Digitale Demenz?

Technologie "Digitale Demenz" - Ein Buch, das unter Jugendlichen nicht sonderlich beliebt ist. Doch ist es wirklich so schlimm wie sein Ruf?

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Kaum ein Buch war 2012 kontroverser als Prof. Manfred Spitzers Werk „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“1. Insbesondere die jüngere Generation, die allbekannten „Digital Natives“, sind schnell dabei, es als unrealistisch und fortschrittsfeindlich abzutun. In diesem Geiste erwähnte auch ich es vor ein paar Monaten in einem Essay, der kürzlich auf CATO publiziert wurde2. In der Zwischenzeit wurde ich jedoch von einem Bekannten dazu angeregt, das Buch auch selbst einmal zu lesen (bis dahin hatte ich lediglich eine Rezension gelesen3). Nun muss ich sagen: Spitzer hat mich beeindruckt. Ganz überzeugt hat er mich aber noch nicht.
Meine eingängliche Skepsis richtete sich vornehmlich auf die Wissenschaftlichkeit des Buches. Erwartet hatte ich eine Abhandlung, die mehr mit Verschwörungstheorien und Alt-Weiber-Märchen zu tun hat als mit aktueller Forschung. Gründlicher hätte ich mich nicht irren können. Der Autor wartet mit einer 20-seitigen kleingedruckten Literaturliste auf, die fast gänzlich aus renommierten Fachjournalen entnommen ist. Auch interpretiert er diese Studien richtig, soweit ich das als Laie einschätzen kann. An seinem Fachwissen ist nicht zu zweifeln, schließlich hat er nicht umsonst zwei Doktorgrade erlangt, außerdem war er zwei mal Gastprofessor in Harvard. Trotzdem sind die vielen informativen Passagen zur Funktionsweise des Gehirns sind sehr gut und anschaulich geschrieben.
Doch obwohl er auf viele tatsächliche Probleme hinweist, die unbedingt anzupacken sind, finde ich manche seiner Schlussfolgerungen zweifelhaft. Um dies zu erläutern, möchte ich einen kurzen Überblick über seine Thesen geben. Diese lassen sich grob in drei Bereiche gliedern: Bildung, Jugend und Kindheit.
Seiner Meinung nach haben Computer und verwandte Technologien in der Schule nichts zu suchen. Das begründet er damit, dass sie zu einer zu oberflächlichen Verarbeitung des Lernstoffs führen, wodurch dieser sich nicht richtig im Gedächtnis verankern kann. Er bringt das Beispiel einer Deutschstunde zu Wortstämmen in einer medial gut ausgestatteten Grundschule. Anstatt des traditionellen Abschreibens des Wortstamms und der dazugehörigen Vor- und Nachsilben („glück“ + „lich“ => „glücklich“, etc.), mussten die Kinder hier die verschiedenen Wortteile lediglich auf einem Smartboard zusammenziehen. Obwohl die Schüler sich sicher gefreut haben, weniger schreiben zu müssen, zeigen die zuvor vom Autor erwähnten Studien, dass solch oberflächliches Lernen sehr viel ineffektiver ist als das „altertümliche“ Abschreiben, bei dem man sich intensiver mit der Materie befassen muss. So weit so gut. Wenn solcher Gebrauch der neuen Technologien kontraproduktiv ist, dann sollte man die Schulen darüber informieren und ihn künftig unterlassen. Doch mit dieser Begründung jeglichen Gebrauch von Computermedien in der Bildung zu verbieten, missachtet all ihre anderen Anwendungsbereiche. So können Animationen und Lernspiele durchaus sehr positive Effekte auf das schulische Lernen haben, wenn sie richtig eingesetzt werden4. Natürlich darf man nicht alles gut nennen, nur weil Computer im Spiel sind. Doch wenn computergestützte Lernmethoden auf den Erkenntnissen der Forschung beruhen, steht ihrer Anwendung im Schulalltag meines Erachtens nach nichts im Wege. Auch sein Argument, dass Lehrer nicht gut genug mit den regelmäßig auftretenden technischen Störungen klarkommen und der Unterricht darunter leidet, ist mehr ein Argument für eine bessere Schulung unserer Lehrkräfte als für ein Abschaffen der Medien.
Auch mit dem Internet hat Prof. Spitzer Probleme, was Bildung angeht. Er zeigt auf, dass wir uns auf Grund der Allpräsenz von Google, Wikipedia & Co. immer weniger Fakten selber merken. (Aus dem gleichen Grund können wir kaum noch Telefonnummern auswendig können, weil wir sie alle im Handy abgespeichert haben; genauso wie unser Orientierungssinn durch die konstante Nutzung von Navigationssystemen immer schlechter wird.) Diese Beobachtung mag zwar durchaus valide sein, ein großes Problem sehe ich darin jedoch nicht. Wie eine andere Rezensentin schrieb: „Das ist – 40 Jahre danach – im Wesentlichen dasselbe Argument wie, dass die Kinder nicht mehr kopfrechnen können, weil sie alle den Taschenrechner benutzen. Aber es wäre absurd, deswegen ein überaus nützliches Werkzeug zu verbieten.“3 Das Riesenpotenzial, das das Internet für Plagiate bietet, worauf er hinweist, möchte ich nicht kleinreden. Aber was war die letzte große technische Errungenschaft, die nicht auch zum Schlechten verwendet werden konnte? Schade finde ich, dass er die zahlreichen guten Bildungsangebote völlig ignoriert, die im Internet zu finden sind. Die Massive Open Online Courses wie Udacity oder Coursera, die ich im letzten Artikel erwähnte2, sind hier nur ein Beispiel unter vielen.
Was die Jugend betrifft, kritisiert er am meisten deren Nutzung von – wie kann es anders sein – digitalen sozialen Netzwerken. Wer nur noch Onlinefreunde hat, würde keine vernünftige Sozialkompetenz erlernen und das soziales Zentrum im Gehirn würde verkümmern. Diese Argumentationsfolge kann er sogar recht gut anhand diverser Studien belegen. Seine zu Grunde liegende Behauptung jedoch, dass heutige Jugendliche viel mehr Onlinekontakte haben als „echte“ Freunde, stützt er auf eine Umfrage unter den jungen Leserinnen eines US-amerikanischen Mädchenmagazins. Inwieweit diese als repräsentativ für alle Jugendlichen in der gesamten westlichen Welt gelten kann, sei dahingestellt. Diese Frage ist wichtig, denn selbst Spitzer muss zugeben, dass soziale Netzwerke ihren negativen Effekt verlieren, wenn man sie nur benutzt, um mit echten Bekannten in Kontakt zu bleiben. Dennoch ist seine Warnung gerechtfertigt, hier bedarf es einer guten Medienerziehung, um Teenager frühzeitig auch vor der Problematik sozialer Netzwerke zu warnen. Schwach ist in diesem Kapitel der Abschnitt über Cybermobbing. Natürlich ist es ein großes, sehr bedauernswertes, Problem, aber dass es Mobbing auch schon vor dem Internet gegeben hat, wird völlig ausgeklammert. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Multitasking – und zeigt, dass häufiges Multitasking verschiedene geistige, aufmerksamkeits-relevante Fähigkeiten vermindert. Kritisieren kann ich hier inhaltlich nichts, es verbleibt bei dem individuellen Internetnutzer, seine Gewohnheiten ggf. anzupassen. Interessant finde ich jedoch die Spekulation der oben genannten Rezensentin, unsere Gehirne könnten sich in den nächsten Jahren an die neuen Erfordernisse des Internetzeitalters anpassen, und so diesen negativen Effekt ausgleichen3. Letztlich geht Spitzer noch auf die Gefahren exzessiver Mediennutzung ein, die von chronischem Schlafentzug und Depression bis zur Sucht reichen. Auch die Abstumpfung gegenüber Gewalt als Folge von Ego-Shootern o.ä. Videospielen wird angesprochen. Obwohl die meisten meiner Leser bei diesen Themen sicherlich kritisch sein werden, ist mir kein Sachverhalt bekannt, der Spitzers Argumentation und seine angeführten Belege hier schwächen könnte.
Der Rest des Buches thematisiert hauptsächlich die Auswirkung von Mediennutzung im frühen Kindesalter. Die Forschung scheint eindeutig zu bestätigen, dass zu früher Medienkonsum die kognitive Entwicklung des Kindes hemmt. Selbst sog. „Baby-Einstein“ DVDs, die angeblich eben jene fördern sollen, erfüllen ihr Versprechen nicht. Darum ist es höchst beunruhigend, dass anscheinend viele Eltern den Fernseher schon für ihre 18-monatigen Kleinkinder als „Ersatzerzieher“ benutzen. Auch später hängt der Besitz eines eigenen Computers fast immer mit schlechteren Schulleistungen zusammen, da dieser hauptsächlich zum Spielen verwendet wird, wodurch für Schularbeiten weniger Zeit zur Verfügung steht. Hier sind Eltern gefragt, die Mediennutzung des eigenen Kindes zu seinem eigenen Wohl einzuschränken und zu kontrollieren.
Natürlich konnte ich in diesem Artikel längst nicht alle Argumente aufgreifen, die Spitzer bringt. Ich wollte jedoch einen hoffentlich ausgewogenen Überblick über ein Buch geben, das viel zu häufig einseitig beurteilt wird. Obwohl die darin benutzte Sprache manchmal bedauernswerter Weise etwas unsachlich ist, beinhaltet es viele gute Beobachtungen. „Digitale Demenz“ ist kein Buch, das wir uns als Gesellschaft leisten können, zu ignorieren – weder als Jugendliche, noch als Eltern und Erzieher, noch als Politiker. Nichtsdestotrotz ist es stets mit Vorsicht zu genießen.

Ursprünglich erschienen auf CATO.

Quellen

1. Spitzer M (2012) „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“, Droemer Verlag, München

2. Vedder D (2013) „Unsere Jugend – Ausgeburt der Cyberhölle?“ CATO

3. Fischer J (2013) „Denkst du noch, oder klickst du schon?“ Spektrum der Wissenschaft Juli 2013, S. 100

4. Mayer RE, Moreno R (2002) „Animation as an Aid to Multimedia Learning“ Education Psychology Review 14(1):87-99

Autor: Daniel Vedder
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

CATO

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