Als Shanawaara das erste Mal auftrat, regnete es in Strömen. Mitten auf einem öffentlichen Platz in São Paulo setzte sie sich während des Feierabendverkehrs auf eine Luftmatratze. Menschentrauben passierten das schmale Mädchen mit Schnurrbart, das eine Kordel um seinen braunhaarigen Schopf gewickelt hatte. Nur eine Zeltplane schützte sie vor dem Regen. Für eine Protestaktion lud „Shana“ an diesem Tag Fremde dazu ein, in ihrer Ruheoase auf Pflastersteinen Platz zu nehmen. Die Studentin wollte Passanten im Chaos der Megastadt ein offenes Ohr anbieten, einfach so.
Tatsächlich nahmen Leute das Angebot an und sprachen mit ihr über ihre Probleme. Ein Mann erzählte ihr von seiner gescheiterten Ehe. Den Menschen habe es gutgetan, mit ihr zu reden, erzählt Shanawaara. Und sie, die es viel Mut kostete, als sie selbst auf die Straße zu gehen, war überrascht: Fremde vertrauten ihr, einer Person, deren Gender nicht gemäß der üblichen Zweiteilung identifizierbar war, Geheimnisse an.
Aufstieg der Evangelikalen
Bis zu jenem Zeitpunkt verstand sich Shanawaara als schwuler Mann. Von Fabito Figueiredo, so lautet ihr Geburtsname, spricht sie mittlerweile in der dritten Person. Der war damals 23 Jahre alt. „Wie ein Hippie sah ich aus, jetzt bin ich eher eine Diva“, sagt sie heute. Mittlerweile ist es ihr egal, ob sie als Mann oder als Frau gesehen wird. Ihrem Aktivismus ist sie treu geblieben. Heute, drei Jahre später, ist Shanawaara Sängerin und setzt sich für die Rechte von Menschen ein, deren Genderidentität in Brasilien marginalisiert wird.
Die aktuelle politische Situation in ihrem Land sei verheerend, sagt Shanawaara. Dilma Rousseff, erste Frau im Präsidentenamt Brasiliens, wurde Anfang Mai vorläufig von ihrem Amt suspendiert. Offiziell wurde der sozialdemokratischen Staatschefin vorgeworfen, Haushaltszahlen geschönt zu haben. Derzeit vertritt sie ihr ehemaliger Vize Michel Temer, der eine konservative Regierung berufen hat, die größtenteils aus weißen Männern besteht. In seiner Antrittsrede plädierte er für mehr Religiosität in der Politik, unter den Abgeordneten seiner Übergangsregierung sind auch evangelikale Pastoren.
Dass mit dem Regierungswechsel Evangelikale in der Politik nun mehr zu sagen haben, findet Shanawaara gefährlich. Der Großteil der brasilianischen Bevölkerung ist katholisch, auch Präsidentin Rousseff. Für sie stand der katholische Glauben allerdings nie im Widerspruch zu einer liberalen Haltung. Evangelikale Glaubensgemeinschaften und Pfingstkirchen verzeichnen in Brasilien aber ein enormes Wachstum und haben zunehmend Einfluss in der Politik. Viele dieser Kirchen sprechen sich gegen gleichgeschlechtliche Liebe aus. Mitunter gibt es Gottesdienste, in denen Homosexuelle „geheilt“ werden sollen.
Shanawaara glaubt, die Evangelikalen brauchten immer einen Feind. Früher seien dies vor allem afrobrasilianische Religionen gewesen – nun seien Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender dazugekommen. „Sie versuchen, die gleichgeschlechtliche Ehe wieder aufzuheben und durch das Familienstatut zu ersetzen, das besagt, dass eine Familie aus Mann, Frau und Kindern besteht. Auch wollen sie, dass der Bundesrat für Psychologie Homosexualität wieder als Krankheit klassifiziert.“
Und die Ultrakonservativen erzielen viele Erfolge. Sie schafften es, Gesetze gegen Homophobie zu blockieren und Genderdebatten aus den Lehrplänen von Schulen zu streichen. Ein von Rousseff erlassenes Dekret, das Transsexuellen erlaubte, ihren selbstgewählten Namen bei offiziellen Angelegenheiten zu verwenden, wurde von der Übergangsregierung bereits revidiert.
In Brasilien schafft Shanawaara es, ihren Lebensunterhalt mit Performances zu bestreiten. In ihrer Musik kombiniert sie brasilianische Musikrichtungen wie Samba und Baile Funk mit Texten, die mit der Heteronormativität der Genres brechen. Zum Gespräch in Hamburg, wo sie mit einer Perfomance zu Gast ist, erscheint sie mit rotem Lippenstift und Cowboystiefeln.
Die Sängerin wuchs in Osasco auf, einer Stadt in der Metropolregion São Paulos. Mit 19 begann sie, an der dortigen Universität zu studieren. Nach dem Abschluss blieb sie in der größten Stadt Brasiliens, wo sie sich im Alltag relativ sicher fühlte. „In großen Städten haben wir zwar Fortschritt, aber in der Politik ist es sehr regressiv“, sagt sie. Ihr Studienabschluss in Sozialwissenschaften öffnet Shanawaara gelegentlich Türen. In Hamburg tritt sie nicht nur auf, um ihre Musik zu performen, sie hält auch einen Vortrag über die aktuelle Situation für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender in Brasilien.
Die Stimmung im Saal ist aufgewühlt, viele in Hamburg lebende Brasilianer sind gekommen. Schnell wird Portugiesisch gesprochen, die Argumente überschlagen sich, der Zeitplan wird gesprengt. Die große politische Krise Brasiliens wird im Kleinen in Hamburg sichtbar, wobei sich fast alle einig sind, dass das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff und die daraus folgenden politischen Veränderungen ein Rückschritt für die Demokratie sind.
Dass Brasiliens ultrakonservative und extrem religiöse Spitzenpolitiker keinen Hehl daraus machen, dass die Homosexuelle offen anfeinden, zeigte sich, als Anfang Mai im Parlament über das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff abgestimmt wurde. Während der Abstimmung beschimpfte der extrem rechte Abgeordnete Jair Bolsonaro den einzigen offen schwulen Parlamentsabgeordneten Brasiliens, den Linken Jean Wyllys, mit homophoben Tiraden und bedrängte ihn physisch so sehr, dass dieser ihm ins Gesicht spuckte. Bolsonaro ist ein politischer Verbündeter des Interimspräsidenten Temer.
Shanawaara sieht in dieser Auseinandersetzung ein Symbol für den Angriff auf all diejenigen, die nicht heterosexuell sind. Ihrer Meinung nach kippt die Stimmung im Land: „Die Leute der eher gewalttätigeren Rechten werden sichtbarer, sowohl in den sozialen Netzwerken als auch auf den Straßen. Der Staat nimmt uns unterdessen Rechte weg.“ Schon bislang ermittle die Polizei bei Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender nur in Ausnahmefällen. Viele der sogenannten Hassverbrechen würden außerdem so klassifiziert, dass es wirkt, als hätten sie nichts mit Homo- oder Transphobie zu tun. Weltweit hat Brasilien aber die höchste Mordrate an Menschen, die Transgender sind oder sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. Laut Statistik wird in Brasilien alle 23 Stunden eine transsexuelle Person ermordet. Shanawaara befürchtet, dass das nun noch schlimmer wird.
Boykottiert die Spiele!
Auch andere Gruppen leiden unter dem faktischen Regierungswechsel. Das Kulturministerium wurde zunächst aufgelöst, erst nach Protesten von Kunstschaffenden wurde diese Entscheidung wieder zurückgenommen. Aufgelöst wurden aber die Ministerien für Frauen, ethnische Gleichheit und Menschenrechte. Beziehungsweise sie wurden in Sekretariate unter Verwaltung des Justizministeriums umgewandelt. Hinzu kommt: Die neue Sekretärin für Frauenfragen, Fátima Pelaes, ist strikt gegen Abtreibungen, die in Brasilien ohnehin nur erlaubt sind, wenn die Schwangere vergewaltigt wurde oder in Lebensgefahr schwebt. „Die evangelikale Politikerin lehnt Abtreibungen auch in diesen Fällen ab. Sie wurde bewusst in dieses Amt eingesetzt, damit gesagt werden kann, dass auch Frauen gegen Abtreibung sein können“, kritisiert Shanawaara.
Was sich ändern muss, um bessere Verhältnisse für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender zu schaffen? Shanawaara hat eine ziemlich klare Vorstellung: „Ich bin in vielerlei Hinsicht sehr privilegiert, und Brasilien ist ein riesiges Land mit gigantischer kultureller Diversität. Es gibt queere Festivals und auch mal homoaffektive Werbekampagnen, aber im Kongress schaffen wir es nicht, uns durchzusetzen. Wenn wir die Politik ändern könnten, wäre es viel ruhiger.“
Um darüber aufzuklären, wie die politische Lage in Brasilien der Situation von Menschen marginalisierter Geschlechter und sexueller Identitäten schadet, geht Shanawaara auf Tournee. Und sie fordert, dass Ausländer die im August stattfindenden Olympischen Spiele vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Brasilien boykottieren. Das sei ein machtvoller Hebel, um etwas zu bewegen. Shanawaara selbst hat das Glück, noch nie wegen ihrer geschlechtlichen Orientierung physisch angegriffen worden zu sein. Dafür, dass das so bleibt, kämpft sie.
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