Andi muss weinen

Heimat Es gab den Meistertaumel. Dann ging es langsam bergab. Vom 1. FC Kaiserslautern kommt unser Autor trotzdem nicht los
Ausgabe 33/2020
Andi muss weinen

Fotos: Imago Images

Als Andreas Brehme weinte, starb der Fußball. Zumindest in der Pfalz. Und das musste schon was heißen, damals. Ich war erst zehn Jahre alt an diesem 18. Mai 1996, aber ich fühlte mich wie ein Vater, der um seinen Sohn trauert. Zum ersten Mal in seiner Geschichte musste der 1. FC Kaiserslautern in die zweite Liga. „Wenn der FCK absteigt, dann stirbt die Region.“ Keinen Satz hatten sie öfter beschworen rund um den Betzenberg, in dieser „strukturschwachen“ Gegend. Darum dieses Jammertal: Stefan Kuntz, Kapitän des Meisterteams von 1991, brach zusammen, ebenso wie der herzensgute Klubpräsident Norbert Thines, der staubtrockene Ministerpräsident Kurt Beck – und Brehme, der große Andi Brehme, Weltmeister mit Deutschland und mein Vorbild, der vor laufender Kamera im Arm seines Gegenspielers und Freundes Rudi Völler hemmungslos heulte.

Beinahe ein Vierteljahrhundert ist das her, und doch steht mir alles wieder vor Augen, als ich im Sommer 2020 unterhalb des Fritz-Walter-Stadions in Kaiserslautern am Elf-Freunde-Kreisel ankomme. Auf einer Rasenfläche residieren dort rot bemalte Statuen, die symbolisch für die Tradition der „Roten Teufel“ stehen. Eine Tradition, deren Glanz zu verblassen droht, weil sportlich fatale Entscheidungen fielen und Funktionäre den Klub in die Insolvenz trieben. Ende Juli musste der Verein sich zwischen zwei Investoren-Angeboten entscheiden, um den Spielbetrieb aufrechterhalten zu können. Eines davon war hoch dotiert und kam aus Dubai – wer genau dahintersteckte, blieb im Dunkeln. Das andere kam von regionalen Investoren – die den Zuschlag erhielten, trotz offener Fragen. In Fan-Foren im Internet waren erboste Stimmen zu lesen, weil man lieber auf „alte Zöpfe“ setze, anstatt die „große Lösung“ zu suchen.

So verzweifelt sind viele Anhänger also schon, dass sie einen zwielichtigen Unternehmer als Messias anbeten? Das ist nicht mehr mein FCK. Und doch: Während ich mich auf der Verkehrsinsel neben einem überdimensionierten Ball niederlasse und zu den Spielerfiguren aufblicke wie zu gefallenen Göttern, verwandelt sich meine sachliche Romanze mit diesem Fußballverein wieder in große Liebe. Mir kommen die Tränen. Wie albern, denkt mein vor Jahren nach Berlin gezogenes Engelchen-Ich, wenn mich hier jemand so sieht! Mein Pfälzer Teufelchen-Ich hält dagegen: Jeder Lauterer, der mich Tranfunzel vor mich hin schluchzen sieht, wird wissend nicken und im Stillen mitweinen!

Nick Hornby vertritt in seinem 1992 erschienenen Buch Fever Pitch die These, als Fan könne man sich seinen Lieblingsklub nicht aussuchen, er werde einem vielmehr gegeben. Daran musste ich bei meinem bislang letzten Besuch im Fritz-Walter-Stadion im Sommer 2019 denken, als der Lauterer Angreifer Christian Kühlwetter im Drittligaspiel gegen Eintracht Braunschweig (Endstand: 0:3) das Kunststück fertigbrachte, freistehend vor dem leeren Tor den Ball neben das Ziel zu stochern. Welcher Fußballgott mir den FCK auch immer zugeteilt haben mag, ich begriff mal wieder, dass diese Leidenschaft viel Leid schafft.

Rehhagel klaut mir Pommes

Nun gut, denke ich, wenn sich hier am Elf-Freunde-Kreisel ein solcher Erinnerungssturm zusammenbraut, sollte ich verduften. Also steuere ich, vorbei am verrammelten Kiosk namens „Betzebud“, hinunter in Richtung Innenstadt. In der Richard-Wagner-Straße muss ich mir schon wieder die Augen trockenreiben. Genau hier, an der Ecke zur Pirmasenser Straße, saß ich im Sommer 1998 mit meiner Tante. Auf dem Kopf trug ich eine Baseballmütze mit FCK-Emblem. Gerade wollte ich mir eine Pommes in den Mund schieben, da nahm sich ein kichernder Mann in Anzug und Krawatte ungefragt etwas von meinem Teller.

Mein Mund blieb noch lange offen stehen, denn der ältere Herr, der da an einer geklauten Pommes herumkaute und sich nuschelnd bedankte, war niemand anders als Otto Rehhagel – der Trainer des FCK, der mit der Mannschaft und ihrem Kapitän Andi Brehme 1997 wiederauferstanden war. Ein Jahr später war Kaiserslautern sogar Deutscher Meister geworden, als Aufsteiger, unglaublich und selbst in Zeiten schwerreicher Retortenklubs wie RB Leipzig und TSG Hoffenheim bis heute einmalig.

Leider reichte bei uns zu Hause das Geld nie für eine Dauerkarte, und an Tagestickets war damals nicht zu kommen. In den letzten Minuten vieler Heimspiele der Saison 1997/98 aber öffneten die Ordner die Stadiontore, und man konnte sich in die Kurve quetschen. Da stand ich dann, mit meinem Bruder und ein paar Freunden, die meisterlichen Bierfontänen spritzten uns entgegen, und wir waren die glücklichsten Jungs auf der ganzen Welt.

Wir Provinzler hatten es den auf uns herabblickenden Gockeln von München bis Hamburg gezeigt. So war die Stimmung. Wie 1973, als der FC Bayern mit Beckenbauer, Müller, Maier und Hoeneß nach 57 Minuten 4:1 führte und in der Hölle Betzenberg dann doch noch mit 4:7 baden ging.

Wie 1982, als Real Madrid im UEFA-Cup in Kaiserslautern respektlos auftrat und von den Pfälzern um Hans-Peter Briegel und Andi Brehme eine 0:5-Packung kassierte. Mit diesem Stolz des ewig Zu-kurz-Gekommenen stand auch Rehhagel im Mai 1998 im Aktuellen Sportstudio des ZDF und sagte dem aus München zugeschalteten Bayern-Boss Beckenbauer: „Lieber Franz, der zweite Platz, das ist doch auch was!“

Dieses Schwärmen vom Aufgehen in der Masse, das an Kitsch grenzende Schwelgen in Nebensächlichkeiten – es mag manchen irritieren. Menschen, die in einer Fernsehquizshow zugeben würden, dass sie sich vor Fußballfragen am meisten fürchten, halten mich womöglich für einen, der sich gern links gibt, in Wahrheit aber einem präfaschistischen Kult anhängt. Ihnen kann ich nur zurufen: Versetzt euch in die Lage eines Menschen aus Kaiserslautern! Oder versucht es zumindest. Wie mit einem Schleppnetz fingen wir im Meistertaumel 1998 das Glück ein. Wir bewahren es seitdem in unseren Herzen auf, weil wir es brauchen.

Ein Schrei bis ins Weltall

Denn die Vereinsspitze hatte damals große Pläne. Fortan sollte der FCK dauerhaft mit den Bayern mithalten. Abenteuerliche Spielertransfers folgten, von Frankreichs Weltmeister Youri Djorkaeff bis zum Abwehr-Star Taribo West, deren Gehaltszahlungen teilweise unversteuert ins Ausland geflossen sein sollen. Und die Landesregierung machte Kaiserslautern auf Biegen und Brechen zum Austragungsort der WM 2006. Es war die Zeit des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, des „Genossen der Bosse“. Er trieb die Ellbogengesellschaft voran, in der Individualismus und Wettbewerb auf allen Ebenen dominieren und in der die Armen den Reichen und die Kleinen den Großen nacheifern sollen.

Als ich die Fußgängerzone durchquert und den Stiftsplatz erreicht habe, denke ich an das „Sommermärchen“ 2006. Noch heute träumen die Menschen in Kaiserslautern von den Fans aus Australien, Italien oder Paraguay, weil sie die Stadt mit Lebenslust verzauberten. Der zuvor erforderliche Stadionausbau geriet aber zum Fiasko. An den finanziellen Folgen leiden Stadt und Verein noch heute. Sie haben den Niedergang des FCK eingeleitet. 2006, kurz vor der WM, stieg der Klub zum zweiten Mal in die zweite Liga ab. 2008 wäre es beinahe in die dritte Liga gegangen. Es kam zu einem Herzschlagfinale, das ich beim Public Viewing sah. Der FCK gewann 3:0 gegen Köln, wir feierten auf dem Stiftsplatz mit einem kollektiven Urschrei, von dem man in Lautern sagt, man habe ihn wohl bis ins Weltall gehört.

Zwischen 2010 und 2012 gab es in der Ära des Vorstandschefs Stefan Kuntz eine Nachblüte, bevor der Verein erneut in die zweite und 2018 sogar in die dritte Liga musste. Dort spielt der FCK seither bei Top-Spielen wie dem Derby gegen Waldhof Mannheim vor mehr als 40.000 Zuschauern im eigenen Stadion. Sportlich hingegen passt die Mannschaft leider allzu gut ins Unterhaus. Bayern Münchens langjähriger Präsident Uli Hoeneß formulierte es Anfang August in der FAZ so: „Wenn wir früher nach Kaiserslautern gefahren sind, hatten wir manchmal schon am Fuße des Betzenbergs einen Strich in der Hose. Heute fahren wir dort nur noch zum Benefizspiel hin, um den Klub zu retten.“

So sind die Erinnerungen für viele der seelische Anker in einer Stadt, die sich wie ihr Aushängeschild ökonomisch nur mit Mühe auf den Beinen halten kann. Pfaff, das weltberühmte Nähmaschinenwerk, ist längst dicht. Ein beliebtes Kaufhaus nach dem anderen musste schließen. Die Spaltung in wohlhabende Eigenheimbesitzer und Bewohner sogenannter sozialer Brennpunkte ist offensichtlich. Hier am Stiftsplatz fällt mir ein Mann mit FCK-Schriftzug auf dem Shirt auf, der auf einer Bank sitzt und die Bierflasche erhebt wie zum Prosit, und das auch noch – sicher nur zufällig – in Richtung des Fritz-Walter-Stadions.

Obwohl man die Arena von hier aus gar nicht sehen kann, verharrt mein Blick dort, wo sie über der Stadt thront. Wo ich 2002 ein Praktikum in der Presseabteilung absolvieren durfte. Mario Basler trug mir damals auf, ihm morgens eine Bild und mittwochs zusätzlich die Sport Bild mitzubringen. Ciriaco Sforza verlangte, ich solle ihm nachmittags einen frisch gebrühten Kaffee bringen. Miroslav Klose konnte mich gar nicht erst als Laufbursche nutzen, denn er weilte mit dem Nationalteam bei der WM in Asien.

Wer sich jedoch täglich angeregt mit mir unterhielt, war der damalige Trainer des FCK: Andi Brehme. Wenn ich an ihn denke, wie er in Zeiten der rot-grünen Abrissbirnenpolitik einfach nur mein Vorbild Andi Brehme geblieben ist, dieser bodenständige Typ, der im Profisport heute allerdings keine Rolle mehr spielt, dann ahne ich, warum mir der Fußball im Allgemeinen und der FCK im Besonderen abhandengekommen waren. Die Erinnerung an und die Hoffnung auf die Rückkehr von Menschen wie Andi Brehme sorgen am Ende aber doch immer wieder dafür, dass ich meinem „Betze“ treu bleiben muss. Notfalls ein Leben lang.

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