„Feminismus ist auch Gift“

Interview Diversitätspolitik muss kritisch überdacht werden, sagt die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan
Ausgabe 50/2018
„In der postkolonialen Theorie sprechen wir von hegemonialem Zuhören.“
„In der postkolonialen Theorie sprechen wir von hegemonialem Zuhören.“

Foto: Ben A. Pruchnie/Getty Images

Das Jahr 2018 war für die Deutsche Frauenbewegung voller Festakte: 100 Jahre Frauenwahlrecht, 50 Jahre neue deutsche Frauenbewegung. Zu früh gefeiert, sagt die postkoloniale Theoretikerin Nikita Dhawan. Ausgerechnet in diesem Jahr hat sich die indisch-deutsche Wissenschaftlerin auf Vorträgen und in Interviews immer wieder kritisch zu Wort gemeldet. Sie hält nichts von Gender Mainstreaming und Quote und wirft westlichen Feministinnen nichts weniger als Ignoranz vor. Caren Miesenberger hat die energische Kritikerin der deutschen Frauenbewegung in Kairo getroffen.

der Freitag: Frau Dhawan, das ganze Jahr hat Deutschland die Frauenbewegung gefeiert. Sie dagegen haben harte Kritik geäußert.

Nikita Dhawan: Die feministische Bewegung in Deutschland hat sich, wie viele andere Bewegungen, lange mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Das finde ich richtig. Leider gab es wenig Auseinandersetzung mit Kolonialismus und seinen Konsequenzen.

Was hat denn auch das eine mit dem anderen zu tun?

Salman Rushdie hat gesagt: Das Problem mit den Engländern ist, dass ihre Geschichte in Übersee stattgefunden hat und sie deshalb deren Bedeutung nicht kennen. Ich glaube, dass das auch ein deutsches Problem ist. Teilweise hat die deutsche Geschichte auch in Übersee stattgefunden. Das wird ignoriert.

Die deutsche Ideengeschichte fand doch aber an deutschen Universitäten statt. Auch die zweite Welle der deutschen Frauenbewegung hat in den Turbulenzen der Studierendenbewegung ihren Anfang genommen: Auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Frankfurt.

Mein ehemaliger Kollege in Frankfurt, Jürgen Habermas, spricht von der Entstehung der Aufklärung in Kaffeehäusern, wo bürgerliche Männer zusammenkamen und über wichtige politische Themen deliberierten. Meine Frage ist dann immer: Woher kam der Kaffee? Der Zucker? Wenn ich Vorträge halte, frage ich: Ist eine Person im Raum, die keine Baumwolle trägt, keine Schokolade oder Kartoffeln isst?

Kaffee und Baumwolle? Das ist aber eine sehr punktuelle Verbindung zum Kolonialismus.

Frantz Fanon sagt, dass Europa wortwörtlich eine Kreation seiner Kolonien ist.

In Ihrer Arbeit schreiben Sie, weiße Feministinnen waren Komplizinnen des Kolonialismus. Übertreiben Sie da nicht ein bisschen?

Nach den sexualisierten Übergriffen in der Silvesternacht in Köln hat Alice Schwarzer in der Emma geschrieben, dass Männer aus Kulturen, in denen Frauenfeindlichkeit und Homophobie herrschen, Toleranz und Geschlechtergerechtigkeit lernen müssen. Als ob das Problem mit den Migranten importiert worden wäre.

Das vielleicht nicht. Aber sie ist dort doch ebenso ein Problem wie in biografisch deutschen Milieus. Darf man das nicht ansprechen?

Schwarzer macht geschlechtsbasierte Gewalt zu einer Waffe, um arabische Männlichkeiten zu dämonisieren, als seien sie die einzige Verkörperung patriarchaler Gewalt. Mindestens seit Trump und der gesamten #MeToo-Bewegung ist es problematisch, jede Art geschlechtsbasierter Gewalt auf andere Männer zu projizieren.

Kernforderungen der deutschen Frauenbewegung, wie die Quote, sind ohne ethnischen Bezug formuliert. Sie könnte allen Frauen gleichermaßen zugutekommen.

Die Quotenpolitik hat im deutschen Kontext vor allem bürgerlichen, heterosexuellen Frauen geholfen, Karriere zu machen. Arbeiterinnen, schwarze Frauen und Muslima bekommen dadurch keinen Fuß in den Arbeitsmarkt. Deshalb müssen wir Gender Mainstreaming und Diversitätspolitik kritisch überdenken.

Sie selbst sind Professorin und nicht weiß. Das ist doch eine schöne Errungenschaft von Diversitätspolitik.

Ich war sechs Jahre lang im Exzellenzcluster der Universität Frankfurt. Die Universität sprach ständig über Diversitätsfreundlichkeit, weil das internationale Ranking darauf basiert. Häufig habe ich bis spätabends gearbeitet. Erst wenn dann die Reinigungskraft kam, sah man die Diversität auch. Die hätten sie mal fotografisch auf ihrer Homepage abbilden sollen.

Haben Sie bereits allen Glauben an den gemeinsamen Kampf aller Feministinnen verloren? Die Women’s Marches seit 2017 waren doch zum Beispiel sehr inklusive und diverse Veranstaltungen. Auf die Opposition zu Donald Trump und Harvey Weinstein konnten sich Millionen einigen.

Als Feministin nehme ich Bündnisse sehr ernst. Gleichzeitig bin ich vorsichtig. Es ist verlockend, Allianzen zu feiern. Aber auch riskant, denn in ihnen können Strukturen der Ungleichheit und Gewalt reproduziert werden.

Das klingt ausweglos.

Für eine andere Allianzpolitik brauchen wir eine andere Ethik des Zuhörens. Wir müssen vorsichtig sein und dürfen nicht annehmen, dass die Lösungen, die im Westen oder für bürgerliche Frauen oder für gebildete, transnationale Eliten wie mich, automatisch anwendbar auf arme oder benachteiligte Frauen sind.

Dass Zuhören eine gute Antwort auf gesellschaftliche Spannungen ist, scheint derzeit Konsens zu sein. Ist es wirklich so einfach?

Wir werden konstant scheitern und Fehler machen. Um Beckett zu zitieren: Versuch es wieder, scheitere erneut, scheitere besser.

Wir können nur scheitern?

Die postkoloniale Feministin Gayatri Spivak hat gesagt: Politikmachen ist wie Zähneputzen. Wir wissen, dass wir sterben werden. Aber trotzdem putzen wir unsere Zähne. Wenn wir morgens aufwachen und in den Tag starten, dann hoffen wir, ihn zu überleben – obwohl es keine Garantie dafür gibt.

Zur Person

Nikita Dhawan ist Professorin für Politikwissenschaft und Gender Studies an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie zählt zu den wichtigsten postkolonialen Theoretikerinnen im deutschsprachigen Raum. Aufgewachsen ist sie in Indien

Wir wissen nicht, ob wir von den Früchten unseres Kampfes noch profitieren, kämpfen aber trotzdem. Die Zahnhygiene ist als Kritik der Sterblichkeit gemeint?

Genau. Wir machen sie in der Hoffnung, dass wir auch mit 80 noch ein Baguette genießen können. Politische Arbeit ist genauso: Wenn du Solidarität praktizierst, Widerstand gegen unterdrückende Strukturen artikulierst, weißt du vorher nie, wie deine Bemühungen sich entwickeln. Und: Ob die Leute, denen du helfen willst, sich gegen dich aufrichten und dich der Gewalt bezichtigen.

Aber ist das nicht sehr unfair? Alice Schwarzer meint es doch gut, wenn sie sich für die marginalisierten muslimischen Frauen ausspricht.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Das ist ein wunderschönes deutsches Sprichwort.

Zurück zum Zuhören. Ist das Ihre Lösung, Ihr Auftrag an die deutsche Frauenbewegung?

Zuhören kann auch eine Performance von Macht sein. In der postkolonialen Theorie sprechen wir von hegemonialem Zuhören.

Sie meinen, dass nur bestimmte Personen Gehör finden?

Ja. Deshalb sind die Bücher von Necla Kelek und Seyran Ateş so beliebt, weil sie sagen, was die deutsche Gesellschaft hören will: Dass muslimische Frauen unterdrückt sind, Opfer ihrer Kultur, dass der Islam eine repressive Religion ist. Europäer fühlen sich dadurch gut, emanzipiert, tolerant, aufgeklärt. Denn gegenüber der muslimischen Welt ist man dann überlegen.

Aber ob hier in Kairo oder in Gießen, wo Sie unterrichten: Es kämpfen doch alle an derselben Front, für Gleichberechtigung. Muss es nicht eine Losung geben, die uns alle vereint? Eine Art feministischen Populismus?

Ein populistischer Feminismus klingt sehr attraktiv. Ich habe nichts dagegen.

Aber?

Feminismus ist, wie Pharmakon von Derrida, sowohl Medizin als auch Gift. Die Herausforderung ist, Gift in Gegengift zu verwandeln. Spivak, eine der inspirierendsten Wissenschaftlerinnen, die ich im postkolonialen, feministischen Kontext gelesen habe, spricht über Ideologiekritik.

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