dabei an die Hand. „Gemeinsam sind wir stark. Gemeinsam den Aufbruch wagen. Nur gemeinsam werden wir den Anforderungen der Zeit standhalten können“, heißt es auch im Kirschgarten. In der Wiederholung bei Angst essen Seele auf klingt dieser Satz dann schon fast wie eine Beschwörungsformel. Shermin Langhoff scheint an diesen Zauber zu glauben.
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