Besser arbeiten

Interview Philipp Staab will, dass die einfachen Dienstleistungsjobs wieder lebenswert werden
Ausgabe 13/2019

der Freitag: Herr Staab, warum haben wir uns im Zeitalter der Digitalisierung noch immer nicht von der Drecksarbeit befreit?

Philipp Staab: Zum Teil haben wir uns davon schon befreit. Seit Jahrzehnten vollzieht sich im Industriesektor ein Wandel, der harte körperliche Arbeit leichter macht. Darin liegt die positive Seite der Automatisierung. Mittlerweile verwenden einige Konzerne für ihre Mitarbeiter sogar Exoskelette. Das sind Roboteranzüge, die Arbeitende in der Produktion unterstützen, wenn es um Heben, Tragen, Bücken oder Wuchten geht.

Pizzalieferanten fahren den ganzen Tag mit dem Fahrrad und mit schweren Warmhalteboxen auf dem Rücken durch die Städte. Bei denen ist dieser Fortschritt offenbar noch nicht angekommen.

Weil sich dieser Bereich des Arbeitsmarktes anders entwickelt hat. Mit der Humanisierung der industriellen Arbeit sind bei den einfachen Dienstleitungen die simplen und anstrengenden Tätigkeiten zurückgekehrt. Es gibt in Deutschland etwa sieben Millionen sogenannter Einfacharbeitsplätze. Das sind Jobs, die nur wenige Tage Anlernzeit brauchen und für die keine berufliche Ausbildung verlangt wird. Im Agrarsektor gibt es davon heute etwa 400.000, in der Industrie rund 1,6 Millionen und in der Dienstleistungsbranche sind es gut 5 Millionen. Bei dieser Arbeit geht es dann auch gar nicht mehr nur um körperlich harte Verrichtungen, sondern ebenso um kognitiv-psychisch anspruchsvolle Tätigkeiten. Prototypisch dafür steht der Gesundheitssektor. Da muss man auch als sogenannter Geringqualifizierter geistig wach und immer ansprechbar sein, man muss sich kommunikationsfähig präsentieren und bei der Patientenpflege körperlich richtig ackern.

Wieso geht es in diesem Bereich nicht ebenso wie in der Industrie noch stärker darum, die harte Arbeit leichter zu machen?

Im Vergleich zur Industrie gibt es in der Dienstleistungsbranche eine gewisse Rationalisierungsresistenz. Einfache Dienstleistungsarbeit ist schwer zu automatisieren. Es wäre auch nicht in jedem Fall sinnvoll. In Seniorenheimen sollten die Menschen beispielsweise ja nicht nur von Maschinen betreut werden. Die Sozialstruktur einer nachindustriellen Arbeitsgesellschaft braucht diese Arbeitsplätze für formal weniger ausgebildete Menschen, die wegen der Automatisierung nicht mehr in der Industrie unterkommen können. Daraus ergibt sich ein relatives Überangebot an Arbeitskraft, was wiederum die Löhne drückt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert.

Wäre das nicht ein Ansatzpunkt für den guten alten Klassenkampf?

Die Ausbeutung in diesem Bereich ist stark ausgeprägt, und sie übersetzt sich mit Herrschaftsmechanismen und sozialer Kontrolle direkt in die Arbeitsverhältnisse. Um daraus aber Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen zu machen, dafür sind die Gewerkschaften derzeit zu schwach. Und selbst wenn das anders wäre: Die Beschäftigten der einfachen Dienstleistungsarbeit sind nicht so leicht zu organisieren. Das liegt auch an einer neuen Lebensweise der Beschäftigten, in der die Organisationskomponenten des Klassenkampfes kaum mehr eine Rolle spielen.

Wollen Sie damit etwa sagen, es gäbe keine Arbeiterklasse mehr?

Die gibt es noch, aber sie hat sich verändert. Ich nenne das eine Proletarität ohne Proletariat. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie die Beschäftigten der einfachen Dienstleistungsarbeit ihre Freizeit gestalten. Oder ihren Konsum: Der ist oft durchzogen von Strategien, die ökonomische Knappheit zu bewältigen. Es gibt Leute, deren wichtigstes Hobby darin besteht, die Postwurfsendungen der Discounter zu vergleichen. Dann dauert der Einkauf nicht eine halbe Stunde im Laden um die Ecke, sondern drei oder vier Stunden in fünf oder sechs verschiedenen Discountern, weil es hier die Butter und dort das Müsli billiger gibt.

Zur Person

Philipp Staab ist seit Kurzem ECDF-Professor für „Soziologie der Zukunft der Arbeit“ an der HU Berlin. Seine Dissertation zum Dienstleistungsproletariat erschien im Jahr 2014 unter dem Titel Macht und Herrschaft in der Servicewelt im Verlag Hamburger Edition (398 S., 32 €)

Welche Rolle spielen beim Boom der einfachen Dienstleistungen die Agenda 2010 und der damit verbundene Umbau des Sozialstaats?

Mit der Umsetzung der Reformen sind Arbeitskraftreserven an den Markt gekommen, die zuvor ungenutzt waren. Dadurch ist es zu einer Unterschichtung gekommen. Einfache Arbeiten sind im Vergleich zu anderen Bereichen der Dienstleistungsbranche in der Hierarchie nach unten gerutscht. Das Wachstum der einfachen Dienstleistungsarbeit hat aber schon lange vor der Agenda 2010 eingesetzt. Seit Jahrzehnten drängen in der Bundesrepublik auch die Frauen auf den Arbeitsmarkt. Das führt gerade im Bereich der einfachen Dienstleistungen zu einer erhöhten Arbeitsplatznachfrage, weil in den unteren Lohnsegmenten das zweite Haushaltseinkommen viel früher gebraucht wird als bei den Hochqualifizierten oder Facharbeitern. Ein anderer Faktor ist die Migration. Wegen des diskriminierenden Arbeitsmarktregimes finden viele Einwanderer ungeachtet ihrer Qualifikation erst einmal nur im einfachen Dienstleistungsbereich einen Job.

Das klingt nach dem Prinzip „Teile und herrsche“.

Ja, aber es gibt da auch die andere Seite der Medaille. Zum einen lassen sich die Arbeitsbedingungen, die niedrigen Löhne und die prekären Lebensmodelle zu Recht kritisieren. Zugleich ist die einfache Dienstleistungsarbeit aber auch ein Reservoir für die modernen Ökonomien der OECD-Welt, die sich als offene Gesellschaften zu erhalten versuchen. Wenn wir an der Erwerbsarbeitsgesellschaft festhalten wollen, dann brauchen wir Arbeitsplätze für diejenigen, die durch die Automatisierung der Industrie dort eben nicht mehr unterkommen können. Und wir brauchen Arbeitsplätze für die Newcomer, die in jeder offenen Gesellschaft auf den Arbeitsmarkt drängen.

Könnte eine schlecht entlohnte Reinigungskraft es nicht zynisch finden, wenn Sie ausgerechnet diesen Teil des Arbeitsmarktes als Integrationsmotor einer offenen Gesellschaft verklären?

Ich verkläre nichts, sondern sage nur: Es bringt nicht sehr viel, diesen Bereich grundlegend in Frage zu stellen. Stattdessen müsste es viel stärker um die Frage gehen: Wie machen wir den Bereich der einfachen Dienstleistungsarbeit zu einem lebenswerten Ort für die Beschäftigten?

Wie lautet Ihre Antwort?

Es scheint mir aktuell nicht die beste Lösung, hauptsächlich auf stärkere Gewerkschaften zu hoffen, die in harten Verhandlungen höhere Löhne erkämpfen.

Warum nicht?

Durch diese Art von Lohngewinnen entstehen wegen der angesprochenen Rationalisierungsresistenz der Branche neue Probleme. Denn die führt dazu, dass es im Bereich der einfachen Dienstleistungen keine starken Produktivitätsgewinne geben kann. Lohngewinne refinanziert ein Unternehmen in aller Regel aber durch Produktivitätsgewinne. Wir wissen, dass es sich bei den einfachen Dienstleistungsjobs um ein klassisches Ausbeutungsproblem handelt. Würden die Gewerkschaften also höhere Löhne erstreiten, dann müssten die Unternehmen auch die Preise erhöhen. Dann wiederum verschwände ein Teil dieser Dienstleistungen vom Markt, und man würde schlechte Arbeit gegen keine Arbeit tauschen. Das ist das ökonomische Einmaleins der einfachen Dienstleistungen.

Also muss es die Politik richten?

Ich kann mir die Zukunft dieses Sektors nur als eine vorstellen, die systematisch an politischen Löhnen hängt. Ganz besonders dort, wo Tätigkeiten mit der Daseinsvorsorge verknüpft sind, wie etwa im Gesundheitsbereich.

Das werden die Wirtschaftsliberalen doch niemals mitmachen. Für die sind Subventionen schon der reinste Sozialismus.

Dann haben diese Wirtschaftsliberalen aber seit vielen Jahren den Sozialismus selber mit umgesetzt. Der Begriff der Subvention ist ein politischer Kampfbegriff. Treffender wäre die Bezeichnung „investive Staatlichkeit“. Die hat in der Bundesrepublik eine lange Tradition, und sie hat immer wieder zu Phasen guter Konjunktur geführt. Das, was manche als Subventionen verteufeln, sind tatsächlich Investitionen in den sozialen Frieden. Während die Tarifautonomie in immer weniger Bereichen existiert, sind in Deutschland politische Löhne längst üblich. Die Pointe für den einfachen Dienstleistungssektor lautet, dass er nur über politische Preise humanisiert werden kann, nicht aber über Marktpreise.

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