Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Zeit, ihr Werk neu zu entdecken

Arbeiterklasse Sie inspirierte Didier Eribon und unterstützte die Gelbwesten. Niemand erzählt das Leben als Arbeiterkind so plastisch wie Annie Ernaux. Jetzt wird ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 35/2020
Sie verbindet ihr eigenes Leben mit Zeitgeschichte – ein kunstvoller Beitrag zum kollektiven Gedächtnis ihrer Generation
Sie verbindet ihr eigenes Leben mit Zeitgeschichte – ein kunstvoller Beitrag zum kollektiven Gedächtnis ihrer Generation

Foto: Ed Alckock/M.Y.O.P./LAIF

Manchmal enthält ein literarischer Text mehr klassenpolitische Wahrhaftigkeit als eine wissenschaftliche Abhandlung. Seit Jahrzehnten stellt das niemand so eindrucksvoll unter Beweis wie die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Zu ihrem 80. Geburtstag erschien eines ihrer bedeutendsten Werke mehr als 20 Jahre nach dem Original erstmals auf Deutsch: Die Scham. Ein schlichter Titel, hinter dem sich eine erschütternde Erkenntnis verbirgt, die Ernaux am Ende ihres autobiografischen Textes so formuliert: „Die Scham wurde für mich zu einer Seinsweise. Fast bemerkte ich sie gar nicht mehr, sie war Teil meines Körpers geworden.“

An alten Fotografien veranschaulicht sie schon auf den ersten Seiten, was sie damit meint. Alle Familienmitglieder sehen darauf