Die Adresse ist eine Art Verpflichtung: Paula-Thiede-Ufer 10 lautet die Adresse, unter der die Bundeszentrale der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Berlin-Mitte residiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte Thiede den „Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands“: die erste hauptamtliche Frau an der Spitze einer großen Gewerkschaft.
Mehr als ein Jahrhundert später läuft Isabell Senff durch die riesige Verdi-Zentrale aus Glas, Stahl und Klinker, nicht ohne auf jeder Etage freundlich begrüßt zu werden und gleich allerhand Termine zu vereinbaren. Sie ist 28 und kommt regelmäßig aus Halle, wo sie bei der Post Briefzustellerin gelernt hat und nun für ihre Arbeit als Betriebsrätin freigestellt ist, nach Berlin – wegen ihres Jobs als Vize-Vorsitzende der Verdi-Jugend. Des Öfteren muss sie auch nach Bonn, wo die Zentrale der Post sitzt – und wo sich folglich der Gesamtbetriebsrat des DAX-Konzerns trifft. Dem gehört Isabell Senff auch an.
der Freitag: Frau Senff, wie kommt man dazu, im Alter von 28 Jahren bereits im Gesamtbetriebsrat der Post zu sitzen?
Isabell Senff: Ich falle da tatsächlich aus der Reihe: Bundesweit sind weniger als fünf Prozent unserer Betriebsratsmitglieder jünger als 35. Mir hatte eine Bekannte bei der Post zum Eintritt in die Gewerkschaft geraten, weil die schon viel für sie erkämpft hatte. Dem Rat bin ich gleich mit Ausbildungsbeginn gefolgt, habe mich zuerst in die Jugend- und Auszubildendenvertretung wählen lassen und später als Betriebsrätin kandidiert.
Sie liegen mit Ihrem Eintritt nicht gerade im Trend. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kam 2016 nur noch sehr knapp über sechs Millionen Mitglieder. Warum?
Das hat mit einer hohen Prekarisierung zu tun. Gerade junge Leute, die ins Erwerbsleben einsteigen, bekommen bloß befristete Arbeitsverhältnisse oder Werkverträge. Viele denken, da sie keinen sicheren Arbeitsplatz haben, treten sie nicht in eine Gewerkschaft ein. Das ist ein Fehler: Gerade wenn ich in einer prekären Situation bin, brauche ich eine starke Gemeinschaft, die für meine Interessen eintritt.
Sind Gewerkschaften mit ihren schrumpfenden Mitgliederzahlen überhaupt noch in der Lage, die Gesamtheit der Arbeitenden zu vertreten?
Wir sind eine große Gewerkschaft. Trotz leichter Mitgliederverluste liegt Verdi bei über zwei Millionen. Das ist eine starke Organisation, um die Beschäftigten gut vertreten zu können. In vielen Bereichen haben wir einen sehr guten Organisationsgrad, bei der Post zum Beispiel. In neuen Arbeitsfeldern, rund um die Digitalisierung, ist der Organisationsgrad dagegen sehr gering. Dort entstehen neue Unternehmensformen und Beschäftigungsbedingungen. Doch selbst wenn es in einem Betrieb nur ein einziges Mitglied gibt: Wir vertreten seine Interessen. Denn ansonsten sind die lachenden Dritten immer die Arbeitgeber.
Zur Person
Isabell Senff , 28, hat eine Ausbildung zur Fachkraft für Kurier- und Postdienstleistungen absolviert. Nach fünf Jahren Tätigkeit in diesem Beruf ist sie inzwischen für ihre Arbeit als Betriebsratsvorsitzende der Deutschen Post in Halle (Saale) freigestellt. Senff ist zudem Mitglied im Gesamtbetriebsrat der Deutschen Post AG. Zusätzlich engagiert sie sich ehrenamtlich in der Jugendorganisation der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und amtiert als deren stellvertretende Vorsitzende
Was ist für junge Arbeitnehmer heute anders als vor 20 Jahren?
Der Übergang von der Ausbildung in den Betrieb hat sich stark verändert. Leiharbeit und Werkverträge wurden ausgeweitet, Teilzeit und Befristung nehmen zu. Die Politik hat einen Nährboden geschaffen, der Menschen in unsichere Arbeitsverhältnisse bringt. Der Arbeitgeber kann mit seinen Beschäftigten spielen, sie untereinander ausspielen. Wenn ich Erwerbsbiografien älterer Kollegen und Kolleginnen lese, haben die ihre Ausbildung im Betrieb durchlaufen und sind bis heute dort. 25-Jährige haben dagegen schon ein halbes Buch mit unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen voll.
Wie machen Sie einem jungen Menschen, der für ein Start-up oder für einen Internetkonzern arbeitet, klar, dass er bei Verdi eintreten sollte?
Genau wie bei anderen Branchen. Wir differenzieren nicht zwischen Berufsfeldern oder Unternehmen. Gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingen fallen nirgends vom Himmel. Auszubildende und Beschäftigte treten in Verdi gemeinschaftlich dem Arbeitgeber gegenüber.
Branchenübergreifend steigt die Zahl der jungen Gewerkschaftsmitglieder in letzter Zeit.
Ja, es gibt auch viele, die mit ihrer Ist-Situation unzufrieden sind. Das hängt mit ihren Ausbildungsbedingungen zusammen. Sie erkennen sehr schnell, was für sie wichtig ist und das ist in der Regel: fairer Lohn, Arbeitszeiten und Urlaubstage. Eine unserer zentralen politischen Forderungen ist ja die nach einem Ende der sachgrundlosen Befristung. Treten junge Leute in eine Gewerkschaft ein, reizt es sie, dass keiner „von oben“ die Ansagen macht, sondern sie selbst die Taktgeber sind.
Na ja. Bei vielen Leuten gelten doch Gewerkschaften nach wie vor als sehr hierarchische Organisationen, wo die Basis abnickt, was die Oberen beschließen.
Das ist eine falsche Vorstellung. Wir machen jetzt zum Beispiel Telefon-Campaigning mit Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben – bei der Vor-, Haupt- und Nachbereitung von Tarifrunden. In persönlichen Gesprächen geht es um Forderungsfindungen. In Warnstreikphasen werden sie unterstützt, und nachdem ein Ergebnis erzielt wurde, wird gefragt, ob und wie zufrieden die Arbeitnehmer damit sind. Da werden die Leute direkt in Tarifauseinandersetzungen involviert.
2016 feierte das Mitbestimmungsgesetz 40-jähriges Jubiläum. Anlässlich dessen fand eine Studie der Universität Duisburg-Essen heraus, dass jungen Leuten Mitbestimmung sehr wichtig ist, sie jedoch nicht wissen, was ihre Rechte sind und wie sie diese wahrnehmen können.
Da haben wir auf jeden Fall noch unsere Hausaufgaben zu machen. Auch ich hatte vor meiner Ausbildung keine Ahnung, wie Gewerkschaften funktionieren. Die Sensibilisierung sollte viel früher einsetzen. Wir versuchen junge Leute in Berufsschulen aufzuklären und ihnen Mut zu machen, etwas zu verändern. Aber es ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig.
Wie erreicht man Studierende, Selbstständige, Freie oder Azubis, in deren Betrieben es gar keine Jugend- und Auszubildendenvertretung gibt?
Einerseits arbeiten wir seit 2015 mit einem Straßenwerbungskonzept. Viele Mitglieder reagierten erst einmal verhalten, als sie zum ersten Mal davon gehört haben. Doch das Konzept geht auf. Wir sprechen in Aktionen Menschen auf der Straße, in Betrieben und Hochschulen an, hören zu und stellen Verdi vor – bundesweit. Wir brauchen solche neuen Räume für die Ansprache. Und dann werben wir natürlich über unsere Internetpräsenz und die sozialen Medien neue Mitglieder. Das funktioniert. 2016 fanden sehr viele Eintritte online statt.
Wie viele Frauen sind in den Betriebsräten der Post vertreten?
Bei der Deutschen Post AG liegt der Frauenanteil bei 47 Prozent.
Trotzdem geben nach wie vor die Männer den Takt vor, oder?
Nein, wir diskutieren bei der Post gar nicht den Unterschied zwischen Mann und Frau. Da wir Tarifverträge haben, sprechen wir nur von Beschäftigten. Und da gibt es überhaupt keine unterschiedlichen Regulierungen bezüglich der Arbeitszeiten oder Entgelte.
Bei Verdi übererfüllt der Vorstand die Quote: Acht der 14 Mitglieder sind Frauen.
Ja, Verdi ist die größte Frauenorganisation weltweit! Auch bei den Mitgliedern liegt der Frauenanteil bei 52 Prozent. Wir organisieren viele Dienstleistungsbereiche, in denen Frauen arbeiten. Forderungen nach Gleichberechtigung sind für uns deshalb zentral. Bei der Verdi-Jugend fordern wir schon lange: gleichwertige Arbeit, gleicher Lohn. Das sollte über Tarifverträge geregelt werden. Der Arbeitgeber sollte nicht sagen können: Nur weil jemand männlich geboren wurde, bekommt er mehr Gehalt als jemand mit weiblichem Geschlecht. Doch das reicht nicht, denn zu den schlechten Vergütungsbedingungen kommen weitere Ungerechtigkeiten, wie die Teilzeitfalle, in der viele Frauen sich befinden.
Ein neuer Gesetzesentwurf soll Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen herstellen. Dieser sieht vor, einen individuellen Auskunftsanspruch für Arbeitnehmer in einem Betrieb ab 200 Angestellten einzuführen. Kommt jetzt dadurch endlich die Lohngerechtigkeit?
Ich glaube, dadurch wurde eine gute Basis geschaffen, um weiter daran zu arbeiten, dass Transparenz hergestellt wird. Jedoch erschließt sich mir der Parameter „200 Beschäftigte“ nicht. Wenn die Lohnunterschiede so groß sind, dann macht es für mich keinen Unterschied, wie viele Angestellte in einem Betrieb arbeiten. Es ist ein klassischer Kompromiss, den die SPD da eingegangen ist. Es gibt jetzt ein Gesetz, und das müssen wir weiterentwickeln.
Wie hoch liegt denn der Anteil der AfD-Wählerinnen und -Wähler bei Verdi?
Dazu liegen uns keine Zahlen vor. Aber ich habe Angst, dass die Rechtspopulisten bei der Wahl viel Zulauf bekommen. Bei der letzten Europawahl kam heraus, dass jeder fünfte Gewerkschaftler unter 28 Jahren Rechtspopulisten gewählt hat. Ganz viele Menschen, die den sozialen Abstieg erleben mussten oder erlebt haben aufgrund von Gesetzgebungen wie der Agenda 2010, sehen jetzt etwas in der AfD, was diese eigentlich überhaupt nicht bietet. Wenn Frauke Petry sich hinstellt und sagt, wir müssen das Renteneintrittsalter weiter erhöhen und das Rentenniveau weiter senken, dann verstehe ich nicht, warum lohnabhängige Beschäftigte Zuflucht bei der AfD suchen und sich da vertreten fühlen.
Also: Was tun Sie dagegen?
Wir haben bei Verdi eine Trainingsreihe ins Leben gerufen, die heißt „Fakten statt Populismus“. In Berufsschulklassen und Ausbildungszentren versuchen wir zum Beispiel über Erlebnispädagogik zu vermitteln, was es heißt, eine Geflüchtete oder ein Geflüchteter zu sein. Wir konfrontieren die jungen Menschen mit Zahlen und Fakten. Doch das Problem ist, dass man Menschen nicht nur mit Fakten erreicht, sie werden auch von ihren Gefühlen geleitet.
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