Warum sind es immer allein die Lohnabhängigen, die den Laden durch Verzicht am Laufen halten sollen? Schon klar, das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit ist stabil, da sollte sich niemand Illusionen machen darüber, wer in Krisenzeiten am längeren Hebel sitzt. Mit welcher Inbrunst aber derzeit einige Gewerkschaften sich die Köpfe der Konzernchefs zerbrechen, lässt tief blicken. In Zeiten zweistelliger Inflation, explodierender Miet- und Energiepreise und eines Wirtschaftskrieges als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine, erscheinen die Arbeitgeber als Opfer der Nation. Diese Abgabenlast! Diese Steuern!! Dieser Wettbewerbsdruck!!!
In Baden-Württemberg steigen die Löhne in der Metall- und Elektroindustrie 2023 um 5,2 Prozent, im Mai 2
, im Mai 2024 um weitere 3,3 Prozent. Außerdem soll es steuerfreie Einmalzahlungen geben. Der IG-Metall-Chef Jörg Hofmann bezeichnete diesen Tarifabschluss als „nachhaltige Entlastung in heraufordernden Zeiten“. Beim Energieriesen RWE steigen die Gehälter der 18.000 Mitarbeiter um sechs Prozent – zudem gibt es auch hier zwei Einmalzahlungen von je 1.500 Euro, verteilt auf zwei Jahre. Dagmar Paasch, Verhandlungsführerin der Gewerkschaft Verdi, sagte: „Angesichts der Energiekrise ist das ein gutes Ergebnis.“ Für die 40.000 Beschäftigten der Papierindustrie gibt es Einmalzahlungen sowie ab Januar 150 Euro brutto, 2024 noch mal 50 Euro mehr Lohn. Frieder Weißendorn, Verhandlungsführer der Gewerkschaft IG BCE, freute sich: „Wir haben in einer alles andere als normalen Zeit einen Abschluss erreicht, der sich sehen lassen kann.“Faktisch haben die Gewerkschaften einer Senkung der realen (also preisbereinigten) Löhne zugestimmt. Laut Statistischem Bundesamt sind die Verbraucherpreise in diesem Sommer um 8,4 Prozent gestiegen, die Reallöhne aber um 5,7 Prozent gesunken. Seit die Behörde diese Zahlen erfasst, war der Reallohnrückgang nie so hoch wie derzeit. In der Metallindustrie mögen noch relativ viele Menschen mit robusten Einkommen arbeiten. In der Papierindustrie sieht es aber schon anders aus. Ganz zu schweigen von der Dienstleistungsbranche. Hier ist der Anteil der wirtschaftlich Verwundbaren besonders hoch. Dass die im DGB zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften immer mehr Mitglieder verlieren (allein 2021 waren es 130.000), verwundert da nicht.In der NDR-Reportage Die Krise der Mittelschicht: viel Arbeit, wenig Geld werden mehrere Menschen vorgestellt, die in Vollzeit arbeiten, aber finanziell nicht über die Runden kommen. Zum Beispiel eine bei einem Privatunternehmen angestellte Briefträgerin, der monatlich 1.200 Euro netto bleiben, die sie mit einer Witwenrente aufstockt. Ihr einziger Luxus ist eine Tasse Cappuccino pro Woche im Café mit einer Freundin. Weil auch die Kosten für Miete, Nebenkosten, Mobilität stark gestiegen sind, isst die Frau mittags Haferflocken, weil „die aufquellen und satt machen.“Vermögen steuerfrei vererbt, DAX-Dividenden auf RekordhochSo geht es mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland. Ein Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde ist ein Fortschritt, der in Zeiten wie diesen jedoch verpufft. Die Bundesregierung weigert sich, die Erwerbsarmut zu bekämpfen. Die zu „Entlastungspaketen“ stilisierten Hilfen sollen darüber hinwegtäuschen. In der Krise sei für mehr „Wohltaten“ kein Geld da, heißt es dann. Dass vor allem darum „kein Geld“ da ist, weil die Politik es sich bei den Reichen nicht holen will, zeigt exemplarisch die aktuelle Debatte um eine Reform der Erbschaftssteuer. Das Bundesverfassungsgericht hat die Regierung dazu verdonnert, bei vererbten Immobilien mehr Steuern einzunehmen, indem sie marktgerechte Werte ansetzt. Wer etwa vor Jahrzehnten (nach heutigem Maßstab) spottbillig ein Haus in München gekauft hat und es nun vererbt, macht die Begünstigten zu Millionären. Steuerlich maßgeblich ist bislang aber der alte Preis.CDU/CSU, AfD und FDP verlangen nun, die ohnehin hohen Freibeträge (alle zehn Jahre dürfen sowohl die Eltern als auch die Großeltern einem Kind oder Enkelkind steuerfrei jeweils 800.000 Euro vermachen) zu erhöhen, weil es sich sonst um eine „Erbschaftssteuererhöhung durch die Hintertür“ handele. Sie treten mit einem moralischen Furor auf, als wolle der Fiskus alle kleinen Häuschen aller armen Omas dieser Republik stehlen. Dabei geht es um jene, die Reichtümer erben. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen 2009 und 2020 in Deutschland 409 Milliarden Euro an Firmenvermögen steuerfrei vererbt wurden. 409 Milliarden! Steuerfrei! Gerade meldete das Handelsblatt, dass die DAX-Konzerne 2023 mit 54 Milliarden Euro so viel Dividende an ihre Aktionäre ausschütten werden wie nie zuvor. Warum greift der Staat nicht ein, um diese Bereicherung weniger auf Kosten der Mehrheit zu stoppen?Im Jahr 2023 laufen für elf Millionen Beschäftigte die Vergütungstarifverträge aus. Es könnte das Jahr der Gewerkschaften werden. Dafür müssten sie aber nicht nur viel kämpferischer agieren im Sinne der tarifvertraglich Abgesicherten. Sie müssten ihre Forderungen auch endlich mit dem entschlossenen Kampf für mehr Verteilungsgerechtigkeit verbinden. Tun sie das nicht, wäre der weitere Mitgliederschwund ein verdienter Lohn.