Manchmal kann man an der Straßenseite ablesen, wer welchen Platz in der Arbeitsgesellschaft einnimmt. Zum Beispiel in der Straße, in der ich lebe. Auf der linken Seite ein Norma. Ein paar Menschen, die schon bessere Tage gesehen haben, schlurfen hinein. Sie durchstreifen die Regale, nehmen Salami im Vorteilspack in die Hand, drehen und wenden sie, legen sie zurück. Sie sind schon zu lang vergeblich auf der Suche nach lohnender Beschäftigung. Auf der rechten Seite der Straße geht es vergnüglicher zu. Endzwanziger sitzen auf zusammengeschraubten Europaletten vor ihren MacBooks. Sie trinken Mate, lachen und reden immer mal wieder miteinander. Alle sehen furchtbar gut aus, alles wirkt hier wahnsinnig innovativ. Kreativwirtschaft eben. Ist das die hoffnungsvolle Zukunft der Arbeit? Oder ist das nur eine lässige Fassade, die darüber hinwegtäuscht, welchen Preis es hat, wenn der feste Arbeitsplatz im Büro sich in eine freie Existenz im Café verwandelt?
Längst kommt der Vater nicht mehr pünktlich um 17 Uhr nach Hause, wenn das Werkstor schließt. Die verstaubt wirkende Routine des Normalarbeitsverhältnisses, einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung, die meist vom Mann als Familienernährer ausgeübt wurde, ist heute abgelöst durch eine neue Norm des Arbeitens. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello gehen davon aus, dass sich der „kapitalistische Geist“ geändert hat: Man muss flexibler, kreativer und spontaner sein – und will es auch sein.
Der Idealtypus
Künstler und Kreative verkörpern den neuen Idealtypus des Arbeitnehmers: Für sie ist Arbeit nicht bloß irgendeine Maloche, sie stecken all ihre Leidenschaft in ein Produkt, das einen symbolischen Mehrwert hat. Kulturschaffende produzieren nicht nur austauschbare Ware, sondern eben Kunst. Dies spiegelt sich auch in ihrer Haltung zur Arbeit: Man sieht sie als sinn- und identitätsstiftend an, als Ausdruck persönlicher Individualität.
Dies kommt dem flexiblen Kapitalismus sehr entgegen: Man arbeitet jenseits betrieblicher Strukturen und fester Arbeitszeiten oder -orte, ist mobil, vernetzt und bereit, für mehr Freiheit bewährte Sicherheiten preiszugeben. Denn schließlich verwirklicht man sich selbst. Wirtschaft und Kultur verbinden sich so auf eine neue Weise: Das kreative Chaos, die Originalität und der manische Schaffensdrang stehen der effizienten ökonomischen Produktion nicht mehr im Weg. Im Gegenteil, dadurch wird Produktivität erst garantiert.
Sprechen staatliche Institutionen von der Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft für die heutige Arbeitsgesellschaft, wird einem vor Superlativen schnell schwindelig. Die Kulturwirtschaftsberichte, die die Bundesregierung seit den 1990er Jahren vorlegt, werden nicht müde zu betonen, dass Kultur der „Innovationstreiber“ sei, kurz: die „Zukunftsbranche“ für ökonomischen Erfolg und Fortschritt im 21. Jahrhundert. Nicht mehr der klassischen Industriearbeit haftet die Fiktion grenzenlosen Wachstums an, sondern sie wird mit der Innovationskraft kultureller Produkte verknüpft. Der Rohstoff Geist ist schier unerschöpflich; er produziert ständig Neues.
So beschwor Kulturstaatsministerin Monika Grütters anlässlich der Eröffnung des „Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes“ im Frühjahr dieses Jahres eine kulturelle Avantgarde, die uns aus der ökonomischen Lethargie retten soll: „Die Künstler und Kreativen tragen die Fackel, an der viele andere das Feuer eigener schöpferischer Kraft entzünden.“ Mitten im Dunkel der niedrigen Wachstumsraten leuchtet die dynamische Innovationskraft von Kulturprodukten und Kulturdienstleistungen verheißungsvoll.
Das gestiegene Interesse des Staates an der Kreativwirtschaft hat auch einen realen Grund. Ihre volkswirtschaftliche Wertschöpfung liegt mit derzeit rund 67,5 Milliarden Euro nur knapp hinter den großen Industriebranchen Maschinenbau und Automobilindustrie. Seit den 1980er Jahren steigen die Beschäftigungszahlen. Das liegt am digitalen Wandel ebenso wie an der Zunahme privat-kommerziell ausgerichteter Kulturberufe. Mittlerweile besteht die Kultur- und Kreativwirtschaft aus elf Teilmärkten. Kreative sind also längst nicht mehr nur am Schreibtisch grübelnde Schriftsteller, exzentrische Theaterschauspieler oder sensible Künstler. Zu ihnen gehören ebenso Architekten, Designer oder Entwickler in der Software- und Games-Industrie.
Die rasante Entwicklung der Branche geht einher mit einer neuen wirtschaftspolitischen Zuschreibung: Noch in den 1970er Jahren waren Kulturberufe mit einem sozialpolitischen Sonderstatus versehen. Sie produzierten Kulturgüter, die vor dem ungehinderten Zugriff des Marktes geschützt werden sollten. Doch mit der rasanten Entwicklung der Branche seit den 1980er Jahren steigt die Hoffnung, neue Beschäftigungspotenziale erschließen zu können.
Von Seiten des Staats wird dabei eine Marktgängigkeit von Kultur explizit eingefordert, wie die Soziologin Alexandra Manske erforscht hat. Kulturschaffende haben dadurch weniger einen kulturellen denn wirtschaftlichen Auftrag zur Erschließung ökonomisch zu verwertender Ressourcen. Sie werden dazu angehalten, sich um private Finanzpartner zu bemühen und Allianzen mit anderen Industriezweigen zu schließen, beispielsweise dem Tourismus.
Man mag es dem Kreativen von heute zunächst nicht ansehen, wenn er hinter seinem Laptop Mate schlürft, aber er wird als Unternehmer der Zukunft gehandelt: Innovativ und risikofreudig, zeigt er Eigeninitiative und beweist Wettbewerbsfähigkeit. Ganz nach der Devise „Frei sein statt frei haben“, wie es Catharina Bruns und Sophie Pester in ihrem gleichnamigen Buch schreiben, geht es darum, als ein Kreativunternehmer seinen entrepreneurial spirit zu finden: Initiiere dein nächstes Projekt, entdecke die neue befristete Stelle vor allen anderen, und ganz entscheidend: Ergattere neue Fördergelder! Unabhängig und frei zu arbeiten wird zum Selbstzweck. Und, das wird oft ausgeblendet, zur Notwendigkeit.
Denn mit dem Zuwachs der Beschäftigungsmöglichkeiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft haben sich auch die Arbeitsverhältnisse verändert. Während öffentlich geförderte Stellen durch Sparmaßnahmen und Privatisierungen zurückgehen, wächst die Zahl atypischer Beschäftigungsformen wie Solo-Selbstständigkeit, Leiharbeit, Werkverträge oder Teilzeittätigkeit rapide. Dies wirkt sich auch auf diejenigen aus, die noch im öffentlichen Sektor angestellt sind. Sie müssen zunehmend wie Freiberufler denken. Sie sollen sich selbst managen und Projekte eigenverantwortlich organisieren.
Von den prekären Rissen der beschworenen Freiheit der Kreativberufe wird in den Reden zur Wirtschaftsförderung dagegen nicht gesprochen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der bei der Künstlersozialkasse versicherten Künstler und Kreativen liegt mit knapp 16.000 Euro brutto nur knapp über dem Existenzminimum – wobei Frauen mit 13.000 Euro deutlich weniger verdienen. Zudem müssen Kulturschaffende, die auf Honorarbasis arbeiten, auf den Luxus des monatlichen Gehaltsschecks verzichten. Meist ist ein Projekt schon längst abgeschlossen, bevor Monate später ein spärlicher Betrag auf dem Konto eintrudelt. Manchmal haben sie auch Glück: Sie bekommen den Zuschlag für ein Stipendium oder Fördergelder. Aber Glück ist, wie so vieles im Berufsleben der Kreativen, nicht planbar. Eine Wohnung mieten oder einen Kredit aufnehmen? Spätestens hier ist der symbolische Mehrwert des Berufes nichts mehr wert.
Ähnlich verhält es sich mit der Absicherung. Die eingezahlten Rentenbeiträge reichen oftmals vorn und hinten nicht. Armut ist schon in jungen Jahren nicht wirklich sexy, im Alter ist sie es gewiss nicht mehr. Auch Krankheit wird schnell zum großen Problem, da man sich den Verdienstausfall nicht leisten kann. Die Alternative: Man verabschiedet sich von dem Ideal künstlerischen Schaffens in Vollzeit und nimmt einen „Brotjob“ an, der das Einkommen sichert und Risiken abfedert. Denn bei Arbeitslosigkeit kann der freie Kreativarbeiter auch nicht einfach Arbeitslosengeld I beantragen, sondern es droht gleich die Disziplinierungsmaschine Hartz IV.
Noch nicht genug investiert
Die Euphorie, mit der die neue Freiheit des Arbeitens in der Kunst- und Kreativwirtschaft oft begrüßt wird, vergisst ganz, die Voraussetzung einzufordern, die selbstbestimmte Arbeit erst ermöglicht: ein Mindestmaß an Sicherheit vor sozialen Risiken. Sieht man sich selbst als kreativer Unternehmer und ist von der Gestaltbarkeit des eigenen Lebens überzeugt, werden die Grenzen der Selbstentfaltung schnell ausgeblendet. Erst wenn der kreative Geist ins Stocken gerät, ahnt man, dass die Freiheit, die man wollte, auch ihre Tücken hat.
Allerdings gibt es einen Unterschied, der die Besucher des Supermarktes von den jungen Kreativen auf der anderen Straßenseite trennt. Beide Gruppen verfügen zwar nur über geringes Einkommen und sind nur dürftig abgesichert, dennoch bewegen sie sich in zwei Welten. Kulturschaffende verfügen in der Regel über einen hohen Bildungsabschluss und stammen oft aus der relativ gesicherten Mittelschicht. Auch wenn für sie Bildung nicht mehr zwangsläufig mit sozialem Aufstieg verknüpft ist, können sie von der Sicherheit der familiären Herkunft profitieren. Unsicherheit lässt sich leichter aushalten, wenn man weiß, dass im Zweifel jemand einspringt.
Hinzu kommt, dass Kulturschaffender nicht gleich Kulturschaffender ist. In kaum einer anderen Branche gibt es derart heterogene Berufsgruppen und Einkommenschancen. Ein Programmierer verdient unter Umständen deutlich mehr als eine festangestellte Journalistin. Und diese wiederum oft deutlich mehr als ihr selbstständiger Kollege. Aber genau das macht die Kreativwirtschaft zu einem so attraktiven Zukunftslabor für neue Formen der Erwerbsarbeit: Man geht prekäre Arbeitsverhältnisse freiwillig ein, da man sich davon Freiheitsgewinne erhofft. Da Erfolg oder Versagen oft eng nebeneinanderliegen und nicht zu kalkulieren sind, tendiert man aber dazu, Negativfolgen der prekären Kreativarbeit sich selbst zuzuschreiben – man hat eben noch nicht genug investiert.
Der Kampf um knappe Fördermittel führt zudem dazu, dass man im Kollegen immer auch den Konkurrenten sieht. Für Solidarität bleibt kaum Raum und Zeit. Die staatliche Aufforderung „Sei kreativ!“ gilt da im umfassenden Sinn: Statt eine soziale Absicherung zu gewährleisten, werden Kulturschaffende dazu animiert, eigene Lösungen für die private Vorsorge zu finden. Soziale Risiken werden zu einem individuellen Problem, das durch Erfindungsreichtum der Betroffenen gelöst werden soll. Wenn also Künstler und Kreative als Avantgarde stilisiert werden, so darum, weil sie die Wegbereiter einer prekären Arbeitsgesellschaft sind, der man den sozialen Abstieg auf den ersten Blick nicht ansieht.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.