Bei dem Stichwort "China" überwiegen noch immer negative Assoziationen: Menschenrechtsverletzungen, eingeschränkte Pressefreiheit, Zentralismus. Seit einiger Zeit wächst das Interesse an dem sich verhalten dem westlichen Lebensstil öffnenden kommunistischen "Reich der Mitte". Altkanzler Helmut Schmidt begründet in einem jüngst von ihm herausgegebenen Buch seine jahrzehntelange Beschäftigung mit der wachsenden politischen Macht China, und immer öfter sind deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter unterwegs nach Fernost.
Auch die Bundeskulturstiftung hat den Giganten im Rahmen eines ihrer Initiativprojekte näher ins Auge gefasst. Seit drei Jahren beschäftigt sie sich mit dem Thema "Kunst und Stadt". Nach Caracas stand nun Peking im Fokus der Befragung. Zwölf deutsche und chinesische Künstlerinnen unterschiedlicher Sparten reisten vier Monate lang in die chinesische Hauptstadt und versuchten etwas von den "Fliehkräften" der "Hochgeschwindigkeitsurbanisierung" umzusetzen. Die Megapolis mit derzeit rund 11,5 Millionen Einwohnern verändert sich rasend schnell - nicht zuletzt durch die Nominierung der Stadt zum Austragungsort der Olympischen Spiele 2008.
Es sind sicher Zweifel angebracht, ob ortsfremde Künstler überhaupt in der Lage sind, in so kurzer Zeit die gravierenden Veränderungen "Beijings" auch nur annähernd zu erfassen. Die Endpräsentation des engagierten Projekts im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe widerlegt solche Bedenken jedenfalls teilweise. Die Videokünstlerin Heike Baranowsky bekennt allerdings, dass es ohne die beteiligten chinesischen Kollegen nicht möglich gewesen wäre, vor Ort zu arbeiten. Ihre mit ihrem britischen Partner Wazem Khan realisierte Video-Installation Looming visualisiert buchstäblich ihren Weg der Annäherung aus der Totale. Die Künstlerin stellte vier beschichtete Glasscheiben in den Raum, um darauf Videos zu projizieren. Sie ergeben für den Betrachter symbolisch einen "Hutong", ein Stadtviertel Pekings. Die vier Filme zeigen mit statischer Kamera aufgenommene Bilder aus der Vogelperspektive, die durch langsames Heranzoomen den Bildgegenstand verändern. Annäherung als Prozess: In einer typischen Hinterhoflandschaft kommt ein verblichenes Wandbild mit lachenden Kindergesichtern einer früheren Schule zum Vorschein, in einer Grünanlage zwischen Hochhäusern wird eine Frau erkennbar, die Tai Chi praktiziert.
Individuelles Glück wird zum Stichwort, das sich wie ein roter Faden durch die gedrängt aufgebaute Endpräsentation im ZKM zieht. Die ausgestellten Videos, Fotos, Texte und Objekte beschäftigen sich meist mit der Diskrepanz zwischen Tradition und Ultramodernität, Kollektivität und Individualität. Der "menschliche Faktor" sticht vor der Kulisse anonymer Wolkenkratzer oder den Archivbildern aus dem China der Kulturevolution derart hervor, als würde dieses Volk die Zeitläufte nur aufgrund einer großen inneren Stärke bestehen. Das gilt für die Schwarzweißbilder von Barbara Klemm, die die Ausstellung außer der Reihe bereichern, für Zang Kexins Fotografien von Pekings Pensionären, den "Überhalbhundertern", wie für Susanne Röckels Geschichte von zwei Abfallsammlern. Die Schriftstellerin hatte sich nachts verirrt und fand dank des Ehepaars aus der Provinz nach Stunden der Suche ihr Hotel wieder. Ihr Augenmerk galt den Gegensätzen der chinesischen Gesellschaft: "Vom Elend der Verlierer des Wirtschaftsbooms gemütlich in der Zeitung zu lesen, ist das eine; etwas anderes ist es, wenn man jeden Morgen vom Schlafzimmerfenster aus den klapprigen Kleinbus mit den zerschlissenen Sitzen sieht, in dem die Bauarbeiter übernachten (bis die neue Edel-Karaoke-Bar fertig ist), oder wenn man von einem rostigen Fahrradgepäckträger aus zusieht, wie freundliche und hilfsbereite Leute bis zu den Ellenbogen im Dreck wühlen müssen, um sich ein paar Pfennige zu verdienen", sagt sie ernüchtert.
Thomas Bayrle dagegen, Professor an der Frankfurter Städelhochschule, verwob buchstäblich alte Propagandabilder des kommunistischen China mit der aktuellen Dominanz des Verkehrs. Aus Pappstreifen, die als Straßen gekennzeichnet sind, flocht er Bildträger, auf die er Schwarzweißbilder projizierte. Offener und poetischer ging das Duo Christine de la Garenne und Via Lewandowsky mit ihren Motiven um. Das Video Breakback aus der Serie Neobiota. Fragmente des Missverstehens zeigt zerbrechende Essstäbchen in Nahaufnahme. Der Rhythmus der schnell geschnittenen Bilder und Klänge erzeugt eine Anmutung des beschleunigten Pulses der chinesischen Megastadt.
Konkreter näherte sich der Berliner Schriftsteller Ingo Niermann den Pekinger Verhältnissen. Er führte über 50 Interviews mit so genannten "Entscheidungsträgern". Dazu gehörte der Meteorologe Hu Zhijn, ein Experte für den künstlichen Regen. Den braucht Peking, um nicht in seinen grauen Nebelmassen zu ersticken. Niermanns Broschüre "eins", die in der Ausstellung als "Take-away" zu haben ist, enthält außerdem ein Gespräch mit der 22-jährigen Schriftstellerin Chun Sue, der sogar das New York Intellektuellen-Magazin Village Voice einen Artikel gewidmet hat. Denn von ihrem ersten Roman Beijing Doll wurden in China 100.000 Exemplare verkauft, bevor das autobiographische Werk aus dem Verkehr gezogen wurde. Die Chronik der gegen Moral und Konformität aufbegehrenden Schulabbrecherin traf den Nerv des modernen China, aber auch den der Zensurbehörde. Ihr Ruhm hat die Grenzen Chinas bereits passiert, vielen anderen Künstlern könnte es bald ähnlich gehen.
Das legt jedenfalls der hervorwagende Katalog des Projekts "totalstadt.beijingcase" nahe, der zahlreiche Aufsätze zur Architektur Pekings und zur aktuellen Kunstszene enthält. Darunter sticht die ausführliche Analyse des in Pittsburgh lehrenden Kunstwissenschaftlers Gao Minglu hervor. Er stellt fest, dass für die chinesischen Künstler der sich wandelnde städtische Raum zum zentralen Thema geworden ist: "Sie beobachten genau die verschiedenen Gesellschaftsschichten, gehen der Veränderung und Zerstörung der natürlichen und bebauten Umgebung sowie des urbanen Kontextes nach und erforschen die Kluft zwischen materieller Kultur und humanistischem Geist." Gao Minglu konstatiert eine "Suche nach menschlichen Werten", wie sie sich auch den deutschen Gastkünstlern aufgedrängt hat. Es entsteht der Eindruck, als sei China auf dem besten Weg, den Westen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch intellektuell einzuholen. Vielleicht ist "Beijingcase" der Anfang eines Dialogs, von dem beide Seiten profitieren könnten. Als Motto ließe sich eine Notiz des Performancekünstlers He Yunchang verwenden: "Die Klinge der Realität kann nur deinen Körper durchdringen, jedoch nicht deinen Willen verletzen."
totalstadt. bejing case. kulturelle aspekte der hochgeschwindigkeitssanierung in china. ZKM, Karlsruhe, noch bis zum 7. Januar 2007, Katalog, Verlag der Buchhandlung Walther König, 25 EUR
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