der Freitag: Herr Vedder, eigentlich ist der Begriff des Pöbels eine abwertende Bezeichnung für das „gemeine Volk“. Sie aber sprechen in Ihrem neuen Buch schon im Titel vom „reichen Pöbel“. Wer ist das?
Björn Vedder: Diese Wendung habe ich von Hegel entlehnt. Er beschrieb damit Menschen, deren Reichtum es ihnen erlaubt, sich aus dem „Band der Not“ herauszulösen. Dieses verbindet die meisten Menschen miteinander, weil es sie zwingt, zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse auch die Bedürfnisse der anderen und der Allgemeinheit zu befriedigen. Da mit der Abhängigkeit von diesem „Band der Not“ eine gewisse Sittlichkeit einhergeht, entsteht aus der Freiheit davon eine gewisse Art der Unsittlichkeit. Die Reichen können es sich also leisten, unsittlich zu sein. Ihnen droht eine Wohlstandsverwahrlosung. Es sei denn, sie stemmen sich mit großer Anstrengung dagegen.
Bill Gates oder Mark Zuckerberg sind extrem reich, aber sie lassen einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens wohltätigen Zwecken zukommen. Da wackelt Ihre Definition doch?
Ich glaube nicht, dass Wohltätigkeit viel zum Guten ändern kann. Sehen Sie sich nur einmal den Internetauftritt der Charity-Kampagne „The Giving Pledge“ an. Das ist so eine Spendenkampagne von Superreichen, die verkünden: „In meinem Leben habe ich so viel erreicht, weil ich hart gearbeitet und mir vor allem Bildung angeeignet habe. Darum möchte ich Bildung fördern.“ Es gibt ein Programm der Vereinten Nationen, das dafür sorgen könnte, dass weltweit alle Kinder zur Schule gehen. Dafür müsste man jährlich zwar einige Milliarden Dollar ausgeben, aber für diese Superreichen wäre das nur ein Klacks, gemessen an den Summen, die sie bei „The Giving Pledge“ versprechen. Wenn es den Reichen also tatsächlich so wichtig wäre, Bildung zu fördern, frage ich mich: Warum ist das Programm der Vereinten Nationen dann noch nicht realisiert worden?
Zur Person
Björn Vedder, Jahrgang 1976, ist Philosoph. Er lebt in Herrsching am Ammersee. Sein aktuelles Buch Reicher Pöbel. Über die Monster des Kapitalismus ist 2018 im Büchner-Verlag erschienen
Pestalozzi sagt: „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“ Fußt der Kapitalismus nicht genau auf diesem Gedanken: Wer arm ist, hat nicht genug geleistet, und wenn ein Leistungsträger einem Armen ein paar Brosamen schenkt, dann darf er sich freuen und hat ansonsten das Maul zu halten?
Bei Wohltätigkeit geht es vor allem darum, sich als guten Menschen zu inszenieren. Und das ist keinesfalls etwas, das die Superreichen für sich gepachtet haben. Wer sich zur bildungsbürgerlichen Mitte zählt, trägt zumindest den Keim dieses Moralisierens in sich. Ich gehe zum Beispiel regelmäßig in den Biomarkt. Davon erzähle ich gern anderen, um zu zeigen, dass mir die Umwelt und das Wohl der Tiere wichtig sind. Als ich noch Student war, gab es einen Professor, der private Klavierkonzerte veranstaltet hat mit polnischen Pianisten. Die mussten dann für 200 Mark pro Abend bei ihm spielen, damit er zeigen konnte, wie wichtig ihm die Hochkultur ist.
Wenn die Mitte nun genauso ist wie die Geld-Elite: Worin liegt dann die spezifische Pöbelhaftigkeit der Reichen?
Es gibt eine soziologische Untersuchung, die ihre Befragten mit der Aussage konfrontiert hat: „Wenn ich an Bord der Titanic wäre, hätte ich ein Anrecht darauf, in einem der ersten Rettungsboote zu sitzen.“ Das Ergebnis war eindeutig: Je reicher ein Befragter ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass er mit „Ja“ antwortet. Es gibt also eine Korrelation zwischen der Höhe des ökonomischen Vermögens und dem Glauben daran, mehr wert zu sein als andere Menschen. Bret Easton Ellis hat das in seinem Roman American Psycho von 1991 schon gezeigt. Das, was dort der reiche Patrick Bateman zu seinem ersten Mordopfer sagt, einem Obdachlosen, ähnelt stark den Selbstrechtfertigungen der Reichen, die der Reporter Dennis Gastmann auf Sylt interviewt hat. Das Selbstbild der Reichen basiert auf einer Verachtung der Ärmeren als Minderleister.
Wird diese kapitalistische Legende über den Zusammenhang von Leistung und Vermögen von der Mitte nicht genauso vehement vertreten wie von den Schwerreichen?
Die Mitte vertritt diese Legende sogar noch viel stärker. Sie braucht sie, um sich selbst zu legitimieren und von unten genauso wie von oben abzugrenzen. Zu dieser Abgrenzung gehört die Rede von dem pöbelhaften einen Prozent der Superreichen und den übrigen, tüchtigen 99 Prozent. Tatsächlich werden damit Zusammenhänge verschleiert. Superreiche sind das Produkt eines Systems, das die gesellschaftliche Mitte aktiv am Laufen hält. Ein System, das Geld von unten nach oben umverteilt. Die Kritik tut so, als seien die Reichen nur Menschen, die sich individuell falsch verhalten. Sie projiziert die negativen Effekte dieses Systems auf eine kleine Gruppe und dämonisiert sie. Da werden dann die Wölfe der Wall Street an den Pranger gestellt, obwohl wir aus Innenansichten der Branche wissen, dass das keine Raubtiere sind, sondern Legehennen.
Warum leugnet die Mitte den Zusammenhang mit den ökonomischen Strukturen?
Weil sie selber von diesen Strukturen profitiert. Sie lebt auf Kosten derer, die ökonomisch schwächer sind, vor allem auf Kosten vieler Menschen im globalen Süden. Darum ist diese Art der Kritik an den Reichen auch so heuchlerisch. Es geht nicht darum, ethische Werte zu verteidigen, sondern die eigenen Pfründe, und darum, sich selber durch Moral aufzuspielen. Die Welt ist alles, was der Fall ist. Indem ich jedoch einen moralischen Anspruch formuliere, ziehe ich eine klare Differenz: Die Welt soll anders sein, und in dieser Differenz, das ist ein Gedanke von Luhmann, entsteht meine Identität als guter Mensch.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch einen „armen Pöbel“. Das sind aus Ihrer Sicht jene, die nach unten aus dem „Band der Not“ herausfallen. Weshalb gehen Sie mit dieser Gruppe nicht so hart ins Gericht wie mit der Mitte und den Reichen?
Diese Menschen haben weit weniger gesellschaftliche Macht. Ihre Pöbelhaftigkeit entsteht dadurch, dass ihnen die Möglichkeit fehlt, durch Arbeit ihre eigenen Konsumbedürfnisse zu befriedigen, oder sie befürchten, dass es so kommen könnte. Es geht also auch um Abstiegsangst. Hinzu kommt, dass die neue Mittelklasse eine Kultur des Konsums und einen Lebensstil etabliert hat, die das Besondere, das Singuläre feiern und im Gegenzug das Normale abwerten. Die Feindseligkeit gegenüber der Gesellschaft entsteht beim armen Pöbel also aus einer doppelten Erniedrigung: Er lebt in ökonomisch prekärer Lage und wird außerdem in seiner Lebensweise systematisch abgewertet.
„Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen“, dichtete Wiglaf Droste einmal. Wie lassen sich denn die Reichen kritisieren, ohne dabei die Rolle der kosmopolitischen Mitte zu vergessen?
Wer an den Gerechtigkeitssinn des Bürgers appelliert, steht auf verlorenem Posten. Hilfreicher ist es, ihn an sein Interesse zu erinnern. Angesichts der politischen und ökologischen Verwerfungen, die uns bevorstehen, täten wir gut daran, unser eigenes Verhalten zu verändern. Nicht, weil wir auf einmal einsehen müssten, dass wir moralisch falsch gehandelt hätten. Sondern weil es in unserem eigenen Interesse liegt, eine gerechtere Weltgesellschaft zu ermöglichen. Ein erster Schritt dahin wäre, dass wir, wie Friedrich Nietzsche es sich für den guten Menschen wünscht, „die Augen gegen uns selbst aufmachten“ und aufhörten, so „treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen“ zu sein. Dann wäre schon viel gewonnen.
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