Matisse in Stuttgart

Ausstellung Henri Matisse wirkt gegenüber seinen verwegenen Kollegen Pablo Picasso und Paul Gauguin immer etwas bieder. Dennoch gehört der auch als Jurist ...

Henri Matisse wirkt gegenüber seinen verwegenen Kollegen Pablo Picasso und Paul Gauguin immer etwas bieder. Dennoch gehört der auch als Jurist ausgebildete Maler zum Dreigestirn der frühen Moderne. Wenn Louis Aragon kolportiert, dass gerade Matisse seine Malerei als einen Akt der Vergewaltigung erlebt hat, wirkt das ohne weitere Erläuterung etwas verstörend. Die Ausstellung Matisse - Menschen, Masken, Modelle in der Stuttgarter Staatsgalerie bringt Licht in dieses ominös wirkende Kapitel der Malerei. Unter dem harmlosen Vorwand, Matisse als Porträtisten vorzustellen, locken die Kuratoren die Massen in die Ausstellung hochkarätiger, aber auch teurer Bilder aus aller Welt.

Viele Exponate sind weit gereist: die Ballerina kommt aus Baltimore, Yvonne Landsberg aus New York, die Dame in Grün aus St. Petersburg. Über 100 Gemälde, Zeichnungen und Plastiken sind in Stuttgart versammelt und werden im kommenden Jahr noch in Hamburg zu sehen sein. Was jedoch unter "Porträt" im Fall von Matisse zu verstehen ist, mag für den einen oder anderen überraschend sein.

Der 1869 geborene Franzose malte seine Sammler Michael und Sarah Stein, Frau und Tochter saßen ihm Modell, genauso wie Lucienne, die Frau des Dichters Roger Bernard. Gleichwohl stellt sich kein Gefühl von Intimität ein, von Salon oder Familientreffen. Die Figuren haben etwas Unnahbares, sie sind uns entrückt, selbst wenn sie den Betrachter zu fixieren scheinen. Wie ist dieses Paradox zu erklären? Matisse war prinzipiell auf die Gegenwart eines Modells angewiesen, um malen zu können. Er fasste das abbildende Porträt als Zwischenstadium einer höheren Form des Porträts auf. "Für mich liefert ein Modell Hinweise... Das ist der Herd meiner Energie", soll der Meister laut Louis Aragon geäußert haben.

Unter "wirklichen Porträts" verstand Matisse, von dem zahlreiche theoretische Texte und Bekenntnisse überliefert sind, die Selbstporträts Rembrandts, ausdrucksstarke Malerei, die sich von der äußerlichen Erscheinung, wie eine Fotografie sie abbildet, unterscheidet. Das Modell musste ihn interessieren, er beraumte mehrere Sitzungen an, in deren Verlauf "aus dem Gegenüber ein Thema" wurde, "von welchem Impulse von Linien oder Werten ausgehen". Dies jedenfalls schrieb er in seinem Text Porträts im Jahr seines Todes 1954. Das konnte etwa ein Komplementärkontrast aus Violett und Gelb sein wie bei Mademoiselle L. L., Untertitel Der gelbe Hut. Das Werk von 1929 steht für Matisses Art, Figur und Grund über die Farbe zu verschmelzen.

Der Künstler destillierte also aus der Begegnung mit dem Gegenüber eine quasi spirituelle Erfahrung, den Übergang in eine andere Welt, die Welt der Kunst. So erklärt sich auch das Maskenhafte der Porträtierten nicht allein als Reflex auf Picassos Demoiselles d´Avignon von 1907 oder die von Matisse geschätzte archaische Kunst, sondern als Verfahren. Das gilt nicht für seine Vorstudien, die Zeichnungen. Yvonne Landsberg etwa tritt dem Betrachter mit in die Hüften gestemmten Händen entgegen, sie wendet dem Betrachter den Kopf zu, die Brasilianerin scheint sich über etwas aufzuregen. Vielleicht weil niemand etwas sagt auf dieser noblen Party. Auch sie wird verstummen in dem ebenfalls ausgestellten Gemälde von 1914, in dem ihr Gesicht zu einer weißen Maske erstarrt ist.

Wie tot wirkt hier die vitale Dame, und auch das Bild hat eine unterkühlte, düstere Ausstrahlung. Kein Wunder, dass Matisse sich von seinen Modellen schriftlich zusichern ließ, alle künstlerischen Freiheiten zu haben. In den so genannten Porträts kommen die dunklen Seiten des Malers trotz heiter gestimmter Interieurs zum Ausdruck. Vielleicht sind die Porträts auch ein Schlüssel, um das Werk eines Künstlers neu zu entdecken, das über die massenhafte Reproduktion dekorativ geworden zu sein scheint.

Matisse - Menschen, Masken, Modelle.Staatsgalerie Stuttgart bis 11. Januar 2009 Katalog 24,80 Euro. Bucerius Kunst Forum Hamburg 31. Januar bis 19. April 2009

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden