Mina Wolf reißt die Fenster auf, um nach den langen, kalten Tagen das in ihrer Straße leicht gedämpfte Dauerrauschen der Stadt zu genießen. Plötzlich aber unterbricht ein Gesang die urbane Stille. Auf einem Balkon steht eine „derbe Person von schwer schätzbarem Alter“ und trällert eine Melodie aus dem Weißen Rössl, wobei die Operette nur schwer zu erkennen ist, so schief trägt die Ruhestörerin ihren Gesang vor.
Ein mulmiges Gefühl
Mina ist Journalistin und hat den Auftrag erhalten, einen Aufsatz über den Dreißigjährigen Krieg zu schreiben, nämlich für die Festschrift einer Kleinstadt, die sich etwas Erbauliches wünscht. In Minas Gedanken vermischen sich nun die Berichte von vergangenen Bluträuschen mit dem überdrehten Gekreische der Balkonsängerin. Bald beschweren sich auch andere Leute in der Nachbarschaft, aber angestachelt vom Protest der genervten Anwohner dreht die Frau so richtig auf und wird zur Symbolfigur für eine Gesellschaft, in der noch viel mehr schiefzulaufen scheint.
Die 1941 in Berlin geborene Schriftstellerin Monika Maron hat in ihrem neuen Roman Munin oder Chaos im Kopf eine brisante und zugleich komische Ausgangslage gewählt. Die Flüchtlingsbewegungen, religiös motivierte Gewalt, der scheinbare Zerfall tradierter Ordnungssysteme treiben nicht nur Mina um. Diese Entwicklungen haben, so die Analyse der Aufsatzschreiberin, damals wie heute zu einer hochexplosiven Stimmungslage geführt. Nachrichten vom islamistischen Terror verstärken das mulmige Gefühl, in einer „Vorkriegszeit“ zu leben, und wie schon vor anderen Kriegen scheint die quälende Ungewissheit, ob Unheil bevorsteht, beim Menschen die wildesten Wünsche auszulösen. Selbst Minas gutmütige Freundin Rosa hat „Sehnsucht nach Chaos“. Im Kopf der Ich-Erzählerin herrscht ohnehin ein oft hassverfülltes Durcheinander, das sich nicht nur in Tiraden gegen politisch korrekte Sprache entlädt.
Munin nennt Mina die zutrauliche Nebelkrähe, mit der sie Zwiegespräche führt; und das ist natürlich kein Zufall, denn so heißt in der nordischen Mythologie auch einer der beiden Raben des Kriegsgottes Odin. Der Name leitet sich vom altnordischen Verb muna ab, das mit „sich erinnern“ oder „denken an“ zu übersetzen wäre. Monika Maron kalkuliert nicht nur die auffällige Alliteration, sie verwebt in ihrer Gedankenprosa sehr bewusst eigene literarische Wegmarken mit politischen Erfahrungen und in Zeitungen schon vertretenen, wenn man es mal neutral formulieren möchte, „provokanten“ Positionen. Der Roman ist formal und inhaltlich eine – dem Stoff durchaus angemessene – Mixtur aus Recherche und Reportage, aus Meinungspamphlet und Satire, aus durchaus poetischen Passagen und Abschnitten mit politisch-philosophischen Erörterungen. Tatsächlich „chaotisch“ ist in diesem Roman, der das gedankliche Chaos im Hinblick auf das gesellschaftliche erforscht, dann doch nur wenig, und so darf angenommen werden, dass es nicht nur an Marons Lust auf Provokation liegt, die Themen in dem Text so zu bespielen, wie sie es die Rechtspopulisten von Pegida und AfD nicht geschickter hätten tun können.
Da darf ein Taxifahrer Deutschlandflaggen aus seinem Fenster hängen, und die braven Bürger, die im Gruppengespräch Maßnahmen gegen die störende Sängerin planen, werden vollends von den Unbilden der ungemütlichen Zeit erschreckt, weil in der Nachbarschaft eine Frau „fast vergewaltigt worden“ ist, von zwei Männern, „von der Frau als südländischer Typ beschrieben“. Die Erzählerin wird von einer besorgten Nachbarin gefragt: „Was soll das bloß noch werden?“ Mina denkt an die „Millionen von jungen Männern, die man zuvor ins Land gelassen hatte“, und antwortet: „Ich weiß es nicht, aber nichts Gutes.“ Man kann diesen ideologisch ausgerichteten Dialog durchaus als literarisch verbrämtes Ressentiment der Verfasserin abtun, es gibt aber noch eine zweite Lesart, die man der Autorin gerade im Hinblick auf ihre eigene Biografie zubilligen sollte. In ihrem Debüt Flugasche prangerte Monika Maron die Umweltsünden in der DDR an, kämpfte gegen Zensur und Stasi-Überwachung. Seitdem pflegt sie eine leidenschaftliche Abneigung gegenüber den Feinden der westlich-abendländisch definierten Freiheit, und zwar mit deutlichen Worten, die schon mal in polternde Islamkritik umschlagen können. Ihr „Munin“ kann demnach auch als Bestandsaufnahme einer ernsthaft verängstigten Demokratin gelesen werden, die wissen möchte, wer den Nährboden für die schleichende Rechtsradikalisierung der Gesellschaft bereitet und ob nicht die inhaltslose Toleranz unseres postreligiösen Wertesystems mitverantwortlich ist für diese Krise. Wenn man insbesondere die Gespräche der Heldin mit dem Raben genau liest – der natürlich in Wahrheit nicht sprechen kann, sondern ein Teil ihres gequälten Geistes ist –, dann kämpft hier eine Frau um die Hoffnung, dass der Irrsinn von weiteren (Religions-)kriegen und eine neuerliche Repression durch autoritäre Denkmuster verhindert werden können.
Empörungsprosa
Insofern wäre es auch fatal, eine Autorin wie Monika Maron leichtfertig in die politische Schmuddelecke zu stellen, wie dies schon getan wurde. Tatsächlich ist diese Schriftstellerin eine Seismografin gesellschaftlicher Stimmungslagen. Das war zu ihren DDR-Zeiten nicht anders als heute; Monika Marons Klagen und Anklagen störten die Obrigkeiten des Arbeiter-und-Baunern-Staates, genauso wie sie heute eine Zumutung für uns linksliberale Wohlfühlbürger sind.
Leider büßt Marons Literatur immer dann an Qualität ein, wenn die politische Empörung sich in ihrer Prosa allzu breitmacht. Dann wird die Bildsprache eindimensional und die komische Fallhöhe reduziert sich. Mit dem nicht ausbuchstabierten Leben und dem skurril-theatralischen Tod der irren Balkonsängerin hingegen zeigt die unter anderem mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin auch in ihrem jüngsten Roman ihr eigentliches Können.
Info
Munin oder Chaos im Kopf Monika Maron S. Fischer Verlag, 222 S., 20 €
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