Armut macht krank. Die Selbstmordrate ist bei Erwerbslosen um den Faktor 20 höher als bei Erwerbstätigen. Reiche Frauen leben gut acht, reiche Männer sogar knapp zehn Jahre länger als ihre von Armut betroffenen Geschlechtsgenossen. Etwa 30 Prozent aller in Armut lebenden Männer werden nicht älter als 65 Jahre. Im 21. Jahrhundert, mitten in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde. Das ist kein Schicksal, sondern ein Skandal, denn es ist politisch erzeugt. In der Pandemie wird das so deutlich wie lange nicht mehr.
Dafür ist Jockel ein gutes Beispiel. Seit dem ersten Lockdown ist er tagsüber meist im Hof seines Wohnblocks anzutreffen. Gerade im Winter ist das kein Spaß, doch der Alleinstehende hält es nicht lange in seiner engen Bude aus. Er lebt seit 20 Jahren am Kalkofen, einem „sozialen Brennpunkt“ im rheinland-pfälzischen Kaiserslautern. In den meisten Wohnungen hier gibt es weder Dusche noch Badewanne, auch keinen Warmwasseranschluss und keine Zentralheizung. Die Fenster sind nur einfach verglast. Wer es sich leisten kann, setzt auf Elektroheizer – deren Betrieb sehr teuer ist.
Im Frühjahr, wenn die Stromrechnung fällig wird, können viele die Kosten nicht stemmen, und die Stadtwerke drehen ihnen den Saft ab. So erging es 2020 auch Jockel. Ein Dreivierteljahr später steht der Endsechziger noch immer den lieben langen Tag frierend im Freien. „Die Energiezufuhr bleibt abgestellt“, zitiert er mit Galgenhumor das Amtsdeutsch, während er sich Wärme in die Hände pustet. Die Kanzlerin und ihre Ministerpräsidenten mögen das große Wort der Solidarität gern im Mund führen, Menschen wie Jockel fallen bei ihnen noch immer durch jedes Netz.
Dabei hat Jockel es im Vergleich zu manch anderem noch relativ gut: Obdachlose müssen nicht nur dem Winter trotzen, sondern sich auch dauerhaft dem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen. Dabei wäre es ein Leichtes, sie alle in Einzelzimmern der pandemiebedingt leer stehenden Hotels unterzubringen, was bislang nur selten geschieht. Leicht wäre es auch, Strom- und Gassperren ebenso zu untersagen wie Zwangsräumungen bei Zahlungsverzug der Mieter.
Und es wäre leicht, die Regelsätze von Hartz IV und Altersgrundsicherung sofort auf mindestens 600 Euro pro Monat zu erhöhen sowie einen pauschalen Mehrbedarfszuschlag von monatlich 100 Euro auszuzahlen. So, wie es jetzt 36 Verbände und Gewerkschaften fordern. „Wir erwarten von dieser Bundesregierung, dass sie endlich auch etwas für die Armen tut, das wirklich Substanz hat“, sagte Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Diese Dringlichkeit im Ton ist nicht übertrieben, sondern wegen der Faktenlage absolut berechtigt.
Bislang hat die Bundesregierung nur einen „Bonus“ von 300 Euro pro Kind gezahlt, verteilt auf zwei Raten im September und Oktober – also mehr als ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie. Symbolpolitik statt nachhaltiger Hilfe. Bernd Siggelkow, der Gründer des Kinder- und Jugendhilfswerks „Arche“, sagte der Süddeutschen Zeitung, finanziell benachteiligte Kinder würden nun endgültig abgehängt: „Wir gehen davon aus, dass wir in ein, zwei Jahren erleben werden, wie Drittklässler weder richtig lesen können noch die Buchstaben oder die Zahlen richtig kennen.“
Schulschließungen, deren Auswirkungen vor allem in höheren Jahrgangsstufen durch eine Digitalisierung im Eiltempo abgefedert werden, benachteiligen Kinder aus finanzschwachen Haushalten. Dort fehlt es an der nötigen Hardware (Laptop, PC, Tablet, Drucker) für das Homeschooling. Die im Bildungssystem angelegte soziale Ungleichheit verschärft sich, weil Kinder aus armen Haushalten noch weiter ins Hintertreffen geraten. Wessen Eltern nicht studiert haben, der kann zu Hause beim Lernen ab einem gewissen Alter keine Hilfe mehr erhalten. In Familien mit Migrationsgeschichte kommt häufig schon deutlich früher eine Sprachbarriere hinzu.
Anstatt eine sozialpolitische Wende einzuleiten, verrechnet das SPD-Sozialministerium die zu Beginn des Jahres erfolgte Kindergelderhöhung um 15 Euro (die auch Eltern mit einem Millionenvermögen erhalten) mit dem Hartz-IV-Betrag, sodass von der Erhöhung des Regelsatzes für manche Bezugsgruppen seit Januar nichts übrig bleibt. Ja, Sozialdemokraten schreiten nicht einmal dann ein, wenn der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Weiß im Interview mit dem Deutschlandfunk bezweifelt, dass es bei ALG-II-Beziehern derzeit Mehrbedarfe gibt. Ebenso wenig, wenn dessen Fraktionskollege Marian Wendt via Twitter verlangt, den Regelsatz zu kürzen, weil derzeit kein Bedarf an Kultur bestehe.
Dabei können sich Hartz-IV-Empfänger schon jetzt meist nicht einmal die wichtigen FFP2-Masken leisten. Immerhin: In dieser Frage lenkt das Bundesarbeitsministerium ein. Dort wird endlich an einem Konzept für Maskengutscheine gearbeitet. Deutlich höhere Regelsätze, Zuschläge, Sachleistungen oder ein Strom- und Gassperrenverbot wird es dagegen nicht geben. Genau das aber bräuchten Menschen wie Jockel. Kürzlich hat ihn ein Team der ARD-Sendung Report Mainz besucht. Jockel übernachtet manchmal bei seinem Freund Joe, dessen „Energiezufuhr“ noch läuft. „Er kann sich gern neben mich ins Bett kuscheln“, sagt Joe, und beide lachen. In der Not rücken sie zusammen am Kalkofen. Das ist solidarisch, aktuell auch gefährlich – aber alternativlos, denn der Bundesregierung sind die Armen weiterhin völlig egal.
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