Zeitgeschichte In sowjetischer Gefangenschaft wird der Offizier Heinrich Gerlach zum Hitler-Gegner. Er erlebt, wie deutsche Kommunisten und Generäle eine Allianz der Vernunft gründen
Im Juli 1944 – die Front rückt Deutschland immer näher – erscheint in der Wochenzeitung Freies Deutschland ein Beitrag von Heinrich Gerlach. Der Autor ist als Oberleutnant mit der 6. Armee nach der Schlacht von Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geraten. Er ist vom ersten bis zum letzten Tag im Kessel und muss erleben, wie 300.000 Soldaten und Offiziere wider besseren Wissens in aussichtsloser Lage zum Ausharren gezwungen sind. Nur 90.000 schaffen es in die Gefangenschaft, zu Tode erschöpft und oft schwer verletzt.
Stalingrad und die Monate danach in verschiedenen Gefangenenlagern machen Gerlach zum Hitler-Gegner. Er gehört schließlich zu jenen, die am 12./13. September 1943 in Lunjowo bei Moskau den Bund Deutscher Offiziere (BDO) gründen. Der
) gründen. Der schließt sich noch während der Konstituierung mit dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ zusammen, das zwei Monate zuvor entstanden ist. Nunmehr arbeiten hohe deutsche Offiziere und Exilkommunisten zusammen. Auf der einen Seite Generäle wie Walther von Seydlitz – er wird zum Präsidenten des BDO gewählt –, Dr. Otto Korfes oder Martin Lattmann, auf der andern Kommunisten, darunter prominente KPD-Politiker wie Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Edwin Hoernle, der Journalist Rudolf Herrnstadt oder Schriftsteller wie Johannes R. Becher, Erich Weinert, Friedrich Wolf, Willi Bredel, Theodor Plivier.Die Autorin Irina Liebmann, Tochter von Herrnstadt und 1943 in Moskau geboren, vermutet Jahrzehnte später in einem eindringlichen Buch, was ihr Vater empfunden haben könnte. „Sieht man die Fotos aus dieser Zeit, wie sie da stehen, die deutschen Offiziere in Schaftstiefeln und mit allen Rangabzeichen – wären sie Herrnstadt auf der anderen Seite der Front begegnet, er wusste, wie diese Begegnung ausgesehen hätte.“ Doch nach Stalingrad sind sich beide Gruppen in einem einig: Es muss einen Waffenstillstand geben, Hitler gestürzt und der Krieg beendet werden. Gemeinsam geben sie die Zeitung Freies Deutschland heraus, in deren Redaktion Heinrich Gerlach arbeitet und für die er zahlreiche Beiträge verfasst. Sein Artikel vom 17. Juli 1944 trägt die Überschrift Eine Stadt von vielen: Lyck."Dem Wahnsinnigen den Gehorsam verweigern"Zu diesem Zeitpunkt ist Lyck in Ostpreußen, das etwa 150 Kilometer von Gerlachs Geburtsstadt Königsberg entfernt liegt, vom Krieg noch unversehrt – „Heimatstädtchen, du liebe, liebe kleine Stadt!“, beginnt der Text. „Was wird geschehen?“ Die Antwort fällt geradezu gespenstisch aus: „Heute läßt Hitler die Sturmglocken läuten über Lyck! Evakuierung! Antreten auf dem Marktplatz, Frauen, Kinder und Greise mit leichtem Gepäck, Handkarren sind erlaubt.“ Gerlach sieht Zerstörung und Totalvernichtung voraus. Um das Schreckliche zu verhindern, ruft er geradezu beschwörend die Landsleute auf, sich nicht in das Schicksal zu ergeben und aufzustehen gegen den Diktator. „Jetzt, jetzt endlich müßt ihr dem Wahnsinnigen den Gehorsam verweigern. Jetzt müßt ihr dem Zerstörer Deutschlands in den Arm fallen!“ Nur bleiben die Botschaft wie andere Appelle von BDO und Nationalkomitee an der Ostfront weitgehend ungehört. Und das, obwohl die Lage für die deutschen Truppen stets prekärer wird. Ende Januar 1944 sind im Kessel von Tscherkassy erneut fünf Divisionen mit mehr als 50.000 Soldaten und Offizieren von der Roten Armee eingeschlossen. Die BDO-Führung mit den Generälen von Seydlitz und Korfes versucht mit Lautsprecheransagen, persönlichen Briefen und jeder Menge Flugblättern die Eingekesselten zur Übergabe zu bewegen. Doch zu groß ist die Angst deutscher Soldaten vor der Gefangenschaft.Dann allerdings, drei Tage nach Gerlachs Beitrag, scheint es Hoffnung zu geben: Am 20. Juli 1944 stürzt Erich Weinert, Präsident des Nationalkomitees, begeistert in das Haus Lunjowo: „Freunde! Revolution in Deutschland! Attentat auf Hitler! Das Volk steht auf! Unsere Stunde ist da!“ Bald wird klar, dass sich nicht das Volk erhoben hat, sondern hohe Offiziere der Wehrmachtsführung. Die Stimmung im Gefangenenlager ist euphorisch. „Man lachte und weinte und fiel sich in die Arme, und fast war es so, als ob man den Sieg der eigenen Sache beging“, erinnert Heinrich Gerlach die Situation der kriegsgefangenen Offiziere in seiner Odyssee in Rot, jenem Dokumentarroman, der als beste Darstellung dieses Teils deutscher Geschichte gelten kann. Es geht um Stalingrad, den Gang in die Gefangenschaft, den Widerstand gegen Hitler und die nach Kriegsende folgenden Jahre in verschiedenen Lagern bis zur Rückkehr nach Deutschland. Gerlach beschreibt die „wachsende Verzweiflung“ in Lunjowo, als klar wird, was auf den 20. Juli 1944 folgt: „Standgerichte, Volksgerichte – Erschossen, erschossen ... Namen sickerten durch: Olbricht, Stauffenberg, Beck, Witzleben.“ Den kriegsgefangenen Offizieren wird klar, nun wird eintreten, was sie mit dem BDO verhindern wollten: die bedingungslose Kapitulation! „Wohl dem, der jetzt Kommunist war!“, bringt Gerlachs Erzähler in seinem Roman die vorherrschende Sicht auf den Punkt.Daran ändert sich auch nichts, als zwei Tage nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, am 22. Juli 1944, 17 in Gefangenschaft sitzende Generäle der zerschlagenen Heeresgruppe Mitte einen Aufruf unterzeichnen, in dem sie die deutschen Truppen auffordern, den aussichtslosen Kampf einzustellen und Hitler zu stürzen. Auf den ehemaligen Oberbefehlshaber der 6. Armee, Feldmarschall Paulus, macht dieses Manifest einen solchen Eindruck, dass er sich entschließt, mit Hitler zu brechen und am 8. August 1944 mit einem Teil seiner Offiziere dem BDO beizutreten. „Ihre Einsicht kam zu spät. Sie selbst kamen zu spät. Um ein Jahr zu spät. Jetzt gab es nichts mehr zu ändern oder zu retten, das Schicksal nahm seinen Lauf“, schreibt Heinrich Gerlach.Während die BDO-Leute der ersten Stunde Distanz zu Paulus halten – einige lehnen den „Laumann“ und „Verräter von Stalingrad“ strikt ab –, empfängt Wilhelm Pieck als Vorsitzender der Exil-KPD Paulus überschwänglich. „Unser Freund, der Herr Paulus“, begrüßt er ihn auf der Feier zum Geburtstag des Präsidenten des BDO, Walther von Seydlitz, am 22. August 1944. Pieck meint es ehrlich, es gibt Gespräche zwischen Generälen und Kommunisten. „Im Garten promenierte in Rot und Gold die neugewonnene Generalität“, heißt es bei Gerlach. Und es gibt Fotos, die jene Gemeinsamkeit festhalten: die Generäle Seydlitz, Lattmann und Paulus im angeregten Gespräch mit Pieck und Weinert. Es ist wie ein letztes Aufscheinen von Hoffnung, aber die Wirklichkeit sieht längst anders aus. Die Rote Armee und die Alliierten stoßen immer schneller an die Grenzen des Deutschen Reiches vor. Dennoch vergehen noch acht Monate bis zur bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945, acht Monate, in denen Zehntausende Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten ihr Leben lassen.Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere werden am 2. November 1945 auf Befehl Stalins aufgelöst, die KP-Führung ist schon vorher nach Deutschland zurückgekehrt, ein Teil mit der sogenannten „Gruppe Ulbricht“. Die kriegsgefangenen Offiziere folgen Jahre später. Wer sich für die DDR entscheidet, kann früher zurückkehren. Heinrich Gerlach, der im dritten Teil seiner Odyssee in Rot den Weg durch die Gefangenen- und Arbeitslager beschreibt – ein einzigartiges Dokument –, wird im April 1950 aus der Gefangenenschaft entlassen und geht in die Bundesrepublik, muss schnell erkennen, dass dort eine Mitgliedschaft im BDO als Verrat gilt. Erst Jahrzehnte später mehren sich Stimmen, denen an einer vorurteilsfreieren Sicht auf den Bund Deutscher Offiziere und das Nationalkomitee gelegen ist. Doch bleibt es bis heute eine Aufgabe, sich diesem Kapitel deutscher Geschichte zu stellen und aus der damaligen Zeit heraus das Handeln jener Männer zu würdigen, die Stalingrad begreifen ließ, dass sich Deutschland von Hitler und seinem System befreien muss.Placeholder authorbio-1
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