Berlin, Neukölln. Ein Mann beugt sich in der hintersten Ecke eines Cafés zu einer Steckdose herunter, zieht ein Ladegerät heraus und steckt seines hinein. Er dreht sich zum Tisch hinter ihm um und fragt: „Darf ich vielleicht mein Handy aufladen? Meine Frau ist schwanger und kriegt jederzeit ihr Kind, ich muss mit ihr in Kontakt bleiben.“ „Kein Problem!“, entgegnet ihm die Frau, die an dem Tisch sitzt. Mir raunt sie zu: „Ich kann ihr weiterhelfen!“, und lacht sich kaputt. Mara Clarke ist Gründerin des Abortion Support Network. Mit diesem unterstützt sie Menschen aus Irland, Nordirland und von der Isle of Man dabei, in England Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Ohne Humor geht es nicht – und der der US-Amerikanerin hat sich ihrer Wahlheimat London angepasst. Oft ist er so bitter wie die Realität derjenigen, denen sie hilft.
Theoretisch kann in ganz Großbritannien bis zur 24. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden – die längste Zeitspanne in der gesamten Europäischen Union. Praktisch ist dies in Nordirland aber nur in Ausnahmefällen möglich. In der Republik Irland schützt die Verfassung ungeborenes Leben und privilegiert den Fötus gegenüber der Schwangeren. Immer wieder machen Fälle Schlagzeilen, in denen die Gesetzeslage Frauen das Leben kostet. So die Zahnärztin Savita Halappanavar, die 2012 starb, nachdem ihr eine Abtreibung verweigert wurde. Sie ging in der 17. Schwangerschaftswoche in das Universitätsklinikum Galway, da sie unter Rückenschmerzen litt. Die behandelnden Mediziner diagnostizierten eine Fehlgeburt. Da das Herz des Fötus aber noch schlug, wurde Halappanavar mit Hinweis auf die Rechtslage der Abbruch verweigert. Erst nachdem der Herzschlag aussetzte, wurde die Abtreibung eingeleitet. Allerdings hatte sich die 31-Jährige in der Zwischenzeit bereits eine Blutvergiftung zugezogen – und starb wenige Tage darauf.
Regelmäßig rügen die Vereinten Nationen Irland, zuletzt im Juni dieses Jahres. Die UN nennt die irische Gesetzeslage „schrecklich und unmenschlich“. Clarke geht es darum, sich praktisch solidarisch zu zeigen. Ungefähr zehn Personen verlassen Irland täglich, um abzutreiben – aber nicht alle, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, wissen, wie sie diesen durchführen können. Hier kommen Clarke und ihr Team ins Spiel: „Wir bieten drei Dinge an: Informationen, Geld und Schlafplätze“, sagt Clarke.
Abtreiben nur mit Geld
Die 44-Jährige kam durch eine persönliche Erfahrung dazu, sich für reproduktive Rechte zu engagieren. „2001 lebte ich für ein Jahr in Schweden. Dort hatte ich mit meinem damaligen Freund einen Kondomunfall. In der Apotheke wurde mir die Pille danach sofort gegeben. In den USA hätte ich dafür ein ärztliches Rezept benötigt!“, erzählt sie. Zurück in New York, las sie auf dem Titel einer Zeitung die Schlagzeile „Notlandung“. Darunter ein Cartoon einer schwangeren Frau, die mit dem Fallschirm über Manhattan abspringt. „In der Geschichte ging es darum, dass Frauen von der Ostküste nach New York kamen, um Abtreibungen nach der 16. Woche durchzuführen“, so Clarke, die die Information schockierte. „Nach meiner Erfahrung in Schweden dachte ich: Oh mein Gott, nur Frauen mit Geld können abtreiben? Ihre Stimme bebt. „Die Frauen mussten zwei Tage in die Klinik, ohne einen Schlafplatz zu erhalten. Es gab kein Airbnb und kaum Internet. Frauen, die noch nie in New York waren, haben in ihren Autos oder an den Busbahnhöfen geschlafen“, erklärt Clarke. Die darauffolgenden drei Jahre half sie, Schlafplätze an Frauen zu vermitteln.
Als ihr damaliger Ehemann ein Jobangebot in London erhielt, ging Clarke mit. Kaum in der britischen Hauptstadt angekommen, suchte sie Wege, ihren Aktivismus fortzuführen – und gründete im Oktober 2009 das Abortion Support Network. „Im ersten Jahr meldeten sich vier Menschen bei uns – von Oktober bis Dezember. 2010 waren es 89. 2016 waren es 801. Und allein im letzten Monat 97“, sagt Clarke und malt pfeifend einen steigenden Graphen in die Luft. Seit 2012 mussten sie keine Person aufgrund von Geldmangel nach Hause schicken. Die meisten ihrer Klienten, wie sie die Nutzer des Angebots nennt, kommen aus Irland: „99 Prozent unserer Klienten sind irische Frauen und ein Prozent sind entweder Trans-Männer oder von der Isle of Man.“ Clarke führt aus: „Uns ist es scheißegal, ob du eine Frau bist oder ein Trans-Mann. Wir haben keine Hierarchie der Abtreibungen. Für uns gibt es keine guten oder schlechten Abtreibungen.“
Frauen, die in Irland zu einem Rape Crisis Center gehen, um sich über eine Abtreibung zu informieren, wird mitunter ein schlechtes Gewissen eingeredet. „Die sagen ihnen: ‚Wenn Sie abtreiben, sind Sie schlimmer als der Mann, der sie vergewaltigte. Denn er ist nur ein Vergewaltiger, Sie sind eine Mörderin!‘“ Mit ihrer 15-jährigen Erfahrung kann Clarke viele Geschichten erzählen. „It’s fucking disgusting!“, brüllt Clarke und haut so stark auf den Tisch, dass ihr Wein im Glas hin und her schwappt.
Die privaten Kliniken Marie Stopes und BPAS führen im Auftrag des National Health Service (NHS), des nationalen Gesundheitssystems von England, Schwangerschaftsabbrüche durch. In Schottland und Wales zahlt das NHS die Abtreibungen und führt sie auch aus. Weil Irinnen keinen Zugang zum NHS haben, müssen sie nach England gehen. Aber: Marie Stopes und BPAS sind Spezialkliniken, keine Krankenhäuser. Daher können sie im Falle eines medizinischen Notfalls die Abtreibungen nicht durchführen. „Es gibt nur ein einziges Krankenhaus in England, das private Schwangerschaftsabbrüche vornimmt – und die machen es nur bis zur zwölften Woche“, sagt Clarke mit ernstem Gesicht.
Später, als sie auf der Bühne sitzt, kommentiert sie: „Wir müssen lachen, denn wenn wir das nicht täten, würden wir weinen.“ Mit einer Mitstreiterin spricht sie im Nebenraum des Cafés über ihre Arbeit. An der Wand hinter Clarke hängt ein schwarzes T-Shirt. Darauf: ein Uterus, aus dem eine Hand wächst, die einen Stinkefinger zeigt. „Ich wünschte, unsere Klientinnen würde ihre ungeplanten Schwangerschaften besser planen“, sagt sie, bitterböse grinsend. Alle im Raum lachen. Aktivistinnen aus Berlin, die sich für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzen, haben Clarke eingeladen. Einige von ihnen sind Teil des "What the Fuck"-Bündnisses, das am 16. September in Berlin gegen den „Marsch für das Leben“ demonstrierte. Bei dem von selbsternannten Lebensschützern organisierten Marsch forderten christlich-fundamentalistische und rechtsnationale Gruppen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.
„Europe is fucked“
Clarke nimmt kein Blatt vor den Mund: „Europe is fucked: In nur sechs Ländern kann eine Abtreibung nach der zwölften Woche vorgenommen werden: in Spanien, Belgien und Rumänien bis zur 14. Woche, in Schweden bis zur 18. Woche, in Holland bis zur 22. und in England, wo es bis zur 24. Woche geht.“ In Polen und Malta herrschen ähnlich rigorose Gesetzeslagen wie in Irland. Was sich politisch ändern müsse? Darauf hat Clarke keine Antwort. Sie mache keine Lobbyarbeit, sondern sei eher praktisch veranlagt. „Es geht nicht um Politik, sondern es ist das verfickte Patriarchat. Viele rufen uns an und sagen, dass sie gegen Abtreibungen waren, bis ihre Tochter oder sie selbst unfreiwillig schwanger wurden. Diese Haltung müssen wir aus den Köpfen kriegen!“, ruft Clarke. Sie versteht sich erst seit Kurzem als Feministin. „Ich komme überhaupt nicht aus einer radikalen oder feministischen Ecke zu dem Thema.“ Mara Clarke ist ein Paradebeispiel dafür, dass feministischer Aktivismus und Humor kein Widerspruch sein müssen – und niemand Bücher lesen muss, um sich solidarisch zu verhalten. „Mir war immer klar, wo und wie ich Abtreibungen kriegen kann. Ich mache das aus Fairness. Denn diese Gesetze bestrafen nur arme Frauen“, sagt sie und kippt den letzten Schluck Weißwein hinunter.
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