„Da könnt’ ich kotzen“

Interview Jörg Sartor wünscht sich für den SPD-Parteivorsitz jemand anders als Esken und Walter-Borjans
Ausgabe 49/2019
Auf die Stilllegung folgte der Leerstand: Schrottimmobilie nahe der Zeche Consolidation in Gelsenkirchen-Bismarck
Auf die Stilllegung folgte der Leerstand: Schrottimmobilie nahe der Zeche Consolidation in Gelsenkirchen-Bismarck

Foto: Rupert Oberhauser/Imago Images

Seit 2006 leitet Jörg Sartor die Essener Tafel. 2018 geriet er in die Schlagzeilen, weil er wegen Überlastung entschieden hatte, kurzzeitig keine Ausländer mehr als Kunden aufzunehmen. Als Rassist und Nazi beschimpften ihn die einen, als realistischen Malocher lobten ihn die anderen. In seinem kürzlich erschienenen Buch Schicht im Schacht schlägt er einen weiten Bogen und kreidet den Niedergang des Ruhrgebiets der SPD an.

der Freitag: Herr Sartor, Sie stammen aus einer sozialdemokratischen Familie. Wer Ihr Buch liest, erkennt schnell, dass Sie im Herzen ein Sozi sind. Bei der Europawahl haben Sie aber zuletzt nicht mehr SPD gewählt, sondern CDU. Warum?

Jörg Sartor: Das lag an der Spitzenkandidatin Katarina Barley. Sie war eine unserer größten Kritikerinnen, als wir uns für einen vorübergehenden Ausländerstopp bei der Essener Tafel entscheiden mussten. Barley hat damals unqualifiziert auf uns eingedroschen, ohne sich zu informieren, was bei uns los war.

Barley sagte damals wörtlich: „Eine Gruppe pauschal auszuschließen, passt nicht zu den Grundwerten unserer solidarischen Gemeinschaft.“ Warum hat Sie das so geärgert?

Weil Frau Barley keine Ahnung hatte, warum wir das machen mussten, und uns stattdessen von ihrem hohen Ross belehren wollte, was Solidarität ist. Wir haben keine Gruppe pauschal ausgeschlossen, sondern für einen kurzen Zeitraum keine zusätzlichen Ausländer dazugenommen. Wir haben ja weiterhin 4.000 Menschen mit Migrationshintergrund versorgt. Und dann stand Frau Barley auf Platz eins der SPD-Liste zur Europawahl. Da konnte ich die nicht mehr wählen. Mir wären die Finger abgebrochen beim Ankreuzen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie das Ruhrgebiet zum neuen „Armenhaus der Republik verkommt“. Welche Fehler hat speziell die SPD gemacht?

Wer war denn jahrzehntelang an der Regierung in Nordrhein-Westfalen? Mehr muss ich doch eigentlich nicht sagen. 500.000 Kinder unter 15 Jahren leben in NRW in Armut, bei uns im Ruhrpott liegt die Rate armer Kinder bei 25 Prozent, in Gelsenkirchen sogar bei 43 Prozent! Die Sozialwissenschaftler sagen seit Jahren: Wer in eine Hartz-IV-Familie hineingeboren wird, kommt dort aus eigener Kraft nicht raus. Und dann stellt sich Thomas Kutschaty von der SPD vor ein paar Tagen in die Talkshow von Bettina Böttinger und schimpft beim Thema „Soziale Abstiegsangst“ auf die CDU. Eine Zuschauerin hat ihm dann gesagt: „Wer war denn fast immer Regierungspartei in den letzten Jahrzehnten? Und Sie selbst waren sieben Jahre lang Justizminister in NRW!“ Die SPD ist für den Schlamassel vor allem verantwortlich, und jetzt ziehen die nur über die CDU her. Da könnt’ ich kotzen.

Sie beklagen auch eine Entfremdung zwischen den Eliten in der Politik und den Malochern im Ruhrgebiet. Können Sie das an einem Beispiel klarmachen?

Da kann ich auf unsere Entscheidung bei der Essener Tafel zurückkommen. Wir haben ja im Prinzip eine Quotenregelung gemacht. In Essen mit seinen 583.000 Einwohnern gibt es 108.000 Menschen, die von Sozialleistungen leben. Und davon sind etwa 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Da haben wir nachgerechnet und gesagt: Warum liegt der Anteil dieser Menschen bei uns bei 80 Prozent? Also sind wir bei uns auf 40, 50 Prozent gegangen. Damit wir den anderen Menschen auch die Chance geben, hierherzukommen. Am liebsten würden wir alle versorgen, aber das geht eben nicht. Darum gab es bei uns eine Quotenregelung. Dafür hat Frau Barley uns beschimpft, also eine Politikerin, die diese Armut mitverursacht hat. Keine drei Monate später forderte die gleiche Dame eine Frauenquote im Bundestag. Wo ist da der Unterschied zu unserer Regelung?

Jetzt hat sich die SPD-Basis für zwei neue Parteivorsitzende entschieden: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Wie finden Sie die beiden?

Saskia Esken kannte ich bis vor kurzer Zeit gar nicht. Sie ist aber offenbar sehr links orientiert und steht Kevin Kühnert nahe, der total weltfremd ist. Walter-Borjans war lange Finanzminister in NRW. Ich fand gut, dass er damals die Steuer-CDs gekauft und uns Geld zurückgeholt hat, das uns die Reichen vorenthalten wollten. Dafür hat er damals ja gegen viel Widerstand arbeiten müssen. Aber: Er hat auch drei Mal einen Haushalt vorgelegt, der nicht gesetzeskonform war.

Zur Person

Jörg Sartor, Jahrgang 1956, war Bergmann, bis er mit 49 Jahren in Frührente gehen musste. Bekannt geworden ist er als Leiter der Essener Tafel. Sein Buch Schicht im Schacht (224 S., 9,99 €) ist im Heyne Verlag erschienen

Er steht gegen die „Schwarze Null“ und will investieren, um seine Politik zu finanzieren.

Das bringt ihm alles nichts, wenn er es nicht durchsetzen kann. Mich hat überrascht, dass die SPD ihn und Frau Esken gewählt hat. Scholz und Geywitz wären mir keinesfalls lieber gewesen, aber ich fand keine der Gruppen gut, die zur Wahl standen.

Sie fordern einen nach Bedarf verteilten Soli für ganz Deutschland. Wenn die sozial- und finanzpolitischen Vorschläge von Walter-Borjans und Esken durchgehen, dann ließe sich das sicher problemlos finanzieren.

Die wollen aber auch aus der Koalition mit der CDU raus. Meinen die beiden ernsthaft, wenn die SPD diese Bundesregierung verlässt, dann würden sie aus der Opposition heraus das Land verändern? Im Leben nicht! Ich kann viele Dinge fordern, die gut sind, aber dann darf ich nicht aus der Regierung raus. Mit wem wollen die denn regieren, wenn nicht mit der CDU?

Wahrscheinlich hoffen sie, dass die SPD wieder so starke Wahlergebnisse einfährt wie in den 90er Jahren und dann mit Grünen und Linken regieren kann.

Ja, ja, ich geb auch jede Woche meinen Lottoschein ab. Obwohl ich weiß, dass ich niemals gewinne. Das ist doch blauäugig.

In 17 der vergangenen 21 Jahre war die SPD in der Bundesregierung, und die Wahlergebnisse haben sich immer weiter verschlechtert. Warum sollte sich der Trend plötzlich umkehren?

Das stimmt, aber etwas anderes stimmt auch: Die einzige Partei, die im Sozialen was bewegt hat in der Großen Koalition, ist doch die SPD. Wäre die FDP mit der CDU dran, dann hätten wir viel mehr Sauereien als jetzt. Auch wenn vieles nicht so gekommen ist, wie es die SPD ursprünglich wollte, wäre vieles ohne sie gar nicht passiert: Mindestlohn, Baukindergeld, Grundrente. Und dass jemand, der 30 Jahre lang gearbeitet hat, nicht mehr genauso schnell in die Grundsicherung fällt wie jemand, der sein Leben lang auf dem Sofa gesessen hat.

Was muss geschehen, damit Sie wieder die SPD wählen?

Eine Überraschung jetzt beim Parteitag. Die Delegierten dürften nicht Walter-Borjans und Esken wählen, stattdessen müsste Franziska Giffey antreten. So eine Palastrevolte wie 1995, als Lafontaine im letzten Moment den Scharping gestürzt hatte. Giffey hat jahrelang an der Front gearbeitet, als Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Wenn die nicht weiß, was los ist, dann weiß ich nicht, wer in diesem Land weiß, was los ist. Kühnert hat nur mal versucht zu studieren. Der weiß nicht, was einem im Leben alles zustoßen kann. Hätte Giffey sich zur Wahl gestellt, dann hätte sie gewonnen. Es hätte nicht mal eine Stichwahl gegeben.

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