Wer sich Anfang der neunziger Jahre aufmachte und Normalleser nach Uwe Johnson fragte, musste sich in Ost wie West mit einem Schulterzucken abfinden. Und das trotz der anerkannten Bedeutung seines Werkes. Dies wird - so ist zu hoffen - nach der Verfilmung von Johnsons vierbändigem Hauptwerk Jahrestage unter der Regie Margarete von Trottas bei einem größeren Teil anders sein! Die ARD zumindest hat die vier Teile auf die beste Sendezeit gelegt, die inzwischen vielzitierte »Prime-time«. Nun also kann man an vier TV-Abenden über jeweils 90 Minuten Johnsons Figuren Gesine Cresspahl und Tochter Marie bei ihrem Krebsgang in die deutsche Geschichte folgen: In einem spannungsvollen Wechsel der Zeiten und Orte wird ein Netz geknüpft, das die New Yorker Gegenwartsebene des Jahres 1967/68 mit der Mecklenburger Vergangenheitsebene verbindet, also die Jahre ab 1931, das Dritte Reich, die frühe DDR. Der Tempo- und Rhythmuswechsel, der allein durch die Verbindung von Region (die Kleinstadt Jerichow in Mecklenburg) und Metropole (New York) vorgegeben ist, war von den Filmemachern ebenso zu bewältigen, wie es darum ging, Johnsons spröden Figuren ein Film-Leben zu geben, sie also handeln zu lassen, zu vitalisieren. Dabei wird die Spezifik nicht nur erhalten, ja, sie erhält durchweg eine geradezu kongeniale filmische beziehungsweise schauspielerische Entsprechung.
Ein Riesenvorhaben war die seit Beginn der neunziger Jahre durch den WDR-Produzenten Martin Wiebel in Gang gebrachte Verfilmung von Jahrestage auch, weil der Geist Johnsons das Filmteam unter Druck setzte, man wollte seinem Anspruch gerecht werden.
Erfolg oder Misserfolg der Verfilmung werden eine Art Nagelprobe sein, ob denn in der Tat - wie so oft behauptet - Stoffe von historischen wie politischem Format im Deutschen Fernsehen eine Chance haben. Nimmt man die vier Teile und die Reaktionen auf die durch die Mecklenburgische Literaturgesellschaft organisierte Voraufführung im vorpommerschen Anklam, jener Stadt, in der Johnson die ersten zehn Jahre seiner Kindheit verbrachte, dann steht das Ergebnis fest: Beifall und Standing-ovations für die Filmemacher! »Das hat Johnson auf 2000 Seiten nicht geschafft«, betonte einer der mehr als 150 Zuschauer, die über drei Abende gekommen waren, und bekannte, er sei »mehr als einmal zu Tränen gerührt« gewesen. Der Eindruck mag auch deshalb stimmen, weil Johnson in seinem »Riesentext« mit Sprüngen und Schnitten arbeitet, eine Vielfalt von Stimmen versammelt, die mit und gegeneinander wirken, dokumentarisches Material einbaut - etwa über Seiten aus der New York Times zitiert und auf diese Weise Wirklichkeitspartikel gegen die epische, die erfundene Welt, setzt. Zudem kann man beim Lesen innehalten und aussteigen, wenn einem die Lesestrapazen zu viel werden oder die Betroffenheit zunimmt, so etwa im dritten und vierten Teil der Jahrestage, die eine einzigartige literarische Archäologie der frühen DDR liefern. Wie Archäologen haben sich auch die Drehbuchautoren Christoph Busch und Peter Steinbach verhalten, sie standen vor der Aufgabe, aus den monumentalen Jahrestagen, diesem Jahrhundertbuch mit seiner enormen Textmasse, die Kernstücke herauszudestilieren, sorgsam Schichten frei zu legen, ja gewissermaßen den Johnsonschen Mikro- und Makrokosmos zu dekonstruieren. Es ging darum zu entscheiden, welche Teile von Johnsons Text zu erzählen sind und was man weglassen kann, ohne Johnson Gewalt anzutun. Das erforderte akribische Arbeit und höchste Sensibilität. Und noch etwas anderes kam hinzu: Weil Johnson in den Jahrestagen auch Figuren aufgreift, die in früheren Texten bereits eine Rolle spielten, bot es sich an, ja, bestand die Notwendigkeit, die Mutmassungen über Jakob wie die Ingrid Babendererde, jenes postum erschienene Erstlingswerk einzubeziehen. Und so kommt es dann, dass Maries toter Vater Jakob, den Gesine nicht vergessen kann und der in ihren Gedanken anwesend ist, als fiktiver Gesprächspartner, als eine Art materialisierter Geist auftaucht. Daran ist nichts überzogen, weil Gesine das durchaus menschliche Verlangen hat, einen Dialog mit den Toten zu führen. Auch hier ist sie ihrem Schöpfer Johnson verwandt, der bohrend die Frage stellte, was von einem Menschen im Gedächtnis seine Umgebung bleibt und für den die Erinnerung eine fundamentale Kategorie war.
Jutta Wachowiak, brillante Darstellerin der Mutter Abs, brachte in Anklam ihre Erfahrungen von den Dreharbeiten auf den Punkt. »Es waren sehr viel junge Kollegen beim Drehen dabei, die die Zeit, um die es in den Jahrestagen geht, gar nicht kennen können. Doch ihre Neugier wurde mit jedem Drehtag größer, sie haben Antworten auf ihre Fragen gesucht.« Freilich gibt Johnson - und auch hier trifft die Verfilmung - keine Antworten, »einfache Wahrheiten« wollte und konnte er nicht liefern. Johnson ging es um den »unterschiedlichen Blick«, er wollte seine Romane verstanden wissen als eine »Version von Wirklichkeit«. Daraus erklärte sich seine zurückhaltende Einladung an die Leser, die im Roman angebotene »Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener, die sie unterhalten und pflegen«.
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