Bildung macht nicht satt

#unten Anna Mayr wuchs als Kind erwerbsloser Eltern im Ruhrgebiet auf. Ihr Buch „Die Elenden“ zeugt von wundersamem Klassenstolz
Ausgabe 34/2020
„Sollen sie doch Bücher essen“, sagte schon Marie Antoinette
„Sollen sie doch Bücher essen“, sagte schon Marie Antoinette

Foto: David Malan/Getty Images

Was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden. Das ist ein Satz, der verdächtig nach Gemeinplatz klingt. Leider ist die Aussage alles andere als selbstverständlich, denn der zentrale Mythos der marktkonformen Demokratie ist auch ihr Erfolgsrezept. Erschreckend viele Leute glauben tatsächlich, die Ökonomie sei nicht dem Willen der Gesellschaft unterworfen, sondern den Naturgesetzen. Die Profiteure dieser Lüge haben wiederum naturgemäß kein Interesse daran, über sie zu sprechen.

Deshalb ist es nur konsequent, dass ein Leitmedium wie die Zeit in einem inzwischen berüchtigten „Pro und Contra“ aus dem Jahr 2018 unter der Überschrift „Oder soll man es lassen?“ die Rechtmäßigkeit privater Seenotrettung in Frage stellte und das für den Gipfel der Meinungsfreiheit hielt. Noch nie dagegen gab es dort eine länger währende Debatte darüber, ob Banken und Schlüsselindustrien sozialisiert, die Wirtschaft demokratisiert und Vermögen oder Erbschaften ab einer bestimmten Höhe komplett dem Gemeinwesen überreicht gehören. Denn das hieße, ernsthaft über den Kapitalismus hinauszudenken.

Armut ist politisch gewollt

Da fällt umso mehr ins Gewicht, wenn jetzt ausgerechnet eine Redakteurin der Zeit ein Buch vorlegt, das die Verachtung gegenüber Erwerbslosen anprangert. Anna Mayr, 1993 im Ruhrgebiet als Arbeiterkind geboren, hat den Titel einem Klassiker entliehen: Les Misérables, auf deutsch Die Elenden. Der Roman von Victor Hugo erschien im 19. Jahrhundert. Er ist ein Produkt der Romantik, in der es um Weltflucht ging, aber in ihrer politisierten Variante auch um Gesellschaftskritik aus Leidenschaft. Und leidenschaftlich, das ist auch Anna Mayr, die keine Memoiren geschrieben hat und kein erzählendes Sachbuch, sondern einen autobiografisch grundierten, klug argumentierenden und herrlich einseitigen Essay.

Kapitel für Kapitel arbeitet sie heraus, dass Armut und Elend nicht einfach so „passieren“, sondern politisch gewollt sind – und die Schuld an Erwerbslosigkeit in fast allen Fällen nicht bei den Armen selbst zu finden ist, weil diese Gesellschaft sie lieber verspottet, erniedrigt und entwürdigt, anstatt ihnen eine helfende Hand zu reichen. Mayrs Ton ist anklagend, selbstbewusst, raumnehmend, so wie man es in Deutschland von Autorinnen und Autoren mit nicht-akademischer und materiell benachteiligter Herkunft kaum kennt.

Diese Souveränität mag unter anderem darin gründen, dass Mayr Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München ist. Die Studie Die Journalistenschüler der Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchte 2008 die „soziale Herkunft der medialen Elite“. Der Beruf des Arbeiters kam bei den Befragungen kein einziges Mal vor. Generell gibt es im deutschen Journalismus nahezu keine Redakteurinnen und Redakteure ohne ökonomisch abgesichertes oder zumindest akademisch gebildetes Elternhaus, wie die Soziologin Klarissa Lueg 2012 in ihrer Dissertation Habitus, Herkunft und Positionierung nachgewiesen hat. Anna Mayr ist also eine Exotin, eine eigentlich Unerwünschte, ein Kollateralschaden des Systems.

Nun schreiben und arbeiten Menschen „von unten“ freilich nicht automatisch für Menschen „von unten“. Ein prominentes Beispiel ist Gerhard Schröder (SPD), der ebenfalls in Armut aufgewachsen ist. Er wird in die Geschichte eingehen als jener Bundeskanzler, der mit der Agenda 2010 das Leben der Schwächsten absichtsvoll noch weiter verschlechtert hat. Wie wichtig Stimmen aus dem diskursiv überwiegend stummgeschalteten Segment der Gesellschaft dennoch sein können, das zeigt Anna Mayr schon in ihrem Einleitungskapitel. Darin beschreibt sie lebensnah und einfühlsam, wie das neoliberale Sozialstaatsregime denjenigen die Würde nimmt, die ohne nennenswerte Rücklagen arbeitslos werden und nicht schnell genug wieder einen halbwegs erträglichen Job finden.

Kurz darauf verheddert sich Mayr in einem Dilemma. Und das sagt viel aus über die lebenslangen Kämpfe um Anerkennung, denen sich jene Menschen stellen müssen, die von einer „unteren“ sozialen Klasse „nach oben“ kommen. Vor Jahren veröffentlichte Anna Mayr einen Text mit dem Titel Mama wählt nicht, in dem sie ihre Eltern fern aller Klischees über Erwerbslose porträtiert. Ihr Beitrag fand viel positive Resonanz. Heute denkt die Autorin darüber aber so: „In Wirklichkeit habe ich meine Eltern und mich kleingemacht. Ich habe mich denen unterworfen, die einen Augenzeugenbericht benötigen, um wirklich glauben zu können, dass Menschen ohne Arbeit keine Idioten sind.“ Sie habe ein Vorurteil entkräften wollen und doch nur die Begüterten in ihrer Überlegenheit bestärkt.

Wandel statt Rührseligkeit

Darum formuliert sie in Die Elenden zu Beginn eine klare Ansage: „Ich will kein Gerührtsein an der Realität – ich will, dass wir die Realität ändern. Wer dieses Buch liest, um etwas über ein trauriges Einzelschicksal zu erfahren, über ein armes Kind, das sich hochgearbeitet hat, der wird enttäuscht werden.“ Um den Bessergestellten keinen paternalistischen Einfühlungstriumph zu schenken, möchte sie das eigene Los nicht weiter thematisieren – und tut wenige Seiten später dann doch genau das: „Ich war das Kind von zwei Langzeitarbeitslosen, nun bin ich eine erwachsene Journalistin, die für eine Zeitung schreibt, in der Hochschulen ihre Anzeigen schalten, wenn sie neue Professorinnen suchen.“

Bis zum Ende des Buches kehrt sie immer wieder zurück zu ihrem eigenen Leben – und das ist auch gut so, auch wenn die Autorin selbst sich anfangs wortreich dagegen wehrt. Die deutsche Gesellschaft ist atomisiert in Milieus, die einander im Alltag nicht mehr begegnen. Verständnis und Empathie für die marginalisierten Lebenswelten sind die Voraussetzungen dafür, dass sich auf demokratischem Weg etwas verändern lässt. Damit es Kindheiten wie die von Anna Mayr irgendwann nicht mehr gibt. Damit Armut endlich verschwindet. Damit die Mehrheit erkennt, wie falsch die Lüge des Kapitalismus ist.

Wer sein Bildungskapital im Elternhaus erwirbt, erklärte einmal der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der kann es in aller Muße differenzieren, unmerklich und spielerisch. Daraus erwächst eine Gelassenheit, die dem sozialen Aufsteiger fehlt. Es ist wie mit einer Fremdsprache: Wer sie als Kind lernt, „vergisst“ die Anstrengung ihres Erwerbs und spricht irgendwann wie ein Muttersprachler. Wer sich ihr erst als Erwachsener nähert, muss richtig pauken – und man wird ihm diesen harten Prozess des Lernens für immer anhören. So merkt auch der Bildungsbürger dem sozialen Aufsteiger an, dass er nicht immer schon dazugehört hat. Weil er meist verkrampfter ist, oft auch schüchterner, vor allem aber: stets unsicher im Umgang mit dem, was die Wohlhabenden als „legitimen Geschmack“ etabliert haben.

Im Assimilierungsblues

Trotz (oder gerade wegen?) des zornigen Sounds offenbart sich auch in diesem Buch in einigen Passagen eine solche Unsicherheit. Etwa, wenn Mayr den Fernfahrer-Armdrücker-Film Over the Top (1987) mit Sylvester Stallone nicht nur als Beispiel heranzieht, um eine ihrer Thesen zu illustrieren, sondern ihn auch als „recht mies“ bewerten zu müssen glaubt.

Oder an anderer Stelle, wo sie in die zynische Akademiker-Twitter-Sprache fällt und von einer Frau schreibt, der ein Mann einen Fötus „eingepflanzt hat“. Auch verwendet Mayr häufig den ideologischen, weil beschönigenden Begriff der Zeitarbeit, die doch so viel ehrlicher charakterisiert wäre als Leiharbeit, weil diese Bezeichnung jene Lohnsklaverei benennt, die sie für die Betroffenen faktisch bedeutet.

Solche Zugeständnisse an eine bildungsbürgerliche Zielgruppe ändern nichts an dem Gesamteindruck, dass hier eine Journalistin mit einem wundersamen Klassenstolz gegen den Hass auf „die da unten“ anschreibt. Es tut gut, wie sie den Klassismus des grün-alternativen Milieus herausarbeitet, von „Assimilierungsblues“ berichtet, sprachliche Diffamierungen wie „sozial schwach“ dekonstruiert und dabei Sätze liefert wie „Bildung kann man nicht essen“. Anna Mayrs Furor ist wichtig inmitten eines politischen und medialen Betriebs voll Gratismut, der Solidarität predigt und soziale Kälte lebt.

Info

Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht Anna Mayr Hanser Berlin 2020, 208 S., 20 €

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