Theorie des versöhnenden Staates

Staatstheorie Eine Gesellschaft - insbesondere der Staat als Zentralorgan - die den Widerstreit zwischen den beiden menschlichen Naturen, dem Egoismus und den Altruismus beenden soll.

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Dieser Text erschien ursprünglich auf CATO.


Setzt man sich mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auseinander, so kommt man immer letztendlich zu der Frage, was welche Rechte hat. Ab welchem Punkt ist das eine dem anderen besserzustellen, ab wann ist eines zu schützen, das andere hingegen in seiner Macht zu begrenzen? Der Mensch neigt immer dazu, sich nicht festlegen zu können. Deshalb versucht er stets, ein eigenständiges Individuum im homogenen Kollektiv zu sein, das Unvereinbare in sich zu versöhnen. Doch woher kommt diese Neigung?

In diesem Text werde ich erst die Herkunft der beiden Naturen mit Hilfe der Evolutionstheorie erklären, dann die Umsetzung der Naturen durch Kultur in gesellschaftliche Systeme aufzeigen und zuletzt einen Vorschlag zur Lösung des Konflikts der Naturen unterbreiten und diesen kritisch betrachten.
Für den ersten Schritt ist es wichtig, jegliche störenden menschgemachten kulturellen Faktoren zu eliminieren. Dazu betrachtet man am besten die Zeit, bevor es überhaupt Kulturen gab. Wir wählen die Schwelle vor der Herausbildung von Kleingruppen (dies war wohl während einer vormenschlichen Entwicklungsstufe, zumindest im Stammbaum des Menschen an einem äußerst frühen Punkt), d. h. der Übergang von einzelgängerischen Individuen zu sozialen Gruppen. Letztere hatten einen enormen kompetitiven Vorteil, die Überlebenschancen waren in ihr deutlich höher, weshalb sie sich letztendlich durchgesetzt hat. Dies ist auch offensichtlich, denn Gruppenmitglieder können sich helfen und beschützen, außerdem ist Aufgabenteilung möglich.
Um jedoch solch eine Gruppe bilden zu können, sind einige Eigenschaften nötig. Man muss sozial handeln können, Empathie aufweisen, sich unterordnen und vor allem altruistisch sein. Nur wenn jemand etwas für den Rest der Gruppe gibt, lohnt es sich für die anderen, ihn zu schützen. Altruismus findet sich deshalb bei den meisten sozialen Lebewesen.
An dieser Stelle sei jedoch aus Gründen der begrifflichen Klarheit kurz angemerkt, dass es keinen echten Altruismus (nach Definition Uneigennützigkeit) gibt. Oftmals ermöglicht er den Zugang zu Gruppen, Fortpflanzungsmöglichkeiten oder das Überleben einer Gruppe und führt dadurch zu Vorteilen des Individuums (und ist damit nicht uneigennützig). In den meisten Fällen ist ihm das jedoch nicht bewusst, weshalb das Geben oft deutlich mehr Überwindung kostet als das Nehmen. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Altruismus und Egoismus nicht durch die Wirkung möglich, sondern nur durch die Einstellung: Altruist ist der, der zum Nutzen anderer handeln will, selbst wenn er daraus ebenfalls Nutzen zieht.
Zurück zum eigentlichen Thema: Der sich nun im Individuum entwickelnde Altruismus steht in Konkurrenz zu den Artefakten früherer Zeiten: dem Egoismus. Nur egoistische Einzeltiere, die auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, hatten in der vorsozialen Zeit die Chance zu überleben. Altruismus ist hier sinnlos, man erhält dadurch keine Vorteile und stirbt aus. Einzige Ausnahme ist hier die Brutpflege, in der sich altruistisches Handeln in reinster Form zeigt.
Warum gibt es dann den Egoismus auch noch bei sozialen Lebewesen, wo doch hier scheinbar nur Altruismus gefragt ist? Auch in der späteren Gruppe ist Egoismus – nicht zu offensichtlich natürlich – von Vorteil, um in eine bessere soziale Stellung zu kommen. Nur wer beispielsweise während der Rangordnungskämpfe egoistisch handelt, kann gewinnen und sich fortpflanzen. Aus diesem Grund blieben uns beide Naturen erhalten und stehen seitdem im größten Widerstreit.
Ich kenne persönlich keinen Menschen, der nur eine der beiden Naturen hervorgebracht oder beide für immer versöhnt hat. Oft sind sie der Grund für langsame und schmerzhafte Entscheidungsprozesse. Wer fragt sich nicht oft, ob er in einer gegebenen Situation zu seinem oder zum Vorteil eines anderen Menschen handeln sollte?
Beziehen wir nun wieder die oben ausgeschlossene Kultur mit ein, um aus den Erkenntnissen Rückschlüsse für unser heutiges Leben zu ziehen. Die Kultur wird von der Gesellschaft und nicht vom Individuum hervorgebracht. Die Gesellschaft muss um ihrer Existenz willen den Altruismus bevorzugen (würde sie dies nicht tun, wäre man eher egoistisch und die Gesellschaft würde dadurch vernichtet werden). Dazu nutzt sie die Moral. Jeder Kulturkreis hat eine Moralmaxime, die beinahe immer den Altruismus bevorzugt (auch wenn sie das nur indirekt tut; siehe Kategorischer Imperativ, „Goldenen Regel“ und Co.). Da hier jedoch die egoistische Natur des Menschen diskriminiert wird, haben solche Moralmaximen im echten Leben selten Erfolg. Um zu bestehen, müssten sie den ganzen Menschen erfassen.
Mit dem Scheitern der Moralmaximen war die Diskriminierung einer der beiden Naturen jedoch nicht am Ende. Aufbauend von jeweils einer Natur wurden soziale und geistige Strukturen geschaffen. Hiervon gibt es drei Arten: Staatsformen (Demokratie, Monarchie, Parteiendiktatur und Co.) , Ideologien (Faschismus, Kommunismus und Co.) und Wirtschaftssysteme (Marktwirtschaft und Zentralwirtschaft).
Dies bedeutet, dass Egoismus und Altruismus in den Bereichen der Gesellschaft zu Strukturen geführt haben, die unser tägliches Leben im Sinne einer der Naturen prägen. Oft treten diese drei Bereiche in Verbindungen auf, von denen zwei die jüngere Geschichte als Antipoden geprägt hatten. Da hätten wir den rein egoistischen Kapitalismus (in Verbindung mit der Demokratie und der Marktwirtschaft) amerikanischer Prägung und den altruistischen Kommunismus marxistisch – leninistischer Prägung.
Das bereits Stattgefundene (siehe 1990) oder mittelfristig zu erwartenden Scheitern (siehe 2009) stellt eine Folge der einseitigen Bevorzugung von Naturen dar. Eine Gesellschaft, in der die Individuen einander nicht helfen, bricht genauso zusammen wie eine Gesellschaft ohne Individuen.
An den beiden obigen Beispielen sehen wir bereits, dass unter Gesellschaft im modernen Sinne der Staat zu sehen ist, und dass auch er sich oftmals für eine von beiden Naturen entscheiden muss, um nicht überfordert zu werden oder in Widersprüche zu geraten. Gleichzeitig müssen jedoch auch beide Prinzipien ausgelebt werden, um Individuen und Gesellschaft zu stabilisieren. Wie soll man dies erreichen?
Die Lösung ist genauso simpel wie schwer zu verwirklichen: der (die menschlichen Naturen) versöhnende Staat. Er übernimmt eine der beiden Naturen vollständig, sodass das Individuum nur die andere ausleben muss, und somit von jeglichem inneren Konflikt befreit ist. Natürlich ist letzteres, wie die Erfahrung zeigt, nur ansatzweise, nicht vollständig möglich, jedoch reicht ein bereits hoher Grand an innerer Versöhnung mittels Bevorzugung einer Natur vollständig aus. Da der Egoismus schwerlich jemanden abgenommen werden kann (dies sagt ja schon der Name), wird der Altruismus zur Kernaufgabe des Staates. Er sorgt für den sozialen Ausgleich und hilft selbstlos, während die einzelnen Bürger stets um ihr eigenes Wohl besorgt sind. Dies ist nicht mit dem Kommunismus zu verwechseln, in dem der Egoismus auch dem Individuum strengstens untersagt war.
Durch die Vereinigung und Versöhnung beider Naturen würde ein jahrtausendealter innerer Konflikt des Menschen überwunden werden. Ein großer Schritt für die Menschheit, mit unabschätzbaren positiven Folgen. Doch ist dies realisierbar oder gar wünschenswert?
Auch wenn es meine eigene Theorie ist, muss ich sie kritisch hinterfragen. Wünschenswert könnte sie deshalb nicht sein, weil egoistische Individuen ein außerwirtschaftliches soziales Leben (wir nennen es auch soziale Kontakte) sehr erschweren. Der Staat kann nicht überall Altruismus einbringen, schon gar nicht im zwischenmenschlichen Bereich. Ich bezweifle, dass Menschen ohne Probleme beim Wechsel zwischen gesellschaftlichen Bereichen wieder zwischen den Naturen wechseln können. Daneben zweifle ich an, dass eine aus absolut egoistischen Individuen bestehende Gesellschaft einen altruistischen Staat und seine Eingriffe in ihre Freiheit akzeptieren würden.
Es ist offensichtlich, dass der versöhnende Staat nur ein unerreichbares Modell ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er zumindest ansatzweise realisiert werden kann.
Es gibt sogar einen Beweis – die Bundesrepublik Deutschland. Die hier vorherrschende Soziale Marktwirschaft vereint beide Naturen. Die Individuen können (wirtschaftlich) egoistisch handeln, beim Scheitern hierbei werden sie vom Staat gesichert und sind nicht auf den Altruismus ihrer Mitmenschen angewiesen. Dies ist auch ein Grund für den massiven Erfolg dieses Wirtschaftssystems.
Natürlich sind wir noch weit vom versöhnenden Staat entfernt – es fehlen noch die Elemente der Staatsform und der Ideologie, wobei vor allem ersteres noch weiterer Bestimmung bedarf (auch wenn die Demokratie einen bereits zufriedenstellenden Ausgleich der Naturen verschafft). Dennoch ist dieser Schritt der versöhnenden Wirtschaftsordnung wohl der Größte und Wichtigste, denn die Wirtschaft mit ihren zugehörigen Bereichen des Bildungs- und Sozialsicherungssystems sind die Hauptschauplätze der Auseinandersetzung zwischen den beiden Naturen. Durch das Ende dieses Widerstreits können soziale Konflikte im großen Umfang vermieden werden. Der noch umkämpfte zwischenmenschliche Bereich ist wohl nur schwer durch den Staat zu erreichen; hier müsste eine neue Ideologie Einzug halten, um zur Versöhnung zu führen. Die entsprechende Staatsform ergäbe sich dann zuletzt, die Demokratie wäre hier wohl der Ansatzpunkt der Entwicklung, denn nur sie gibt dem Einzelnen und dem Kollektiv in gleichem Maße Macht durch die Entscheidungsfreiheit des Individuums und der Dominanz der Mehrheit.

Im Moment zählt jedoch, dass beide Naturen akzeptiert werden. Der größte Schaden entsteht, wenn Individuen kulturell bedingt eine von beiden Naturen unterdrücken, sich für sie schämen und verstecken. Dies führt zu enormen persönlichen Verwerfungen. Nur wenn man auch innerlich einen Ausgleich zwischen beiden herstellen kann, wird man zu einer intakten Persönlichkeit.

Autor: Niklas Götz

Dieser Text wurde zur Verfügung gestellt von CATO.

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